Oktober

Dienstag 1ten
Als wir gestern auf ganz abgelegenem Weg spazierten, rief ein Junge: »Herr Richard Wagner, geben Sie mir einen Kreuzer«, viel Spaß. R. schreibt heute seinen Brief an die Bologneser,[1] »wird nicht verstanden werden, das tut aber nichts, man schreibt nie für die, an die man schreibt«. - Verunglücktes Mittag, unsre Köchin kann eben nicht kochen. R. aber gütig und geduldig dabei! Ich arbeite ihm zulieb an meinem Toilettentisch, den er sehr ausgeputzt wünscht. Gegen Abend Freund Feustel, der allerlei erzählt, unter andrem von der Krankheit des Königs: er ist auf sein höchstes Jagdschloß in den kalten Tagen gefahren, hat im Schnee ein und [eine] halbe Stunde gehen müssen, ist drei Tage oben geblieben, ganz allein, und ist dann mit heftigem Katarrh heimgekehrt. Auch von dem Frl. Spitzeder, der ultramontanen Volksbeglückerin, mit Equipage, Diamanten, Cigarre, Volksküchen und Volksbank, die die Leute ohrfeigt und wie eine Fürstin dabei vor dem Tribunal angibt, sie habe nichts, »alles anvertrautes Gut«. Nur in München möglich. Der Redakteur der N. Nachrichten, der auf die Gefährlichkeit dieser Person aufmerksam machte, wurde durchgeprügelt, der Erzbischof, der zur Vorsicht warnte, wurde von ultramontanen Blättern verhöhnt. Feustel ist das Finanzministerium quasi angeboten, er möchte es um keinen Preis, er würde, sagt er, gar keinen Rückhalt haben, weder an dem König noch an der Kammer, dazu eine Schandpresse. Wir sprachen von Protestanten und Katholiken, R. zitierte, was ich ihm neulich hierüber gesagt, und Feustel sagt, daß ein Freund von ihm die Sache also resümiert: »Wir Protestanten kommen eben drüben an, wie wir hüben gewesen sind.« - Der Besuch unsres Freundes erfreut uns sehr. - Abends noch in der Fortsetzung des Romans »Um Szepter und Kronen« gelesen.
Mittwoch 2ten
R. eine sehr üble Nacht gehabt, hat Congestionen und wie förmliche Halluzinationen (er besinnt sich auf den Namen unsrer Gouvernante nicht, den Fidi nennt), die weiche Luft, das neue Haus, die riechenden Öfen, vielleicht zu starker Kaffee nach der schlimmen Nacht, haben das hervorgebracht. Große Trauer für mich! - Gestern noch fühlten wir uns zu glücklich, daß wir uns gefunden und vereinigt - und jetzt ist bei mir die namenlose Sorge wieder da!    Als ich gestern R. die Scene zwischen N. III. und Kaiserin Charlotte[2] vorlas, sagte er: Da sollte man glauben, daß, wenn ein tüchtiger Kerl diesen Gegenstand auf die Bühne brächte, man den gewaltigsten Eindruck erleben müßte, und doch ist dem nicht so, es fehlt diesen gräßlichen Katastrophen doch die wahre Tragik, Szepter und Kronen, um die es sich dabei handelt, sind keine ewigen Dinge, und wenn der Mensch dafür noch so sehr in's Unglück kommt, so läßt es uns im Grunde kalt. - Unbehaglicher Tisch, weil wir nicht wissen, wie wir es mit der Heizung des neuen Hauses machen sollen. Nach Tisch kommt der Arzt, R. zu untersuchen, und verordnet eine neue Diät, keinen Kaffee, keine Wurst etc., abends Braten, lange Spaziergänge. Wir beginnen dann auch, und nachdem wir bei dem Notar den Akt der Protestantierung der Kinder vorgenommen haben, spazieren wir weit über die Wiese den Main entlang. Laue Luft, zu laue selbst, sie bekommt R. nicht gut. - Abends lese ich ihm Anekdoten aus Friedrich's Leben vor, die uns sehr erheitern.
