November

Freitag 1ten
Schönes Herbstwetter; Boni in die Schule geschickt, um ihre Studien nicht durch unsere Abreise zu unterbrechen. Die Wiener geben keine Antwort, und nun sollen die Akkorde geschlossen werden - Gott gebe, daß wir nicht argen Enttäuschungen entgegen gehen! — Am Morgen weiter Kindersachen geordnet; Boni kommt vergnügt von der Schule heim, hoffentlich wird sie dort geistig geweckter. R. hat noch eine letzte Besprechung mit Brückwald. - Um drei Uhr zum Bahnhof, Marie Muchanoff hat sich telegraphisch angesagt; sie kommt an von München, sehr müde und aufgeregt, Tristan habe sie angegriffen; er sei unter Bülow's Leitung sehr schön gegangen. Von Hans erzählt [sie] allerhand Sonderbares, was mich nicht erstaunt. Er sei höchst freundlich einmal, das andre [Mal] förmlich grob, so daß man nie wisse, wie man mit ihm zu verkehren habe. Allerlei von der deutschen Kaiserin, die sie viel gesehen habe und die sie sehr liebe. Sie bleibt den Abend bei uns und erschreckt uns durch ihre Unruhe.
Sonnabend 2ten
Früh bei der Freundin, sie um 11 Uhr zur Bahn gebracht, wo sich auch R. einfindet. Wann werden wir die arme Freundin wiedersehen? Wir sind in Sorge um sie. - Ich besuche den Dekan, um ihm eine kleine Spende für seine Leute zu bringen, und verbleibe bei ihm einige Zeit im Gespräch über Deutsche Kirche. R. macht das Stadtgericht wegen dem Düsseldorfer Theaterdirektor ab und kommt sehr verstimmt über das unbegreifliche Schweigen der Wiener zurück. Wir kommen zum Abendessen auf die Notizen, die uns Marie M. neuerdings über den König gegeben und die von der erschreckendsten Art sind; im Volke spreche man schon von Wahnsinn, und dazu der Haß des Königs gegen Preußen, sein einziger Schutz!... Ich bitte R., die Sorgen über dieses Kapitel sich aus dem Kopfe zu schlagen, denn hier kann die Voraussicht der Katastrophe doch nichts ändern und bessern. - Später kommt R. auf unser heiliges Ereignis zu sprechen: »Wie war das doch schön in diesem kleinen Raum der Sakristei, wie mächtig, wie eines Löwen Stimme, aus der Höhle kommend, erklang die Stimme unsres Dekans; wie könnte man das ersetzen, was in einem erweckt wurde, wenn das unsäglich ergreifende: Dies ist mein Leib, ausgesprochen wird.« Auch die monotone Art der Liturgie ging ihm zu Herzen; »fast möchte ich sagen - wenn ich hier das Wort nicht scheute -, daß alles einen künstlerischen Eindruck machte - ja selbst die kleinen Verrichtungen des Weineingießens u.s.w.« - Nachher über die Kinder gesprochen - Sorgen!
Sonntag 3ten
In die Kirche, Kons. Kraußold predigt über den Zusammenhang der Reformation mit der heutigen Kirchenbewegung, alles vortrefflich, doch sah ich ein Bauernweib in der Mitte der Predigt fortgehen, das sagte mir alles! Die Choräle rühren mich sehr, wie gern singe ich mit der Gemeinde mit und gedenke der Prüfungen, die unter diesen Klängen von der protestantischen Gemeinde bestanden worden sind. - Viele Briefe empfangen (Vater, Krockow, Marie Schleinitz, Math. Wesendonck, Claire, Judith Mendes ((letztere sehr trübe)), Einladung von Clemens zur Hochzeit). Ich schreibe an Frau v. Meyendorff, Marie Dönhoff, Marie Schleinitz und unterbreite dieser R.'s Vorschlag, Lohengrin in Berlin neu in Scene zu setzen und eine Aufführung zum Besten Bayreuths zu dirigieren. Abends unsre Kopie, R. spielt und singt aus der Walküre vor! Nicht viel Erbauliches erzählt die Kopie von den Sängern des Tristan in München. (Die Kinder schreiben ihrem Vater.)
Montag 4ten
R. sagt am Morgen, er habe über die Geburt des Dramas aus der Musik noch einmal nachgedacht, »wie das Kind im Mutterschoß sich vom Blut der Mutter ernähre, so ersteht das Drama aus der Musik, es ist ein Geheimnis; tritt es in die Welt, dann kommen die äußeren Bedingungen des Lebens hinzu«. Gestern abend kamen wir wiederum auf das uns stets beschäftigende Thema der Reformation zu sprechen, auch auf Gustav Adolf, ich sagte ihm, er sei für mich ein Deutscher: »Versteht sich«, sagt R., »er ist ebenso ein Deutscher, als Alexander der Große ein Grieche war.« »Immer mehr«, sagte heute R., »denke ich über das Thema nach, was ist deutsch, und wird es mir zum reinen Metaphysicum; Slawen, Kelten sind in uns gemischt, und haben wir uns mit ihnen vereinigt; nur das römische Imperium, die Eunuchen-Wirtschaft, mit der haben wir nichts zu tun. Grimm hat, scheint es, das keltische Wesen viel zu geringschätzig angeschlagen, ich dachte darüber nach, die blutige Lanze kommt aus einem Barden-Mysterium, der Parzival ist am Ende auch keltisch. So ist es mir auch überaus lieb, uns mit den Griechen in Bezug auf die Behandlung der Sagen verwandt zu denken; die griechischen Mysterien haben nichts von einem Weltschöpfer gewußt, das Naturwalten haben sie angebetet, weil sie es fürchteten, und wenn Platon von einem Gott spricht, so ist es mißverstandenes ägyptisches Mysterium - und Gott als Symbol des Mysteriums, des Unerklärlichen, kann man akzeptieren.« - Zu Mittag erzählte ich ihm als Beispiel einer unmittelbaren Wirkung, daß, wie gestern er von Siegmund singt: »Waffenlos höhnt mich der Feind« - ich mich gefragt hätte: Mein Gott, wo denn erhält er sein Schwert zum Kampf mit Hunding, kommt er vielleicht an einer Schmiede vorbei! - Da muß R. lachen, und er sagt mir, daß gerade tags vorher er die Drohung Hunding's an Siegmund bei der Kopie gelesen und er sich gefragt hätte, mein Gott, hast du da nicht einen Lapsus calami begangen, woher bekommt denn Siegmund sein Schwert?! Wir müssen darüber viel lachen. - Nachmittags gehen wir spazieren; erst spazieren, wir besichtigen unser Haus, und da ich durch R. auf das Gerüst geführt werde, benehme ich mich beim Hinabsteigen sehr lächerlich, werde schwindlig und schreie! R. sagt, es sei ein Mangel an Vertrauen in ihn - ach Gott! — Abends spricht er von der Velleität, die Berlioz'schen Sachen durchzusehen, das Groteske auszumerzen, kurz ihn gleichsam für die Nachwelt zu retten, »denn jetzt ist er fertig, die Franzosen geben ihn nicht, sie spielen eher Lachner, Raff,[1] Schumann, und doch um wie viel bedeutender ist Berlioz«. Dann erzählt er mir, er habe die B dur Sonate von Beethoven, ersten Teil, durchgenommen, und er sei ganz überwältigt von der Schönheit und der Zartheit (und Reichtum)* (*( ) Nachträglich eingefügt) der Details, die so vorübergehen, daß es niemand merkt, was da alles geschaffen sei. »Mit Stolz sage ich mir, hier fühle ich mich verwandt.« »Man spricht von Zukunftsmusik, welche Zukunft wäre eines solchen Werkes denn würdig?« Er spricht davon, diese Sonate zu instrumentieren, um sie zugänglicher zu machen, »so kann nur der vollendetste Virtuose sie spielen, von mir instrumentiert aufgeführt könnte sich eine Art von Tradition bilden«. Wir lesen die Sonate gemeinschaftlich durch mit unsäglichem Entzücken, wie verborgene Blumen auf der Wiese ist da der Reichtum der Einzelheiten. - (An den Vater und Gräfin Krockow).
