Juni

Sonnabend 1ten
Brief von Marie Schl., den ich sogleich beantworte, sie will versuchen, bei Prinzessin Margherita,[1] die jetzt in Berlin ist, für Bayreuth zu werben. (R. hatte gestern dem Minister seinen Dank ausgesprochen.) Zum Unglück fällt R. auf das Zeitungsblatt, worin die Notiz über Herrn W. steht, diese erfinderische Bosheit setzt ihn außer sich, er schreibt zuerst an Herrn W. wegen Rektifikation, dann an die A.A.Z. schickt er ein Inserat. Ich bin sehr leidend und kann nicht viel gehen. R. besucht den Dr. Falko, den Irrenarzt, unseren Nachbarn, der sich sehr freundlich gegen uns benommen, und muß da viel von der einstigen Glorie der Irrenanstalt, dem Herrn Gutzkow, hören! Abends liest R. unseren Freundinnen aus seiner Biographie, sie sind davon sehr ergriffen.
Sonntag 2ten
Um zehn Uhr früh fort, Tauftag,[2] zuerst mit R. allein, dann M. Meysenbug mit meinen drei Mädeln. Daniella muß ich zu Hause lassen, weil sie mir gestern wiederum durch hartnäckiges Lügen wie durch ihre Freude an Zwischenträgerei und Wildheit gegen ihre Schwestern großen Kummer verursacht hat. R. ist dafür, daß sie ganz in eine Pension gegeben werde, was mir aber sehr widerstrebt. Viel traurige Gedanken, und in Folge dessen schlaflose Nacht. - Mit R. vor der Taufe Besuche gemacht, bei Frau Kolb, Frau Landgraf (die Frau des Arztes) und schließlich bei dem herrlichen Dekan Dittmar; ein prächtiger alter Herr, der uns mit freundlichster Lebhaftigkeit empfängt; über die Aufführung spricht er mit Feuer, gesteht aber, daß der Kaisermarsch ihm noch mehr Eindruck gemacht hat als die 9te Symphonie. Erzählt viel von der Freude, die er an allen den fremden Leuten gehabt, namentlich hat ihn die Bekanntschaft von Dohm (Redakteur des Kladderadatsch) sehr erfreut; in den nächsten Tagen soll er Döllinger besuchen, vor einigen Wochen war Dr. Friedrich hier und ist altkatholischer Dienst in der protestantischen Kirche abgehalten worden. Der Dekan glaubt an eine große Propaganda. - Die Frau und die Tochter des Dekan (letztere eine Pfarrersfrau) machen mir auch einen sehr angenehmen Eindruck; sie sind durchaus unschön, und doch spricht das deutsche Wesen der Reinheit, Pflichttreue und des Ernstes so deutlich aus ihnen heraus, daß die Schönheit gar nicht vermißt wird. Der Dekan erzählt auch, daß ein Mann aus dem Volk gesagt hätte: »Ich mache mir sonst aus Musik nichts, aber ich tue, was er (R.) will.« Nach diesem Besuch Diner in der »Sonne« (in der Stube, wo wir vor einem Jahre zuerst weilten), dann das Kind abgeholt und nach der Kirche gefahren. Mich ergreifen die Handlung und die Worte: »Jetzt sollst du durch den Geist und das Wasser der Erlösung teilhaftig werden«, bis zu Tränen.* (*Über der neuen Seite: »2ten Juni (h. Blandine).«) Nach dem Akt geht R., dem Pfarrer einige Worte zu sagen, dieser sagt ihm: »Es war mir lieb, daß ich Ihnen im Namen eines Höheren ehrwürdig nahen konnte, nachdem ich am anderen Ort mich vor Ihnen geneigt hatte.« Wir bringen die kleine Richardis Cosima heim, der Vater ernst und ergriffen, die Mutter sehr bescheiden, gute tüchtige Volksmenschen, mit denen nicht zu spaßen ist. Sie nötigen uns zu Wein, Kaffee und geben einen großen Kuchen mit; die Wohnung, zwei Stübchen, die fünf Kinder darin, sieht sauber aus, an den Fenstern der Arbeiterhäuser und vor den Türen viel Menschheit, die Fenster sehen aber auf Gärten und Berge. Wir sind sehr gerührt, o dieses furchtbare, furchtbare Dasein! - Wir kehren mit den Freundinnen und den Kindern heim. Stiller Abend mit R.; viel vom Vater gesprochen, ob es gut wäre, wenn wir ihn wiedersehen.