Donnerstag 3ten
R. hatte eine gute Nacht, doch ist er unwohl. Der Dr. sagte, es sei kein Organ affiziert, Gott sei Dank, doch ist sein Zustand ein trauriger. - Ich gehe mit Lusch zur Vorsteherin der Töchterschule und mache dann Besorgungen. Nachmittag mache ich mich bei schwülster Hitze zu einem Spaziergang mit R. auf, befinde mich dabei aber sehr unwohl, und abends lege ich mich mit Fieber zu Bett. Nach einer üblen Nacht wird der Dr. gerufen, und ich habe wohl eine Art Halsentzündung, die mich vier Tage zu Bett hält, gestern, Dienstag 8ten, bin ich aufgestanden, eigentlich aber finde ich mich nicht genesen, den Schlaf habe ich völlig verloren, und ich bin sehr angegriffen. Angekommen sind in dieser Zeit Briefe von M. Schl, Frau v. Meyendorff, Gräfin Bassenheim. Dem Vater haben wir abtelegraphiert, bis auf meine Genesung. - R. war viel wohler diese Zeit, er schläft besser und ist leider durch meinen Zustand nun aufgeregt. Er schreibt viel, an den König, dann in der Angelegenheit seines Verlegers Schott, der sich wieder, wie es scheint, hinterhältig benimmt, dann die Abschrift an die Bologneser, auch an Mme Lucca bezüglich Mailand.
Sonntag 13ten
vom Bett aus Einen Rückfall gehabt, die Mandeln sind entzündet, doch bin ich ohne Fieber. Gestern Lulu's Geburtstag, Bescherung vom Bett aus, R. hatte seine Konferenz mit dem Maschinisten Brandt und dem Dekorationsmaler Hoffmann aus Wien; letzterer ein wenig weitschweifig und »gebildet«, doch wie es scheint verständig. - Schott macht R. viel Not, und die Agenten scheinen sich nicht zu bewähren; Schott will seine Schuld für die drei ersten Teile des »Ringes« nicht bezahlen, bevor er die Götterdämmerung bekommt, die R. ihm nicht geben will. Ich schreibe einige Briefe. Lulu beim Dekan eingeladen, R. geht spazieren und wird auf der Wiese beim Main durch die Bayreuther Jugend akklamiert, R. Wagner hoch! - Der Konzipient Hoffmann, den R. nach Wiesbaden schickt, um das Schott'sche Geschäft, das die Agenten nicht vorwärts bringen, zu betreiben, erzählt, daß ganz Bayreuth wieder heute sich um den »Schlund« versammelt hatte und beständig von nichts anderem spräche als von dem Theaterbau. Abends nehmen wir einige Stücke von Gozzi[3] vor, den sich R. mit großer Mühe, bis jetzt nur deutsch, angeschafft hat; mit größtem Interesse lesen wir den Raben und die prächtigen Vorreden, »er hat den ganzen Instinkt des Volkes gegen das Literaturtreiben gehabt«, wirklich ausgezeichnet ist es, daß Gozzi bemerkt, es sei unmöglich, nicht nur in Versen, sondern auch in Prosa die Sprache der Masken aufzusetzen, und entspricht durchaus R.'s Idee vom Theater. Ich freue mich heute, wieder aufgestanden zu sein, um an dem Kindertisch teilzunehmen, R., sich dessen auch freuend, sagt mir: »Du bist der Haken, an welchem ich über dem Abgrund hänge.«
Montag 14ten
Immer nicht ganz wohl, doch auf; R. allerlei Briefe, unter anderem aus New York zwei Zeilen voller Schimpf, ich sage scherzend, dies sei der erste Erfolg des Anton Rubinstein'schen Aufenthaltes in N.Y. - Josef R. schreibt auch, er ist bei Hans nicht angekommen. - Dr. Kafka schreibt aus Wien, daß er auf guten Erfolg von diesem Winter rechnet. - (Neulich erzählte Herr Hoffmann Klägliches aus Wien von Semper, der sich einen ganz elenden Architekten Hasenauer[4] zugesellt hat und nur dessen Pläne ein wenig korrigiert, so daß die Burg im schlechtesten Zopfstil erbaut wird. Ich sage zu R., Semper ging an seinem schlechten Benehmen gegen uns zu Grunde, wie Moritz v. Nassau an seinem gegen Barnevelt!) Abends lesen wir in Gozzi weiter, mit großem Interesse. - Lulu in die Schule, ich arbeite jetzt mit Boni und Loldi, die schwer lernt.