Dienstag 5ten
Wir treffen unsre Vorbereitungen zur Abreise (morgen), da schreibt Herr Feustel, daß die Wiener immer [noch] nicht geantwortet, folglich unsre Reise auf unbestimmte Zeit verzögert ist. Nun sind an vier der Wiener Depeschen und Briefe abgesandt, keiner antwortet, dabei erklärten sie im Sommer, das Geld sei bereit. Großer Ärger R.'s, er telegraphiert an Onkel Liszt, öde Zeit des Harrens, wo man nicht arbeiten kann. »O Sonne, du klagende Flamme«, rief Rich, gestern abend aus; da dieser Vers mir sehr gefiel, sagte er, er sei alt, Heine zitiere ihn einmal: »Er hat gewußt, womit man Deutsche fängt.« Wie wir über Musik und Kadenzform zu sprechen kommen, mache ich R. lachen, indem ich ihm sage: daß die Leute die Kadenz nur deshalb so sehr liebten, weil es dann aufhöre und sie ihr Gehirn nicht mehr anzustrengen brauchten. - Allerlei Hausbesorgungen. Abends Besuch von Feustel und Bürgermeister (letzterer in Frage der Einkindschaft), die Wiener haben noch nicht geantwortet, R. hat sich nun an meinen Onkel gewendet. Abends nach dem Abendessen (wo Fidi uns viel Spaß durch seine Antworten macht, »Kennst du das Bild?« »Nein, ich kenne nur den Conditor und den Schneider.«) nehmen wir J. Grimm's Vorwort zu Reineke Fuchs zu unsrer größten Freude [vor]; der Gegensatz von Fuchs und Wolf, »der die ganze Welt enthält«, wie R. sagt, ergötzt uns im höchsten Grade, und die Antwort auf die Frage: »Wovon ist der Wolf so weise?« »Von unnützen Gängen«, bringt bei uns ein kaum zu dämpfendes Gelächter hervor; so werden wir alle Weise. In wirklicher Erhebung durch die schöne Lektüre trennen wir uns zur Nachtruhe.
Mittwoch 6ten
R. steht mit den Tönen des »Idylls« auf und ruft mir zu: »Ich habe eine gute Frau und bin froh, daß ich sie habe!« - Depesche vom Onkel und Standhartner, Dr. Kafka war auf Geschäftsreisen, er will jetzt schreiben, R. möchte morgen abreisen, allein Herr Feustel meint, er solle bleiben, bis diese Frage gänzlich geordnet sei, was R. ärgert, da er keine Vergnügungsreise unternimmt. Ich schreibe an Hans (wegen der Einkindschaft). R. an Niemann; dieser meldete vorgestern, daß Tristan und Isolde in Berlin befohlen sei, R. verweigert seine Einwilligung, spricht von seinem Lohengrin-Projekt, alles wird an Marie Schl gesendet. - R. ist durch die Verzögerung der Reise verstimmt. Nachmittags Brief eines Herrn Zimmer, der seine Treue im Gegensatz [zu] einer Verlästerung, die soeben wieder von »einem Buben« gegen mich und R. geschleudert worden wäre, [versichert]. Gott weiß, was das ist — es sei hingenommen in Ruhe und ohne Bitterkeit! Der Tag ist traurig; Rückblick in die Vergangenheit, »bis über den Tod hinaus wird die Unklarheit walten«, sagt R., »das Schrecklichste ist diese Blindheit der Welt!« Unsre traurige Stimmung wird gehoben durch die Frithjofs-Saga,[2] die ich in der prosaischen Übersetzung von Mohnicke vornahm und, da ich mich ihrer erfreute, auch R., der stumm brütend dasaß, einige Fragmente zu unsrem beiderseitigen Entzücken vorlas. »Diesen Witz in der Gefahr haben selbst die Griechen nicht gekannt.« Beruhigt und dankbar gegen die hohen Dichter, deren Lächeln uns über die Nöte hinweghebt, begaben wir uns zur Ruhe. Gestern abend hatte R., des Tristan in Berlin gedenkend, mir gesagt: »Es geht langsam aber doch unaufhaltsam vorwärts mit meiner Sache, wie der Steinerne Gast kommt sie heran.« Heute sagte er: »Diese ungeheure Willenskraft, die ich für meine Unternehmung brauche, und dabei innerlich so fertig mit dem Leben zu sein!« (Erste Klavierstunde der Kinder von Herrn Kastner.)