Montag 3ten
Viel Hausnöte und Kinderkummer; zu schlichten und zu ordnen. - Wilhemj schreibt sehr hübsch, und sein Engagement als Konzertmeister der Nibelungen wird festgesetzt. Nachmittags in die Schweizerei gegangen; mit Malwida über R.'s Leben gesprochen, sie ist ganz erschrocken über alles, was sie in der Biographie findet, die Verleumdung entsetzt sie förmlich. R. trifft uns in der Schweizerei, der Himmel ist bedeckt, doch trauen wir einem plötzlich hereinbrechenden Sonnenstrahl und folgen R. auf Umwegen; wie wir weit abwärts sind, entlädt sich ein furchtbares Gewitter; keine Regenschirme, keine Bedeckung, die fünf Kinder, und drei nicht robuste Frauen. Der Zustand ist derart, daß wir laut lachen, Fidi aber weint, R. nimmt ihn auf und ist gerührt und beglückt, daß das Kind die Ärmchen um seinen Hals wirft und ruhig wird. Wir kommen alle in unbeschreiblichem Zustand an, die Kinder gleich zu Bett; R. ist doch erkältet, unsre Freundinnen legen sich auch hin, sie können ihre Kleider und Schuhe kaum ausziehen. Abends bespricht R. den Fall, »das ist mein Schicksal, welcher Teufel reitet mich, bei bedecktem Himmel Abwege zu suchen, dazu irrte ich mich im Nebenweg, und du immer nach, unbedenklich; wir sind schöne Toren!« Wir gehen guter Laune zu Bett.
Dienstag 4ten
Fidi blüht wie eine Rose, und die anderen Kinder sind wohl, nur Daniella ist etwas leidend. Im Park mit den Kindern, Geschichte und Englisch vorgenommen. - Bei dieser Gelegenheit manches Unangenehme erfahren, wie daß Leute zu den Kindern herangekommen sind und gefragt haben: »Wen habt ihr lieber, euren ersten oder zweiten Papa?« und mehr dergleichen. Kummer darüber, daß namentlich Daniella sich in solchen Fällen nicht zu halten weiß. Strenge Maßregeln getroffen. R. sagt: »Ja ja, hier ist Regierung, das sind keine Bayreuther, sondern hier[her] versetzte Leute aus München.« - Nachmittags in die Stadt gefahren, unseren Bauplatz abgesteckt, R. ist mit dem Plan fertig. Konsistorialrat Kraußold einen Besuch abgestattet; rührende Schlichtheit der Verhältnisse, die Frau empfängt uns im Gemüsegarten. Er spricht vortrefflich über die Lage von Schule und Kirche; wie macht- und kraftlos steht doch der Protestantismus da, die Schuld der k. Kirche hat er zu büßen, und der Katholizismus wird so beschützt. Wie unwahr das Verhältnis des Landes zum Staat ist, zeigte er uns daran, daß der Bauer den Staat als seinen Feind betrachtet, nicht achtend, daß er selbst der Staat ist, da er doch wählt u.s.w. Sie fühlen sich gar nicht im Volke als Teile des Ganzen, sondern wählen, weil es so sein muß, in der sicheren Annahme, daß der liberale Abgeordnete sich nicht um sie kümmert. Der Ultramontane aber, der sie zu seiner Macht braucht, kümmert sich um sie. Den Abend mit unseren Freundinnen zugebracht. Briefe von H. v. Gersdorff; ein Philologe, Herr von Wilamowitz,[3] hat das Pamphlet gegen das Nietzsche'sehe Buch geschleudert, unter dem Titel »Zukunftsphilologie«. Es soll nichtswürdig sein. - Die Berichtigung R.'s gegen die Notiz über Herrn Weißheimer steht in der A.A.Z. - Meine Mailänder Schneiderin hat für mich etwas nach Beyrouth in Klein-Asien geschickt.