Dienstag 15ten
An Pr. Nietzsche geschrieben. R. besorgt Geschäfte, um ein Uhr Mittagstisch, plötzlich meldet Käthchen, »der Herr Doktor geht soeben die Treppe hinauf«, und wirklich, der Vater ist da, von Schillingsfürst kommend, wo er bei Kardinal Hohenlohe[5] einige Tage zugebracht hat. Er hat eine schändliche Reise überstanden, nachts mit fünfmal Wagenwechsel etc., ächter Bayreuther Ankunft. Er kommt zu Fuß mit Diener Mischka und Packträger, doch ist er heiter und gesund, viel Geplauder. Er meldet u. a., daß Großherzog und Grherzogin von Weimar sehr gegen Bayreuth seien; dagegen schicken die New Yorker die Statuten ihres jetzt organisierten Vereines.
Mittwoch 16ten
Der Vater in die Kirche gegangen, gegen acht Uhr gemeinschaftliches Frühstück, viel und gemütliches Geplauder. Nachmittag Fahrt nach dem Bauplatz, Besichtigung des Opernhauses und unsres Hauses. Abends der Bürgermeister und Feustel; der Vater spielt aus seinem »Christus« vor, der allerdings unter seinen Fingern anders klingt.
Donnerstag 17ten
Langes Gespräch mit dem Vater; Fürstin Wittgenstein quält ihn in Bezug auf uns, er solle Wagner's Einfluß fliehen, künstlerisch wie moralisch, mich nicht wiedersehen, dies erheische seine Würde, wir hätten einen moralischen Mord an Hans verübt u.s.w. Ich bin sehr betrübt, daß der Vater also gequält wird - er ist so müde, und immer wird an ihm gezerrt! Namentlich die unselige Frau in Rom hat nie anderes gewußt als ihn aufzuhetzen — mich und uns will er aber nicht aufgeben. Dieses Gespräch hält mich lange beim Vater zurück, und leider kränke ich R. dadurch, daß ich ihn lange allein lasse, es wird mir schwer, mich zu entschuldigen, und den Tag über herrscht eine kleine Verstimmung. Herr Feustel holt uns zu einer Spazierfahrt ab, ich habe Fr. v. Schleinitz versprochen, für sie ein Gut zu besichtigen, wir fahren durch üble Chausseewege, steigen aus, und kaum sind wir ausgestiegen, so rückt der Wagen in [den] Graben und fällt um. Wir sind eine Stunde von der Stadt entfernt, der Vater unfähig zu gehen, R. macht sich auf, uns einen Wagen zu bestellen, wir kehren in ein Bauernhaus ein, endlich aber ist der Feustel'sche Wagen so weit hergestellt, daß wir mit Lachen die Heimfahrt antreten. Abends besucht Vater mit R. den Donnerstagsclub.[6] (Heute ist auch der Konzipient Hoffmann zurückgekehrt und hat den Wechsel und den Vertrag mitgebracht, also alles geordnet).
Freitag 18ten
Schöner Tag, ich gehe mit R.Einkäufe besorgen (um ein Uhr für den Konzipienten). Der Vater bereitet ein Programm für den Abend, wo wir einige 20 Bayreuther Männer bei uns haben! Herr und Frau Kastner (der Mann bewährt sich als tüchtiger und bescheidener Kopist) sollen mitwirken. Nachmittags treffe ich meine kleinen Vorbereitungen, abends spielt wirklich der Vater den Leuten vor und entzückt alles; Toast v. R.: »Ein edler Geist, ein guter Christ, es lebe Franz Liszt.« Frau Kastner's Gesang wenig erfreulich. Baron Lerchenfeld, der Regierungspräsident, unter den Gästen.