Donnerstag 7ten*
(*Fälschlich »8ten« datiert) - Wir beschließen, die Reise nächsten Sonntag zu unternehmen, bis dahin werden dann hoffentlich die unbegreiflichen Wiener, ohne welche die Akkorde mit den Arbeitern nicht abgeschlossen werden können, geschrieben haben. - Wir gedenken dankbar der Hülfe, die uns Frithjof gestern gewährt; R. kommt zum Frühstück mit dem »Faust« in der Hand, und wir lesen die Scene des Baccalaureus wie auch die Entstehung des Homunculus; jedes Wort ein Ergötzen. Die Lektüre bringt uns zur Besprechung der Bühne für dieses Werk, anknüpfend an die Gedanken, die R. in seiner letzten Broschüre ausgesprochen. »Der Homunculus müßte durch einen Bauchredner bewerkstelligt werden; beim Spaziergang müßte sich der Boden umdrehen und verschiedene Landschaften gezeigt werden, Faust und Mephisto scheinbar gehen, eine Art Podium wie im Circus sein und für diese eine Scene das Stadttor vorstellen, für den Tanz kämen sie hinunter. Es schadete nichts, wenn auch Vorgänge hinter dem Zuschauer vor sich gingen, das Umdrehen des Publikums belebte den Vorgang, sie wären Teilnehmende. Wagner's Laboratorium müßte eine Spitzbogen-artige Boutique sein, im Hintergrunde Faust's Stuhl. Natürlich müßte das Publikum nicht wie jetzt um jeden Quark der Bühne sich bekümmern, der natürliche Wasserfall, der kostet Groschen 6 Pfennig u.s.w. Vieles müßte nur angedeutet sein. Wie sehr Goethe immer das Kasperl-Theater vor Augen behalten, sieht man daraus, daß u.a. Mephisto den Jungen sagt: >Ihr applaudiert nicht, der Teufel ist alt, werdet alt, ihn zu verstehend« Er entdeckt einen groben Druckfehler, Homunculus: finde ich den Punkt auf i, es soll heißen findet ihr. - Welch schöner Luxus für einen reichen Mann, dieses Faust-Theater zu konstruieren und in seltenen Aufführungen das herrliche Werk dem Volk zu schenken. Mich dünkt, die Schauspieler würden sich schon finden, denn im Gegensatz zu Frankreich, wo die Gaben wie ihre immer gut etablierten Waren in's beste Licht kommen, scheint mir in Deutschland so viel ächte Begabung zu verkümmern. In Frankreich genügen einige gute Reden, einen zum Minister zu machen, in Deutschland muß R. mit Mühe und Not überall anklopfen, um seinen Gedanken zu verwirklichen, nachdem er fünf Werke mit Erfolg gekrönt der Bühne gegeben hat. R. sagt, das Schlechte hat den Platz eingenommen, alles ist besetzt. - Aus Barmen schreibt ein Musikdirektor und bittet R., dort ein Konzert zu dirigieren für Bayreuth. - Mendelssohn der Ausländer, durchaus undeutsch. »Es ist bestimmt in Gottes Rat« bei Begräbnis-Feiern und Gesellschafts-Heiterkeiten gebraucht. R. sagt: »Ich freue mich doch, daß von den deutschen Musikern mir zwei Juden am widerwärtigsten sind: Hiller und Joachim. Was hat man z. B. letzterem getan, daß er vom überschwenglichen Enthusiasten zum tückischsten Gegner wird. Es wäre ein guter Witz, wenn ich den Brief, wo er sich mir zum Nibelungentheater anbietet, Wilhelmj gebe und ihm sagte, er möchte dies mit Joachim abmachen, damit dieser ihm nicht seinen Platz streitig macht, aber es wäre eben ein Witz, und dazu ist man nicht aufgelegt.« - Auch abends nichts von Wien! R. kommt abends von der Eisenbahn zurück, wo er eine nochmalige Depesche abschicken wollte, aber seine sieben Gulden (es war eine vierfache mit vierzig Wort Rückantwort) reuen ihn. »Ach!« sagt er, »ich möchte das Loch schließen lassen, sagen, die Deutschen sind schlecht, und mich um nichts mehr derlei kümmern; dann aber kommt der König und will die Sachen geben; deshalb heißt es Geduld und Ausdauer.« Wie zu allen Nöten noch immer eine Not, entdecken wir, daß unser Haus sehr feucht ist; große Sorge um die Kinder - man hat uns wohl etwas leichtfertig hierhin gewiesen. Abends Brief von Marie M., Herr von Perfall will eine Vorstellung für Bayreuth geben; der König bestellt für sich allein Stücke, wo Louis XIV. darin vorkommt - wie ist doch alles so ängstlich! Abends weiter in Grimm's Vorwort gelesen. Vorher zeigt mir R. ein wundervolles Gedicht von Kaiser Heinrich VI.,[3] mit welchem die Ausgabe der Minnesinger beginnt. Von Wolfram lesen wir dann einige Gedichte. — »Man muß zuweilen in diese Welt blicken, um zu wissen, wohin man gehört.« - Weiches Wetter. (Brief von der Mutter, der Pfarrer des Dorfes Puyraveau erzählte ihr, er sei mit großen Zweifeln nach dem Wunderorte Lourdes gegangen, da er aber die Wunder gesehen habe mit eigenen Augen, könnten die Zweifel nicht mehr bestehen).