Mittwoch 5ten
Regentag, R. korrigiert an der Biographie, ich arbeite mit den Kindern. Nachmittagsspaziergang. Sonst nichts von Belang; nur daß R. nicht wohl ist, was mich sehr betrübt. Nachmittags und abends unsere Freundinnen. Die Zeitung meldet von einer neuen, in Paris gestifteten Ritterschaft des Herzen Jesu, zum Zweck, die Arbeiter zu fangen. Das gibt den Stoff zum Gespräch. (Herr Nettke schreibt und schickt Havanna-Cigarren.)
Donnerstag 6ten
R. hatte eine furchtbare Nacht; Gratulation an Fidi, der heute 3 Jahre geworden. R. herzt und küßt ihn. Briefe von Clemens, der seinen »Prudentius« schickt, und von Dr. Kafka, der 20 Patronatsscheine anzeigt. Dagegen meldet ein Handwerker gestern, daß, wenn die Preise nicht erhöht würden, sie die Arbeit beim Bau einstellen würden. - Festmahl im großen Lokal, Torte mit drei Lichtern, deutschen Champagner, unsere Freundinnen bringen zwei Kanarienvögel, heitere gute Laune. R. sagt uns, wo für ihn seit dem 16ten Jahrhundert die deutsche Geschichte läge. Luther, Gustav Adolf, Friedrich der Große, Bismarck. Gegen 6 Uhr fährt er zum Donnerstagskränzchen, wo er den immer wohltuenden Feustel und den prächtigen Dekan antrifft. Feustel muß immer von seinen häufigen Reisen erzählen; man scheint sich auf einen erneuerten Krieg gegen Frankreich all überall zu bereiten. - Wo er, Feustel, Bayreuther Gäste angetroffen, war nur ein Jubel über das Fest. Niemann wurde von Kissingen nach Berlin beordert, um auf Befehl des Kronprinzen von Italien[4] Lohengrin zu singen. - In den Bierhäusern in München sagen die Leute unumwunden, der jetzige König sei der letzte König von Bayern, wenn er nicht heirate, denn von der Familie Luitpold lasse man sich nicht regieren, man würde dann preußisch! — Ich bin abends im Goldenen Pfau bei unseren Freundinnen, um 12 Uhr kommt R. zurück. Das Motto, das er diesem Tag gegeben: »Wem der große Wurf gelungen, Frau Kosel's Kind zu sein.« Fidi macht uns unsägliche Freude.
Freitag 7ten
R. eine gute Nacht. Ich mit den Kindern im Garten; wie ich heimkomme, sagt mir R., »ich korrigiere Gespenstergeschichten« (in der Biographie die letzten Zeiten in Zürich). Vor Tisch höre ich ihn aus dem »Christus« vom Vater spielen, was ich bis jetzt von diesem Werke kenne, macht mir keinen schönen Eindruck, »daß man sich so der Errungenschaften einer großen edlen Kunst begeben kann, um das Pfaffengeplärr nachzumachen, das ist doch ein Zeichen der Verarmung des Geistes«, sagt R. - Wir sind traurig über diese Entwicklung des Vaters, an
 welcher Fürstin W.* (*Wittgenstein)[5] gewiß die Hauptschuld trägt. - Bei Tisch, wie wir von
dem gestrigen Kränzchen sprechen, sagt R.: »Und so bin ich denn wieder da angelangt, von wo ich stamme, wie diese Leute und diese Wohnungen war meine Kinderumgebung; eine schlichte Bürgerschaft, wenn man will mit beschränktem Gesichtskreis, aber doch mit Schwung, und gute Keime. Ich könnte meinen Onkel Adolph mir hier denken.« Wie ich die Bemerkung mache, daß in Bayreuth eigentlich nichts wachse, daß sie ihr Gemüse und Obst von Bamberg sich kommen ließen, und hinzufüge, daß eigentlich alle protestantischen Orte, gleichsam als Orte, wohin man sich geflüchtet, rauh und unfruchtbar schienen: »Ja«, sagt R., »und die entwickeln den Menschen; da, wo ihm die Natur vieles versagt, wird der Mensch bedeutend und größer als die Natur. Die Athener hatten das unfruchtbare Attika, der unergiebige Boden steigerte ihre Geisteskräfte auf's höchste, und die von den Höhen wiederkehrenden Arier fanden in dem üppigen Stammland der Menschheit den Menschen fast als ein Tier, während sie, die schon Entwickelten, im üppigen Lande weilend, den Brahmanismus schufen.