Sonnabend 19ten
Eine Äußerung des Großherzogs von Weimar an den Vater (je ne donnerai pas  le sou pour Bayreuth[7]), nachdem er R. diesen Winter eine völlige Komödie des Enthusiasmus vorgemacht, und eine andere Äußerung der Fürstin M. Hohenlohe, welche dem Vater sagt, sie habe zur Zeit 18 000 Gulden für W. zusammengebracht gehabt (wovon kein Wort wahr!), verstimmen R. auf's höchste. Er kann sich über die Lügenhaftigkeit der Leute nicht beruhigen. - Mit dem Vater einige Besuche gemacht, nachmittags Fantaisie besucht, der Vater wollte unsere Sommerwohnung sehen, abends liest R. uns den Parzival vor zu größter Erschütterung - die größte Konzeption R.'s, ganz unbedingt, »und da balgst du dich noch mit Sängern und Schauspielern herum«, sagt ihm der Vater (die Broschüre »Über Sänger und Schauspieler« ist eben erschienen). R. sagt, wenn man ihm die 300 000 Thaler geben wollte unter der Bedingung, die Nibelungen nie aufzuführen, er wäre hehr und froh und machte sich an die Arbeit.
Sonntag 20ten
Der Vater schreibt, es kommen Besuche (Bon Lerchenfeld, Herr Kolb, Herr Feustel). Kindertisch; die Kinder gefallen dem Vater, sie benehmen sich auch ganz artig. Nach Tisch Spaziergang mit den Kindern im Hofgarten. Abends Musik - der Vater spielt Fugen von Bach, das »As dur« aus Tristan und mehreres von sich. Große expansive Stimmung, daß er zu uns gehöre, daß wir ihn nicht von uns trennen sollten. Pläne einer gänzlichen Niederlassung hier. Ach! ich glaube kaum mehr an Vernünftiges. Der Vater in Bezug auf alle Fragen ungemein frei, bewundert Bismarck, erkennt die Macht des protestantischen Chorales an, glaubt die Klerikale Partei verloren - ist aber müde, müde!
Montag 21ten
Wehmütiger Morgen, Abschied. Der Vater geht nach Regensburg, um dort still und unbelästigt seinen Geburtstag zuzubringen. Niemand, namentlich Fürstin W. nicht, weiß, wo er den morgenden Tag zubringen wird. - Um elf Uhr fährt er ab, Bayreuth hat ihm gefallen. Uns hinterläßt er traurige Gedanken. Alles, was er uns aus der Welt mitteilt, der er doch angehört, ist schauderhaft. - Bei Tisch meint R., meine Seele sei geteilt, er sei in eine Lage gekommen, die ihm neu wäre, früher hätte ich nur ihn beachtet, nur an ihm und seinen Worten gehangen, das habe ihn getragen, ihn beglückt, jetzt, meine er, sei es anders; er irrt sich tief, ich kann es ihm nur nicht beweisen und muß schweigen. Er hat eine Konferenz mit dem Verwaltungsrat, es handelt sich um Bestellungen, die Schwierigkeit, daß die Gelder sehr spärlich einlaufen. Wir besprechen die Disposition der Fürsten gegen das Unternehmen; alles feindselig. Ob wir vielleicht auf unsrer bevorstehenden Reise etwas für die Propaganda werden tun können?? - Emile Ollivier schickt ein Buch von sich,[8] Dialoge über M.Angelo und Raphael - unglaubliche Leute, diese Franzosen. Abends lese ich die Broschüre »Über Sänger und Schauspieler«. (Spaziergang mit R.). Ich schreibe an Fr. v. Meyendorff.
Dienstag 22ten
61ter Geburtstag des Vaters, er bringt ihn einsam in Regensburg heute zu, dies die Konzession, die er seinen Beziehungen zur Fürstin W. machen zu müssen glaubte - während alle, ihn hier glaubend, hierher telegraphieren. Ich bin darob traurig, R. sagt: »Ich bin nur Liebe zu dir, du bist noch anderes«, worüber ich nur scherzen kann. Abends kehren wir zu unsrem guten Gozzi [zurück] und lesen mit großem Interesse seine »Turandot«. Wir besprechen unsre Reisepläne, Mme Lucca schreibt entzückt, daß wir nach Mailand kommen, also muß auch dieser Kelch ausgetrunken werden. Mit tief ernsten Gedanken zu Bett.