Freitag 8ten*
(*Fälschlich »9ten« datiert) - Wir besprachen gestern bei Gelegenheit des Gedichtes des Kaisers Heinrich diese herrliche Race der Hohenstaufen, die mit der Großartigkeit der klassischen Erscheinungen uns entgegentreten, während dem modernen Helden (Friedrich dem Großen) die Eigenheiten des Originals anhaften; »groß, human, Staatsdenker und Dichter waren, alles ist uns aber durch die Kurie verdorben, deshalb bin ich so bitter gestimmt gegen diese Macht und so wütend«. Wir kommen auf unsre Unternehmung zu sprechen. Ich sage zu R.: »Und wenn es uns mißglückt, so dürfen wir an Königin Luise[4] denken, welche Napoleon antwortete: Es war den Enkeln Friedr. des Großen erlaubt, das Unmögliche zu wagen; es war dem Autor von Tannhäuser, Lohengrin, Meistersinger, Tristan und der Nibelungen erlaubt, das Unmögliche zu wagen.« Sehnsucht R.'s nach Ruhe, um schöne Studien zu treiben (wie Mittelhochdeutsch), Klage darüber, daß er so extravagant ausgestattet, kein angeerbtes Vermögen gehabt; Wunsch, Fidi etwas zu hinterlassen, daß er nicht für Geld zu arbeiten brauche, »dann soll er sich eine schöne gute reiche Frau nehmen«, ich protestiere, er zitiert mehrere Beispiele von glücklichen solchen Ehen. Er würde bis auf dem Sterbebett gewiß von Gedanken der Verleumdungen und der Mißachtung verfolgt werden, die ihm der Mangel an Vermögen zugeführt habe. »Der Deutsche ist nicht zugrunde zu richten«, fängt R. an, wie wir von der Teilnahmslosigkeit der deutschen Fürsten gegen ihn und sein Unternehmen [sprechen], »und das heißt so viel als: trotzdem es ihm so schlecht geht, er so verwahrlost wird von seinem Fürsten und in seiner Entwickelung gehindert, doch etwas in ihm ist, mit dem man nicht fertig wird, so bin ich.« Dann von dem Unterschiede Deutschlands mit Frankreich: »Ich würde noch viel eher glauben, daß die Provinzen Nassau, Hannover unabhängig würden, als daß solch ein Einheitsstaat bei uns möglich wäre. Berlin als unsre Hauptstadt ist unmöglich zu denken. - Freilich ist man in Paris besser bedient als in Deutschland, die einzelnen Fächer haben sich viel mehr entwickeln können, und das Ehrgefühl - die Eitelkeit - des Arbeiters ist auf's höchste gesteigert - bei uns immer vernachlässigt und geduckt.« - Briefe von Wien, es scheint, daß auch von hier aus ein Versehen begangen worden ist, indem die Wiener behaupten, keine Sendung außer dem allgemeinen Bericht erhalten zu haben. R. spricht mit dem Bürgermeister und beschließt die Reise. Wir gehen spazieren - ich in einigem Unmut über Unordnung der Kinder, der sich aber bald legt. Abends Besuch des Pr. Nägelsbach, er hat die Schrift von R. gelesen und sagt ihm, sie könnten ihm nicht dankbar genug für alle Anregung, die er ihnen hierher gebracht hat, sein. - Darauf unser herrlicher Dekan, voll Leben und Feuer; er spricht von der ungeheuren Agitation gegen unser Unternehmen; kommt es dennoch zu Stande, so sind die Folgen unermeßlich.
Sonnabend 9ten
R. hatte gestern einen guten Brief von dem Herrn Hoffmann; trotzdem manche Leute manches gegen ihn einwenden, bleibt R. für ihn eingenommen, er hält ihn für einen ernsten Menschen. - Wie der Dekan gestern von der Opposition gegen R. spricht, sagte dieser: »Ob es mir gelingen wird - weiß Gott -, mein Beruf ist es, wie Egmont von Goethe ein Beispiel zu geben.« »Daß die Fürsten so feindselig gegen mich sind, das liegt daran, daß sie sich schlecht gegen mich früher benommen haben, und nun ich doch nicht tot gemacht worden bin, hassen sie mich.« Da zitiert der Dekan einen lateinischen Spruch: »Es ist merkwürdig, daß wir denjenigen hassen, den wir beleidigt haben.« - Heute früh sagte ich zu R., wie ich noch unter verkommenen italienischen Sängern einen Vortrag - Phrasierung - gehört habe, wie ich sie bei Deutschen nie angetroffen: »Du kannst mir glauben«, sagt R., »das ist der fremdländische Einfluß; der Vortrag geht vom Wort aus, nun singen unsre Sänger die schauderhaften Übersetzungen, können also sich keinen Vortrag bilden, und man darf sagen, weil sie >Don Juan< deutsch singen, können sie die >Zauberflöte< nicht mehr singen.« Ich erzähle ihm meinen Schreck, als ich die berühmte Mme Schumann[5] spielen hörte - diese Vortragslosigkeit! »Ja«, sagt R, »denn das Theater übt einen Einfluß auf alles.« - R. arbeitet (und zwar ohne ein Konzept zu machen) einen Brief für den Almanach des Kasseler Schauspielers aus; er ist davon ermüdet. Brief von Marie Schl die Schwierigkeiten der Unternehmung des Lohengrin in Berlin darstellend! An R. Brief von Pr. Nietzsche, welcher meldet, daß seine sämtlichen Studenten für dieses Semester ausgeblieben sind! Also ist der Bann seines Buches wegen auf ihn gelegt, wir sind tief davon affiziert,
denn es ist dies sehr stark und macht die Stellung unsres Freundes unmöglich! Wir ergehen uns in Plänen, Gedanken, Studenten nach Basel schicken; von Bismarck eine Berufung nach Berlin erzwingen, allerlei Unmögliches. R. hofft auf seine Reise auch in dieser Beziehung. »Hier wäre der Fall, wo der Adel schön eintreten könnte.« - Man ist förmlich verfemt, gestern erzählte der Dekan, es gehöre zu einer der Satzungen der Ultramontanen, gegen Wagner und Bayreuth aufzutreten. Ich sagte zu R., ich glaubte, wir seien in eine besonders schlimme Phasis des Lebens nach außen getreten, er lacht und sagt: »Ach! es ist immer schlimm.« - Abends der Bürgermeister und seine Frau, gute prächtige Leute.
Sonntag 10ten
Schiller-Luther-Tag! Reisevorbereitungen; »Faust« mitgenommen; gestern abend noch lasen wir die Euphorion- und die Garten-Scene! Wir müssen immer wieder uns mit diesem einzigen Werk beschäftigen; »für ein hochkultiviertes Publikum allerdings nur ist dies geschaffen (Euphorion-Scene)«. - Ich konnte nicht gut schlafen, die Nachricht über unsern Freund in Basel hat mich zu sehr aufgeregt. Abschied von den Kindern, sehr wehmütig! Gott beschütze sie. Gute freundliche Reise mit R. - Wie ich ihm sage: »Ich habe doch das Gefühl, daß Gott uns liebt und uns beschützt«, sagt er: »Ja gewiß - die ganze Welt ist blind, aber es ist in ihr der Drang nach Wahrheit, nach Erkenntnis, nach Licht, wie sich dieser Drang der Blindheit ausspricht, selbst in Verfolgung der Wahrheit, so ist er nichtsdestoweniger da; alles Gute, was war, ist noch da, man muß nur von Zeit und Raum absehen, [um] die Ewigkeit als jeden Augenblick da zu wissen, und auch an Formen nicht viel hängen, es produziert das Große sich immer wieder, und ist das Licht da, so kann es nicht ausgelöscht werden, es muß leuchten.« Mit der tröstlichen Vertiefung in das Allgemeine vergessen wir die besondre Gemeinheit und kommen heiter in Würzburg an. Die vortrefflichen Ritters empfangen uns; Absteigequartier im Kronprinzen, um 7 Uhr in »Don Juan«. Hier verdirbt auch der gute [Takt-]Schläger alles; R. empfängt einen wehmütigen Eindruck; die Sänger genug gut begabt (namentlich die Frauen), schändlich mißleitet aber; wie ich ihm sage, daß ich in solchen Aufführungen von einem gewissen Moment an gar nichts mehr höre, sagt er, ja, alles ist in einer Art von Somnolenz, was von den Sängern in wachem Zustand ist, ist niederträchtig, ihre gute Begabung schlummert, das Publikum, auch stumpf, ergötzt sich an dem abscheulich verlumpten Meisterwerk, dein Ernst - diese gute Anlage - verwandelt sich zum Stumpfsinn, es ist ein Jammer.