« Das Gespräch glitt weiter und R.: »Ja! sein Leben kann man nur begreifen, wenn man älter ist; wenn ich denke, was mich mit Gewalt trieb, Tristan zu entwerfen, gerade bei deinem und Hans' ersten Besuch in Zürich, während ich ganz ruhig bis dahin die zwei Akte von Siegfried vollendet hatte, und die ganze Kette übersehe bis zur Aufführung dieses Tristan in München! Daran kann man erkennen, wie alles metaphysisch ist und wie das, was in's Bewußtsein tritt, trügerisch ist. Wie anders wird sich das für den ausnehmen, der das Ganze übersehen wird, als wie es im Augenblick erschien; wie bei Romeo war eine ungeheure Leidenschaft im Keim und nahm sich im Bewußtsein als Zärtlichkeit für Rosalinde [aus]. Was ist das Bewußtsein, der auf eine häufig üble Nacht kommende Tag, und Tagesgespenster! Und es ist förmlich, als dürfe man den Trost annehmen, daß das Schicksal doch für einen sorgt, denn betrachte man mein ganzes Leben, diese Ehe mit Minna, schien da nicht alles verzweifelt, und das Wunder ist eingetreten, freilich auf anderen Wegen und leidenvoller als durch Annunziata u.s.w. Und ich weiß, so angenehm mir diese freundlich teilnehmende Bekanntschaft war, die für mich sorgen wollte und konnte, ich war immer dem Ausreißen nahe.« Wir erfahren den Tod des Kmeisters Esser, der nicht alt war, »es läßt einen alles so kalt«, sagt R., »weil man doch empfunden hat, daß alle diese Beziehungen nicht ganz waren«. - In der Neuen Fr. Presse steht ein fingierter Brief von V. Hugo an R., mit der Absicht, R. unter die Charlatans zu bringen, und der Bemerkung, daß die bayerischen Gulden ihm schmeckten, das darf noch immer dem Schöpfer des Lohengrin im deutschen Lande gesagt werden! Besuch von Dr. Landgraf, Konsultation und Freundschafts-Verkehr. Abends wiederum im »Christus« gespielt, bis zum Grauen gesteigerter Eindruck; R. ist nämlich über die schlechte Setzung für den Chor ganz erschrocken. - Dr. Landgraf prophezeit R. ein langes Leben und sagt, das Alter ist relativ und besteht nicht in den Zahlen.
Sonnabend 8ten
Sehr hübscher Brief des Bürgermeisters, den ich um seinen Toast gebeten (er wollte auf mich einen Toast beim Fest ausbringen, als R. aufstand und mit mir sich entfernte). Ich arbeite mit den Kindern im Garten, R. hat noch Artigkeiten zu üben, Dankbriefe u.s.w. - Wir sprechen wieder über den »Christus«: »Die Angst vor dem Leben nach dem Tod gibt alle solche Dinge wie das Regnum Coelorum in den Seligkeiten ein. Diese Menschen haben niemals, sei es intuitiv oder bewußt, die Idealität von Zeit und Raum erfaßt, wonach man weiß, daß das Ewige und Wahre stets da ist.« - Es nahm sich sehr artig aus, als gestern Dr. Landgraf sagte, er sei in frühester Morgendämmerung im Schloßgarten gewesen und habe da eine Unzahl von Vögeln singen gehört, wobei es ihm gewesen sei, als sängen sie den Chor aus den Meistersingern - wacht auf! - Zu Mittag spielt mir R. den Männerchor zu Weber's Bestattung,[6] er gefällt mir außerordentlich, ich finde die Tannhäuser-Stimmung darin. - Der Nachmittag geht nicht freundlich dahin; zuerst ein Besuch an Dr. Falko (Irrenarzt), wiederum die Gutzkow'sche Stube u.s.w., dann Überraschung von General Heine, der ehemalige Dekorateur, 29 Jahre nicht gesehener Bramarbas;dazu in der A.A.Z. ein Brief des Herrn W.* (*Wendelin Weißheimer) an R., dessen Gemeinheit mich vollständig niederdrückt, und schließlich noch die Zusendung des sogenannten Hugo'schen Briefes, der auch vor Gemeinheit strotzt. - R. muß es büßen, daß er sich hat hinreißen lassen neulich, von der lügnerischen Notiz in der A.A.Z. eine Notiz zu nehmen; fester Entschluß, gar keine Zeitung mehr zu lesen. - (Herr J. Rubinstein meldet seinen Besuch an.)