Mittwoch 23ten
Von Hans geträumt, viel Leid im Herzen. Briefchen des Vaters aus Regensburg, wehmütig liebevoll. R. schreibt an Pr. Nietzsche, meldet unsren Besuch an in Basel und fügt u. a. einen kleinen gedruckten Zettel [hinzu] aus einer Zeitung, worin abgeschmackte Opernverse zitiert und kritisiert werden mit der Bemerkung »das geht noch über den R. Wagner«! Auch eine Broschüre wird uns zugeschickt, worin nachgewiesen werden soll, daß die Meistersinger einen Rückschritt in W.'s Entwickelung sind. - E. Ollivier schickt ein Buch über M.Angelo und Raphael!! - Einen neuen Band des gewissen Romanes »Um Szepter und Kronen« fliegen wir auch durch am Abend.
Donnerstag 24ten
Besuch bei Feustels, deren silberne Hochzeit heute gefeiert wird, R. hat ihnen aus Rienzi etwas arrangiert und sein Portrait (von dem hier populären Maler Bernhardt gemalt[9]) geschenkt, die Einladung zum Familienfest aber nicht angenommen. - Ich erhalte vom Vater ein franz. Buch »Barbares et Bardits«, strotzend von dem fr. Cretinismus. Mit R. und Fidi zum Schneider, »mißt dem Junker Hosen an«, Fidi wählt schön seine Stoffe, viel Freude an ihm und den Kindern überhaupt, die gestern abend eine schöne Quadriga ausführten, Fidi als Wagenlenker. Besuch des Dekans, Besprechung meines Übertrittes, nächsten Donnerstag soll ich zum Abendmahl; ernste innige Stimmung, Gefühle der Reue, innere Buße - alles Üble, das mir widerfahren und noch widerfahren kann, nicht mehr als gerechte, sondern als gelinde Strafe von ganzem Herzen entgegengenommen. Für Hans wohl aus innerster Seele gebetet; innige Bitte, R. in Wahrheit hilfreich beistehn zu können. - Abends lesen wir »Paläophron und Neoterpe« von Goethe, weil wir in der Weimarer Zeitung gelesen, daß es zu L. Cranach's 400-jährigem Geburtstag aufgeführt wird; die launige Dichtung gefällt uns sehr, und R. sagt, ich sei Neoterpe und er Paläophron.
Freitag 25ten
Mit den Kindern wieder gearbeitet (Loldi lesen lehren!). Lusch in der Schule; gestern letzte Sendung von Luzern angekommen, vieles dort noch nachzuzahlen durch unordentliche Wirtschaft von den guten Stockers. - Dem Vater die Depesche von Dr. Standhartner zugeschickt, welcher die 18 000 der Fürstin Hohenlohe »als lächerliche Übertreibung, eine Null zu viel« bezeichnet, zu meiner großen Beruhigung. Ich schreibe an E. Ollivier. Es kommen mehrere interessante Dinge an, zuerst ein Brief des Herrn Coerper, reumütig über begangene Fehler des Akademischen Vereins; dann ein hübscher Brief von einem Kasseler Schauspieler, der einen Verein gegründet hat zur Hebung der deutschen Bühne und Richard um Anteilnahme in sehr gebildeten Ausdrücken ersucht; drittens eine englische Übersetzung des »Beethoven«, von einem Amerikaner zugesendet, welcher dazu bemerkt, daß er glaube, daß dieses Werk in Amerika besser studiert werden würde als in Deutschland. Schließlich eine sehr schöne Erwiderung des Wilamowitz'schen Pamphlets in der Form eines Briefes an R. - Ich lese dies R. abends zu unsrer größten Freude vor, und R. sagt: »Ja, wir sind da in ganz gute Gesellschaft gekommen.« (Aufstellung der Büsten und Marmorstatuetten).