Montag 11ten
R. schläft gut (er bemerkte neulich, daß die Berührung meiner Hand magnetisch auf ihn wirke, er sagte, in sehr inferiorem Grade habe die Berührung weicher Seide etwas ähnliches für ihn Wirkendes). Erster Anblick des Schlosses von der Stube aus, dann mit Ritters besucht; großartiger Eindruck namentlich des Treppenhauses. Die Details der Stube lächerlich geschmacklos; doch phantasievoll und erfinderisch. Dann durch die sehr interessante Stadt - üble Physiognomien aber! Mittag bei Ritters, sehr behaglich und angenehm. Zu Hause ein seltsamer Coburger Hofmaler, Bilder über Gott und Bajadere vorzeigend, die der König von Bayern [bei] ihm bestellt. Sehr ungeschicktes Zeug, Amor Hauptrolle spielend, da - nach einigem Schweigen - kommt R. in Feuer und erklärt ihm den Unterschied zwischen griechischer und indischer Weltanschauung, daß hier Amor, der durch den Gott besiegt wurde, nichts zu tun hat und ein andrer Gott hier waltet; der gute Mann versteht nichts hiervon, ich aber habe meine Freude. - Abends Ritters bei uns, es wird ein weniges aus der Götterdämmerung, aus »Faust« (die Schlacht II. T.) und die »Kapitulation« vorgenommen! Nun endigt Würzburg, das hübsch war, selbst gute Briefe kamen hier an, eine Dame meldete sich als Patronin (vom Strande der Ostsee) und schickte einen sehr merkwürdigen Brief eines jungen Menschen über R. Für die Kinder Spielzeug eingekauft. (Brief von Hans gut und freundlich).
Dienstag 12ten
Großer Schrecken am Morgen, es fehlen 500 Gulden, hoffentlich in Bayreuth durch R. in der Brieftasche zurückgelassen. Dorthin gleich telegraphiert. Abschied von Würzburg und Ritters. Wir sind müde, R. und ich, die Nacht war nicht gut. Auf dem Spessart der erste Schnee, »das war so die Gegend für Götz, die Nürnberger Kaufleute, die nach Frankfurt gingen, anzufallen«. Um 9 Uhr in Frankfurt; der Luxus des Hotels und unsrer Stuben (wir bewohnen den Salon, wo Bismarck und Favre den Frieden unterschrieben) macht mich traurig, noch mehr ein Gang durch die reiche Stadt, und den Rest geben mir zwei Akte des »Propheten«; ich muß weinen und es verbergen. Ach! dieses Leben, diese Welt! - Abends noch an Hans geschrieben.
Mittwoch 13ten
Schlechte Nacht, schlechtes Wetter, und keine Nachrichten über unser Geld. Dazu schlechte Einkäufe. Viel Mißgeschick, ein ganz verlorener Tag! Erkältung; schließlich die Herren Voltz und Batz, noch keine positiven Resultate aufweisend, doch ziemlich verheißungsvoll. Endlich (gegen Mittag) eine Depesche Käthchen's, die Kinder sind wohl und die 500 Gulden sind dort geblieben.
Donnerstag 14ten
Besseres Wetter, nochmalige Einkäufe. Speisen am Table d'hôte im Schwan, unangenehme Empfindung. Unverschämte Gasthofrechnung - wir haben früher den »Schwan« als sehr gemütlich gekannt und finden ihn in unangenehmster Luxus-Weise verändert. Um 4 Uhr fort, in einem Coupe mit dem Prinzen Alexander von Hessen.[6] Um 6 Uhr in Darmstadt, gleich in's Theater; »Maurer und Schlosser« von Auber. Die hübsche Oper wird gänzlich verdorben, und zwar abermals durch den Taktschläger und den Regisseur. Die Stimmen sind meistens gut, und die Leute wären wohl anzuleiten. R. muß über den Verfall, im Theater selbst, weinen; er sagt, er entsänne sich, wie hübsch diese Sachen in Würzburg, wie er jung war, gegeben worden seien, und nun diese Roheit überall! In die »Traube« zurückkehrend bemerken wir das seltsame Glockenspiel, das einen Choral spielt. Schnee und Stille - Melancholie. In Frankfurt erhielten wir noch Nachrichten von den Kindern (daß es ihnen wohl ging) - und eine Depesche von Frau Lucca, daß eine große Vittoria in Bologna mit dem Tannhäuser erfochten worden sei. Dazu einen anonymen italienischen Brief (wenigstens war der Name nicht zu lesen) voll Injurien!
Freitag 15ten
R. hatte eine sehr üble Nacht, mußte fast beständig auf-und abgehen. Mittagsmahl bei Brandt und Direktor Tescher (der die Meistersinger nicht gegeben!), Kmeister Nesvadba[7] und zwei Mitglieder des Darmstädter Wagner-Vereines (mit Frauen). Zu opulentes Mahl, namentlich für R.'s leidenden Zustand; doch Brandt vortrefflich, taktvoll, gescheit und gut. Um 8 Uhr Abreise, 9 Uhr 50 in Mannheim, wo wir bei den trefflichen Heckels absteigen.
Sonnabend 16ten
Wir werden durch den Choral Wacht auf und das Meisterlied aus den Meistersingern, ganz vorzüglich von den Bläsern des Orchesters ausgeführt, geweckt. Herrlicher Eindruck! »Das habe ich bei dir gemacht«, sagt R. - Viel über die Lage unsrer Sache mit Heckel, auch mit Brandt gesprochen; namenlose und unzählige Angriffe scheinen stattzufinden - es stimmt alles darüber ein, daß noch niemand so angegriffen worden ist wie R., weshalb denn auch seine Anhänger etwas von religiösem Fanatismus empfinden. Abends entsetzliche Vorlesung des Schwätzers Pr. Nohl, welchen der Wagner-Verein aufgefordert hat. Unsägliche Pein, darauf Souper bei Heckels! Vor diesem noch eine - jedoch sehr gute Leistung - der Mannheimer Liedertafel.