Sonnabend 26ten
Bei Gelegenheit des Anzugs von Fidi erzählt R. eine Kindergeschichte; wie er einst, in der Schule gestraft, spät heimkam, wagte er nicht, sich der Mutter zu zeigen, versteckte sich, die tat, als ob sie ihn nicht sehe, rief immer: »Wo bleibt denn R. heute?« Der Schneider kam, zeigte zwei hübsche Anzüge von Bombazin für R., die Mutter neckte: »Die schenken Sie andren Kindern, der Junge ist nicht da«, da trat R. (6 Jahre alt) heulend hervor, die Schönheiten für sich reklamierend. - Tag des Durcheinanders, die Kinder häßlich gegen Eva, allerlei Übervorteilungen der Leute, R. vor Gericht wegen einem Düsseldorfer Theaterdirektor geladen, Babett's Pflegevater, Kontrakt auf fünf Jahre, ich lasse das Kind ausbilden, schneidern, frisieren u.s.w. Nach Tisch mit Fidi und Eva spaziert, wie wir das Rathaus betreten, sagt Fidi: »Das ist ein altes Haus.« - Abends die Kopisterei, vier Mann an der Zahl,[10] und Mme Kastner dazu. Wie sie fort sind, spricht R. mit Wehmut über sein Los, immer wieder von neuem anzufangen, nichts wie Not und Qual von seinen Werken zu haben (er hatte eine Scene aus dem Rheingold mit den Leuten vorgenommen), die ganzen Nibelungen seien ihm so fremd und so überlebt, nun immer wieder Anfängern das Abc des Vortrages zu lehren - einzig mache ihm der abstrakte Verkehr mit der Welt durch seine Schriften Vergnügen. (Er schreibt einen Aufsatz über die Benennung Musikdrama, für Fritzsch). Hübscher Brief von Pr. Rohde, der es ganz richtig als Pflicht bezeichnet, sich keine Ungebührlichkeiten gefallen zu lassen.
Sonntag 27ten
In die Kirche mit den Kindern, die Seichtigkeit und Trockenheit der Predigt irgend eines Vikars verhindert doch die andächtige Stimmung nicht, die durch den bloßen Anblick des Erlösers am Kreuz in mir wachgerufen wird, oh wie sündig erkenne ich mich, und wie gerecht jede Prüfung!... Eine Seltsamkeit erzählte gestern Frau Kastner, sie sei in einen jüdischen Laden getreten und habe wegen einem Kleid mit der Frau akkordiert, da sei der Mann hinzugetreten, habe gesagt: »Ihr Mann ist bei Herrn Wagner?« »Ja.« - Darauf habe er erklärt, das Kleid nicht verkaufen zu können! - Irgend ein Blatt von Fritzsch zitiert; meint: >Nun ernte man die Frucht, da man den Unfug der Wagnerei so lang habe überwuchern lassen -.< Ich möchte wissen, was die guten Leute noch hätten tun können - nachmittags schreibe ich Briefe (Claire, Vreneli, Kahnt etc.), beantworte einen hübschen Brief von C. v. Gersdorff, welcher u. a. erzählt, daß bei einer Leichenfeier der Begriff Judentum in der Musik ihm recht klar geworden sei; nach der Predigt, welche dem Choral »Jesus meine Zuversicht« folgte, erklang plötzlich das Lied »Es ist bestimmt in Gottes Rat« von Mendelssohn, er habe zuerst an eine akustische Täuschung geglaubt, bis er wirklich diese Seichtigkeit als Wirklichkeit hinnehmen mußte. Abends liest mir R. einiges aus den Statuten des Rates der Zehne;[11] er hat kürzlich die Geschichte von Venedig von Daru acquiriert.