Sonntag 17ten
Die Orchestermitglieder (die Streicher) bringen wieder ein Ständchen, aus Tannhäuser diesmal. Die fünf Leute sind durch die Schweiz mit diesem Potpourri (von Musikdirektor Lang) gewandert und haben in den kleinsten Dörfern es zu großer Freude gespielt. - Besuche gemacht und empfangen. Abends Holländer; - Striche des Kmeisters Vincenz Lachner, überall, wo er eine Wirkung auf das Publikum wittert. Das Publikum ruft R. tobend heraus, wir entfernen uns aber nach dem zweiten Akt, weil der Strich am Schluß - unnütz frech - R. empörte.
Montag 18ten
R. hat immer keine guten Nächte. Ich habe viele Packungs- und Besorgungsgeschichten, auch Besuche den Damen des Wagnervereins. Abends Gesellschaft bei Dr. Zeroni; sehr hübsch, R. spielt und singt etwas aus Siegfried und den Meistersingern. Dr. Zeroni bringt einen mich sehr rührenden Toast auf mich, indem er sagt, daß R.'s Freunde sein Leben und seinen Genius gern in meinem Schutz wüßten!
Dienstag 19ten
R. hat Korrekturen zu besorgen, und ich benutze den Augenblick, um die Galerie und das Schloß zu besuchen. Bei Heckels sehen wir ein sehr interessantes Bild von Beethoven, das R. ungemein fesselt; »ja, so hat er ausgesehen, dieses Auge, das nichts sieht, und dieser Mund, der ganze Trotz des Menschen, den nichts von außen bestimmen kann. Und wie wundervoll hat der Mensch getont!« - Ein Mitglied des Orchesters schenkt R. ein Autograph von Beethoven. Wir verlassen Mannheim gegen fünf Uhr, nachdem R. seitens der Bevölkerung, die förmlich Spalier bildete, wenn er ausging, merkwürdige Zeugnisse von Teilnahme und Begeisterung erhalten. Unsere guten Freunde machen jetzt eine schlimme Phasis durch, das ganze Judentum hat sich gegen sie organisiert, und dadurch, daß sie in der Theaterfrage gescheitert sind (mit Bülow), haben sie einen schlimmen Stand - das Engagement von Nohl ein großer Fehltritt dazu. Wir kommen in Darmstadt gegen 9 Uhr an (Eisenbahn-Verzögerungen). Brandt empfängt uns und gibt uns Theaterbilletts, die »Nibelungen« von Hebbel mit Frau Seebach[8] als Gast. Unbeschreiblich!
Mittwoch 20ten
R. konferiert mit Brandt, läßt sich auch Frau Jaide[9] bringen (die wir in »Maurer und Schlosser« gehört), welche ihm etwas aus Ortrud singt; wundervolle Stimme und verständige Frau. Vielleicht eine Brünnhilde?... Viele Briefe; Malicen aus Bologna, dann Himmelspreisungen, auch von da; wir müssen sehr über den Ausdruck eines Übelwollenden lachen, welcher mitteilt, der Tannhäuser sei »orribilmente fischiato« geworden; es klingt uns dies so kindisch. - Gute Nachrichten von den Kindern. Diner bei Brandts - leider wiederum zu üppig; die guten Leute denken, es geht ohne Champagner nicht ab, uns eine Pein; wie die gute Heckel mir aus lauter Respekt gestern ein Glas Arrac - das ich für Wasser gehalten - austrinken ließ; das wird für uns sprichwörtlich, und ich sagte zu Brandt betreffs seines damaligen Schweigens in Bezug auf Neumann: Da haben Sie uns auch den Arrac trinken lassen, aus lauter Rücksicht. - R. träumte, ich küßte Hans den Fuß; sehr seltsam drückt hier - wie schon öfters - in grotesker Weise R.'s Traum meine Stimmung aus, die ich dahin zusammenfassen kann, daß ich in Demut stets dessen gedenke, was ich Hans angetan, und ohne Reue - denn ich weiß und fühle, was mich dazu trieb - beständig darum klage. Mit dem Ausdruck dieses Gefühles will ich auch dieses Heft schließen, darin ich nur Wahrhaftes wahrhaftig niedergelegt. Gott verzeihe mir meine Sünden, gebe mir gute Kinder, lasse R. wohl und erfreut sein und lasse Hans zu Glück und Befriedigung kommen. Amen!*
(*Ende von Heft V der Tagebücher. Das nächste beginnt mit der nicht mit der Zahl der Tagebücher identischen Numerierung »5tes Heft. November 1872.«
Mittwoch 20ten November (Fortsetzung)
Abends Bankett des Wagnervereines, sehr erregt; die Militär-Musik des Garde-Regiments, 54    Mann stark, bringt ein Ständchen bei strömendem Regen, Ouvertüre zu Tannhäuser, Brautchor aus Lohengrin, sehr enthusiastische Stimmung, R. geht hinunter und verehrt dem Musikmeister den Lorbeerkranz, den er oben erhalten. Mir wird in Versen ein sehr ergreifender Toast gebracht. Gegen 12 Uhr entfernen wir uns; nachdem R. noch Brandt hat leben lassen.
Donnerstag 21ten
Um 11 Uhr fort, um 5 Uhr in Stuttgart, erste überraschende Begegnung Marie Muchanoff; viele gegenseitige Freude. Wir speisen zusammen im »Hotel Marquard« mit einem Dr. Hemsen, Bibliothekar des Königs, der mir erzählt, er und der König läsen fleißig die gesammelten Schriften, und er habe das Nietzsche'sche Buch für die Bibliothek angeschafft. Die Königin aber ist in Herrn Lübke's Händen[10] - also auch hier nichts, denn der König ist schüchtern und gilt für dumm. In die »Hugenotten«; entsetzliches Zeug, schlechter beinahe als »Prophet«. Abends mit Marie M. zusammen[ver]bracht, viel geplaudert. Gar Übles über Frau von Meyendorff gehört.