Montag 28ten
Besuch des guten Dekanes, es ist alles in Ordnung für Donnerstag, fasse ich meine innere Aufgabe auf, so besteht sie darin, meine Schuld und mein Vergehen stets vor Augen zu haben und dazu mir die ganze Heiterkeit der Liebe zu wahren, nur R. gegenüber meine freudenvolle Pflicht zu erfüllen! - Mit dem Dekan über die Schulaufgaben gesprochen, so hat Daniella einen Brief über »Hermann und Dorothea« aufzusetzen! »Damit«, sagte R., »machen sich's die Lehrer leicht, anstatt mit den Kindern zu sprechen und ihnen unterhaltungsweise alles beizubringen, propfen sie sie mit Aufgaben, die die Kinder gar nicht verstehen.« Nachmittags Besorgungen - abends liest R. mir »König Hirsch« von Gozzi zu unserer größten Ergötzung vor. (Briefe von M. Maier und Bonin Meyendorff, die mir ihr Leid klagt, vom Vater getrennt zu sein). Herr Lenbach telegraphiert*[12] (*Das Telegramm dieser Seite beigelegt, siehe Anm.), daß er nach Berlin reist, den Kaiser zu malen, und dort die zwei Bilder vom Vater und von R. ausstellen will. R. erzählt, wie der Dekan beim Anblick des Bildes von Friedrich und Voltaire von Menzel sich für Voltaire erklärt habe, während ich unbedingt für Friedrich eintrat, da mir die Kraft der indignierten Gerechtigkeit als eine höchste Tugend erkenne** (**Richtig wohl: »erschiene«), die wenigen auszuüben gegeben ist. R. sagt: »Ja die Menschen können sich keinen König mehr vorstellen, sie verstehen königliche Handlungen nicht mehr; Friedrich hat königlich gehandelt, über die Geldschmutzereien hat er kein Wort gesprochen, nur wie sich Voltaire herausnahm, über seine Angestellten zu spotten, duldete dies Friedrich nicht mehr, weil der Zauber vorbei war.« Mit Fidi und den andren Kindern spazieren gegangen und Besorgungen gemacht. (Für Bäbett gesorgt.)
Dienstag 29ten
Mit den Kindern gearbeitet, R. schreibt an Herrn Coerper, Besuch von Herrn und Frau Kraußold; R. hat einige Mühe, dem guten Konsistorialrat seine Ansichten von Religion und Predigten verständlich zu machen. Brief von Hans an Daniella, er schickt ihr Programme von seinen letzten Konzertfahrten. Mit den Kindern ausgegangen und häusliche Besorgungen gemacht. Brief von Marie Dönhoff und Marie Muchanoff, letztere ist in München, wo wieder der Tristan unter Hans' Leitung aufgeführt wird, unsere Kopie ist auch hingereist. R. kommt in einiger Verstimmung von einem Besuch bei Herrn Feustel heim, die Wiener zahlen nicht, der Architekt Brückwald antwortet nicht, wir können uns nicht aufmachen, wenn nicht vorerst die Konferenz mit Brückwald und Brandt stattgefunden hat. - Wir lesen abends in Gozzi. - Am Nachmittag sagte mir R., er habe über die blutige Lanze in Parzival nachgedacht und sei dabei auf die Mysterien geführt worden, »sehr richtig hatten die Griechen dem Volk all seinen Aberglauben gelassen und bloß daran schöne Feste geknüpft, und mit weisem Sinn die Mysterien für die Eingeweihten gelassen; ungefähr hat die katholische Kirche auch so gehandelt, und es ist ihr nicht vorzuwerfen, daß sie dem südlichen italienischen Volk das Blut des h. Januarius, die Marienfeste u.s.w. läßt, schlimm ist nur gewesen, daß das römische Imperium sich dahinter stellte und Politik damit trieb. Produktiv ist der kritische Geist im Christentum gewesen, der römische hat nur die Erscheinung zu einer Machtfrage benutzt«. - Der Rektor Großmann besucht mich und lobt mir Daniella.
Mittwoch 30ten
Langes Gespräch, die Kinder betreffend, mit R., wobei seine ganze unermeßliche Güte und Liebe gegen mich sich zeigt. Wie die drei Kleinen gestern um uns (wie immer abends!) tobten, sangen, schrien, sagte R.: »Wir wissen gar nicht, wie glücklich wir sind!« - Besuch von Frau von Lerchenfeld. Nachmittags nehmen wir die Scene zwischen Hamlet und seiner Mutter vor, ich hatte vermeint, daß Hamlet so heftig wird gegen sie, als er durch ihre Falschheit, ihn für wahnwitzig auszugeben, empört wird, doch kommt ihn der Ekel erst zum Schluß an, gleichsam als ob er von ihr einen Herzensschrei erwartet hätte, und da nur eine gedemütigte Laune sich zeigt, er außer sich gerät; auch fällt ihm ein, daß er nach England soll, daß alles abgekartet ist, seine Mutter alles weiß; die letzte Apostrophe ist furchtbar. Ohne Vermittelung, ohne Erklärung, es ist da, wie das Leben. - Nach Tisch gedachte R. meines Verkehrs mit dem Vater und wird so heftig, daß ich verstummen muß. Gewiß muß ich etwas verabsäumt haben in der Zeit, daß R. so eifersüchtig bleiben kann, doch ist es nicht recht von ihm, wie mich dünkt, mich zum wiederholten Male so anzufahren. - Doch das Übel, das uns angetan wird, greift nicht bis in die Tiefe des Herzens, dahin dringt nur das Übel, das wir antun - und wenn auch R. jetzt leidet, so kann ich doch kein ihm zugefügtes Unrecht erkennen, außer den einen Morgen vielleicht, wo die traurigen Eröffnungen über Hans mich so erschütterten, daß ich nicht zu ihm in dieser Stimmung mich wagte. Nun müßte ich es wünschen, des Friedens wegen, daß der Vater nicht mehr käme. - Ich tue es nicht, weil ich hoffe, daß ich glücklicher und geschickter sein werde. - Hansen's Brief an Daniella gibt uns auch viel zu denken und überlegen. - Abends stellt sich mir das furchtbare Problem, ob es besser sei, seine Seele mit einer Lüge zu besudeln, oder in dem anderen durch die Wahrheit eine nicht zu löschende Seelenqual zu entzünden. Tiefes Sinnen; wer hilft? Gebet und Andacht.
Donnerstag 31ten
Früh auf, R. hatte keine gute Nacht, doch ist er weich und andächtig gestimmt; wir machen uns um 10 Uhr auf zum Dekan, dort wird vor den Zeugen Feustel und Bürgermeister das Protokoll meines Übertrittes aufgenommen; dann in die Sakristei, wo ich mit R. das h. Abendmahl nehme; erschütternder Akt, meine ganze Seele bebt, unser Dekan spricht aus tiefster Seele, R. ist innig gerührt; wie schön ist doch die Religion - welche Macht könnte eine solche Stimmung in unser Ohr bringen? Wir sind alle in gehobener feierlicher Andacht - »Gott ist die Liebe«, wiederholt der Dekan, oh möchte ich in solcher Stimmung sterben, könnte man darin beharren bis an des Lebens Ende! Als wir uns umarmten, R. und ich, war es mir, als ob jetzt erst unser Bund geschlossen wäre, jetzt erst wir vereint wären in Christus; oh möchte ich wie ein neuer Mensch von diesem feierlichsten Akt erstanden sein, oh möchte ich das Leiden lieben, für mich suchen, die Freude spenden! Ich bin glücklich, denn ich verlange es, der christlichen Gemeinde anzugehören, mich als Christin zu fühlen und zu betätigen, dies ist mir gewährt, und dankenden und reuigen Herzens nehme ich die Gnade an. Es ist mir fast bedeutender wohl gewesen, mit R. zum h. Abendmahl zu gehen als zum Trauungsaltar - o wie gütig ist doch das Schicksal gegen mich, wie könnte ich das je verdienen! Alles ist Gnade; Gnade der Liebe, Gnade des Himmels. Abends die Herrn Brandt und Brückwald bei uns, es handelt sich um das Erbauen des Dekorationssaales - Brandt wie immer, enthusiastisch, reich an Einfällen, scharf beobachtend, ein ausgezeichneter Mann. - R. spricht ihnen die Zuversicht aus, daß dieser Winter sehr ergiebig sein werde — Gott gebe es, ich kann diese Zuversicht kaum teilen, doch mische ich meine besorgte Stimme nicht hinein. (Zwischen Mittag und Abend die Kindersommersachen bei Seite geschafft). 4 Conservatoristen aus Wien telegraphieren an R., er möchte ihnen doch das Geld zur Reise nach München, um Tristan dort zu hören, schicken, kurz und bündig!