Freitag 22ten
Den ganzen Morgen bei Marie Mucha. Bekanntschaft von Frau von Staal, russische Gesandtin, Schwester von Frau von Meyend. gemacht. Um 11 Uhr abgereist, um 6 Uhr in Straßburg. Unser Neffe Major Kessinger[11] stellt sich ein, gleich darauf Freund Nietzsche. Er sieht rüstig und wohl aus, und ist munter mutig (trotz aller Erfahrungen). -    Abends Besuch bei Kessingers, freundliche gute Familienplauderei. (In Stuttgart machte R. die Bekanntschaft des Intendanten von Gunzert, der ihm sehr gefällt).
Sonnabend 23ten
R. hat arge Kopfschmerzen, wir machen uns nach dem Münster auf; seltsame Eindrücke, französische Kultur überall, die Trachten viel anständiger als in Deutschland, die Leute höflich, bemühen sich, deutsch zu sprechen, doch drückt alles den Zustand [aus], den wir auf einem Bild dargestellt sahen: »elle attend«, Geduld, aber keine Resignation. Besuch des Münsters. R. geht heim Briefe schreiben; er hat ein Schreiben von Feustel, der ihn dringend bittet, für die Sache zu sorgen, da er Bedenken trüge, weiter zu gehen bei dem jetzigen materiellen Stand. R. schreibt nach Hamburg und sagt, wenn sie eine kolossale Einnahme ihm versprechen, so wolle er ihnen eine Symphonie dirigieren. Diner in der Ville de Paris; das Hotel sehr herabgekommen, die Leute mürrisch. Nachmittags geht R. mit unserem Freund spazieren, sucht einen ehemaligen Bayreuther Pfarrer, jetzt Straßburger Zeitungsredakteur, auf, den der Dekan uns empfohlen. Ich schreibe unterdessen an Pr. Rohde, der nun auch völlig verfemt und gänzlich aussichtslos und vereinsamt ist. Abends zu Kessingers; viel über den Krieg gesprochen, da der Major alle großen Affairen miterlebt.
Sonntag 24ten
Wiederum in das Münster gegangen; Frühjahrswetter; ich denke mit Besorgnis an Pest, wo die Cholera herrschen soll und wo jetzt Hans und der Vater sind. - Diner mit Kessingers und Nietzsche beim Restaurant Valentin, da die Leute im Hotel sehr unwillig und ungefällig sind. Heitere Stimmung; der Koch gut, Service schlecht, entschieden ist der ursprüngliche Besitzer fort, und ein Deutscher hat die Wirtschaft übernommen. Um 5 Uhr Abreise, Trennung von unsrem Freund in Appenweier. Um 8 Uhr in Karlsruhe; erschreckende Berichte über das Theater; der Großherzog hat einen neuen Direktor ernannt, Köberle,[12] auf ein Buch hin, das dieser geschrieben, dieser hat Herrn Zenger als Kmeister berufen, und dieser wirft die Martha um. (Die Zeitungsblätter sind jetzt voll von dem Bankrott der Spitzeder ((Dachauer Banken)), wo alle kompromittiert sind, Liberale wie Ultramontane. Eine hübsche Welt. In München, erzählt mir Pr. Nietzsche, hat ein Dr. Puschmann, Privatdozent an der dortigen Universität, eine Schrift soeben herausgegeben, in welcher er psychiatrisch beweist, daß R. wahnsinnig. Daß so etwas möglich ist, geduldet wird!)
Montag 25ten
Karlsruhe bei Sonnenschein; R. scherzt: »Ich bin beinahe auch so weit, die Franzosen als höhere Wesen anzusehen, denn wahrhaftig, wie unsere Herrn Deutschen sich ausnehmen, macht einem keine Freude; bei den Franzosen ist es noch der letzte Abglanz der griechischen Kultur, die die römische Welt belebte.« Marie Much. teilt vieles mit, woraus ich sehe, welch schweren Stand Bismarck immer hat; der heimische Adel haßt ihn, die Herrenhaus-Angelegenheit verfeindet ihm auch den protestantischen Adel. Er ist und bleibt unser größter deutscher Mann. Wir speisen Table d'hôte, und ich verschlafe so ziemlich den ganzen Nachmittag, da ich sehr müde bin. Abends Tannhäuser; Tempi vom guten Kmeister Kalliwoda[13] entweder geschleppt oder gejagt; die Regie noch von Herrn Devrient datierend, unmöglich lächerlich (die Gäste im 2ten Akte führen förmlich eine Chasse [?] anglaise aus, dann verliert sich Elisabeth im 3ten in den Wald, weil Herr Devrient es nicht für natürlich hielt, daß sie in der kurzen Zeit hinauf und als Leiche herabkam, sie wird im Wald gefunden, so fällt auch das ganze Nachblicken des Wolfram und die Idee des Abends weg; dies unter andrem); eine gute Sängerin (Venus). R. sagt mir, daß er diese Theater, wo alles so nahe sei, gar nicht mehr ertragen könne, es sei alles so roh darauf. Der Vorhang, auch mit Beistand des Herrn Devrient geschaffen, paßt zur Pyramide, die wirklich in Karlsruhe steht; alles grau, farblos und prätentiös. - Am Abend zu Hause wirft mir R. vor, daß ich es mir nicht bequemer mache, daß ich z. B. selbst ein-und auspacke u.s.w., sagt, daß ihn dies schmerze, (daß er mich dann lieber zu Haus wisse )* *(Über der Zeile, am Kopf der Seite, eingefügt) - ich weiß immer nicht, was ich auf so etwas erwidern soll.
Dienstag26ten
»Es gibt Leute, die nicht wissen, wie sie zu dem Glück kommen, dich zu haben, und deshalb quälen sie dich«, ruft mir heute R. zu, und alles ist wieder gut. Er hat sich beim Großherzog gemeldet und wird für 12 Uhr beschieden. Er wird in cordialster Weise (»im alten Stil«) - im Arbeitskabinett des Großherzogs empfangen und trägt seine Sache vor, nämlich das Ersuchen an den Großherzog, der Bayreuther Sache, da sie so weit gediehen, seine Teilnahme [zuzuwenden, der Großherzog sei der erste deutsche Fürst, an welchen er sich wende, worauf der Herzog  ihm dankte und ihm sagte, >er könne sich wohl denken, wie schwer es ihm fallen müsse, um etwas anzugehen, und er sei ihm sehr dankbare R.< machte die Herrschaften sehr lachen (auch die Großherzogin war gekommen), indem er sagte: Er reise jetzt wie der Marquis im Postillon von Lonjumeau. Der Großherzog sprach von der gänzlichen Umwälzung, die im Geschmack stattgefunden habe, seitdem die Wagner'schen Werke erschienen seien, und wie diese immer weiter sich verbreiteten. Schließlich sprachen sie von einer Aufführung zu Gunsten Bayreuths, R. schied mit einem sehr günstigen Eindruck von der Herzlichkeit und der Rechtschaffenheit, wie auch von der freundlichen Bescheidenheit des regierenden Herrn. Wir verfehlen den ein Uhr Zug und fahren um halb drei Uhr über Mannheim, wo uns Heckeis und Dr. Zeroni begrüßen, nach Mainz; hier empfängt uns Mathilde Maier,[14] anstatt des angesagten »Fidelio« wird »Stradella« gegeben, wir bleiben im Hotel und bringen bloß die Freundin abends heim, durch die kleinen wirren Gäßchen.
Mittwoch 27ten
Nicht sehr gute Nacht, die Eisenbahnzüge fahren an unsrem Hotel vorbei, die Festungsmauer steht unerbittlich vor unsrem Fenster, wir beschließen nach Wiesbaden zu übersiedeln, von wo aus ich an die Kinder schreibe. Mathilde kommt herüber und bringt mit uns den Nachmittag zu. R. verlief sich in den Kursaal und wollte beinahe spielen, konnte es aber nicht über sich bringen. Er bringt mir einen guten Gustav-Adolf-Almanach.
Donnerstag 28ten
Wir hatten keine ganz gute Nacht, machen uns spät auf zu einem Mann, der uns seine alten Schränke u.s.w. angezeigt; großer Unsinn, ein soi disant Poussin[15] 9000 Gulden — R. besucht seine Geschäftsleute und findet alle Bücher in guter Ordnung. Zu Mittag kommt die Militär-Musik des 85. Regiments und spielt wieder auf; nach den zwei ersten Stücken (Tannhäuser und Oberon) steht R. auf, schickt den Kmeister für ihn essen und dirigiert den Leuten Gebet und Finale aus Lohengrin. Dann trinkt er aus einem großen Humpen mit den Leuten allen. Nachmittags ruhen wir etwas aus, dann in's Theater in Mainz, nachdem wir noch Mama Maier besucht haben; »Fidelio« viel besser, als wir erwartet hatten, nachher Bankett des Mainzer Wagner-Vereins, mit abermaliger Militär-Musik und Liedertafel. Wir fahren um ein Uhr zurück, nicht allzu müde. Herr Schott kommt in die Loge, ist ausnehmend freundlich, präsidiert das Bankett. - Während aber R. das Theater besser finden muß als vor einigen Jahren, konstatiert er das Versinken der Militär-Musik und war ganz außer sich, wie er hörte, daß der Kmeister Feldwebel-Rang in Preußen hat und die Leute immer schlechter bezahlt werden. Auch nehmen sie ihre Tempi alle vom Theater her, verschleppen und verjagen - da sagt R.: »Da sieht [man], was Conservatorien nützen können, alles ist vom Theater beeinflußt.« — Von den Leuten aus dem Theater, die immer in das Publikum sprechen, sagt er: Er entsinne sich dabei immer der Anekdote des Juden, warum sagt er das mir, warum sagt er das nicht meinem (seinem)* *(»(seinem)« eingefügt) Nachbarn.
Freitag 29ten
Gänzlich der Ruhe [hin]gegeben, d. h. Richard schreibt Briefe an den Großherzog, an Düfflipp, Feustel u.s.w., wir bleiben aber ungestört. Bei Tisch führt uns das Gespräch auf Träume, Geistererscheinungen, R. teilt mir die Ansichten Daumer's mit, ich sage ihm, daß ich alle diese Deutungen nicht mag, an Geistererscheinungen glaube, aber mir ihre Unerklärlichkeit mehr sagt als alle Erklärungen. Merkwürdigerweise träumt R. eigentlich fast immer Zustände, nicht besondere Erscheinungen. Er glaubt nun nach dem letzten, bösen Traum, den er von seiner ersten Frau gehabt, daß sie Abschied von ihm genommen, daß er sie nicht mehr im Traum sehen werde. Gegen 6 Uhr kommt Mathilde und bleibt bei uns nachts. R. geht spazieren, trifft seine beiden Geschäftsleute und bringt sie abends in's Hotel; was ein wenig ermüdet. (An die Kinder geschrieben).
Sonnabend 30ten
Abschied von Wiesbaden, ich gehe mit dem Bedauern, nicht dazu gekommen zu sein, den Dom in Mainz zu sehen. Die arme Mathilde, durch Schwerhörigkeit von uns getrennt, rührt uns sehr. Schöne Reise am Rhein, schöne Farbe, großer Eindruck; R. singt die Melodie der Loreley des Vaters und rühmt die Drastik seiner Themen; wir sprechen von ihm: »Alles ist interessant, selbst wenn es unbedeutend ist; ein Canto, zu dem der Baß schwer zu schreiben ist«, fügt er lachend hinzu. An Nonnenwerth vorbei, wo Vater und Schwester einst gehaust; gestern kamen die Erinnerungen an Daniel wieder so mächtig über mich, ich mußte von ihm und seinem Wesen mit R. sprechen, der ihn gesehen: »Euphorion«, sagt er. Viel von Fidi gesprochen, R. macht seinen Gang nach und freut sich über fremde Kinder auf dem Gang, weil sie ihn an die unsrigen gemahnen. Gegen 6 Uhr in Köln. Herr Lesimple[16] und Herr Ahn, die Häupter des Wagner-Vereines, empfangen uns, und Tenorist Diener. Allerlei Briefe - Noten von Marie Schl wegen des Lohengrin; Anzeige von des guten Lucca's Tod. Hübscher Brief eines Italieners aus Bologna, welcher meldet, daß in der dritten Aufführung des Tannhäuser selbst die Italianissimi, die verletzt durch den Brief an den Bürgermeister in der 1ten Aufführung so gezischt hatten, nun überwältigt applaudiert hätten; die Aufführung sei auch nicht sehr gut gewesen. Gute Nachrichten von den Kindern; und aus New York die Notiz, daß sie bereits 5000 Dollars hätten. Der hiesige W.-Verein hat einen schweren Boden, nicht nur daß Herr Hiller Macht hat - sagt Herr Ahn -, sondern er ist ein Intrigant, und wo wir halbwegs Terrain gewinnen könnten, unterminiert er es im voraus. Recht müde gehen wir zu Bett. Das Hotel Disch, wo wir abgestiegen sind, ist das erste, das uns gut gefällt - es ist sehr behaglich und gar nicht modern.