Sonntag 9ten
Keine gute Nacht in Folge der Schändlichkeiten; ich mache mir Vorwürfe, daß ich nicht mehr in R. drang, keine Notiz von dem Zeug zu nehmen; ich bin zu leicht durch R. gleich um[ge]stimmt, und dadurch, daß ich ihm nie Unangenehmes bereiten will, diene ich ihm nicht, wo ich es vielleicht mit meiner Einsicht könnte. Er setzt ein letztes Wort für die A.A.Z. auf; ich weiß noch nicht, ob das gut ist, er meint, ja. - Besuch von Feustels. - Wir nehmen dann den »Christus« vor, und wir kommen darin überein, daß der Stil in der katholischen Kirche sich nicht geändert hat, wie im 18ten Jahrhundert die Kastraten Oper und Kirche versorgten, so bestimmt jetzt den Kirchstil des Vaters die große Oper, die nun in Halévy,[7] Meyerbeer u.s.w. auch streng Altkirchliches mit verflocht und die den entscheidenden Eindruck auf des Vaters Jugend ausgeübt hat. - Zu Tisch unsre Freundinnen und leider auch der »General«, der uns einen immer übleren Eindruck macht und den Wagner »einen aufgeblasenen abenteuerlichen Sack von Nichtigkeit« nennt. Nachmittags spielt und singt R. aus der Götterdämmerung und wird darüber melancholisch, daß es ihm so fremd geworden, er sieht die Notwendigkeit ein, sich wieder an die Musik zu machen. Brief von Pr. N., der das Pamphlet des H. von Wilamowitz gegen ihn schickt. Betrachtungen, die sich an diese neue Gemeinheit knüpfen; R. erkennt den jetzigen Zustand der Welt als einen trostlosen; die Professoren, die wieder Spezial-Professoren bilden, keine humane Bildung, die sich verbreitet, der Jurist z.B. denkt nicht daran, Philologie und Philosophie zu studieren, alles nur Spezialitäten.
Montag 10ten
Unsre Freundinnen nehmen Abschied, zu unsrem großen Bedauern. Sie werden in München Tristan sehen. Briefe von De Gubernatis aus Italien, daß seine eröffnete Subskription von keinem Erfolg gewesen ist, weil alle Zeitungen geschrien hätten, daß man nur für Italien die Mittel verwenden müsse, daß die Kunst eine nationale Sache sei, und des Unsinns mehr. R. liest das Pamphlet des Herrn von Wilamowitz und wird dadurch bestimmt, an Pr. Nietzsche einen öffentlichen Brief[8] zu schreiben, den er mir abends vorliest. Spaziergang mit dem Musiker Svendsen und seiner Frau. Abends wiederum den »Christus« vorgenommen, mit großer zunehmender Trauer. Eine große Begabung ist hier gänzlich fast vernichtet worden.
Dienstag 11ten
R. arbeitet an seinem Brief, den er auch vollendet und der mir ganz meisterlich dünkt; nach einigen Wirtschaftsnöten gehe ich in [den] Garten mit den Kindern. Einiges im »Prudentius« unseres Neffen gelesen. Mit R. einen langen Spaziergang im herrlichen Park gemacht; Rosen, Akazien, Jasmin, alles blüht und duftet, dazu der Tannenwald, wie leicht vergißt es sich dann, in welch böser Welt wir leben. Diese Zeilen schreibe ich auf unsrem Balkon, während R. seinen Aufsatz abschreibt; Amsel, Pirol, Drossel zwitschern und singen, die Kinder sind wohl, ich habe die Hoffnung, daß R. sich an die Arbeit macht, so bin ich glücklich wie kein Wesen vielleicht und danke Gott in Demut, Reue und Freude! - Abends »Christus« vollendet.
Mittwoch 12ten
Zwischen drei und vier morgens auf: Vogelsang und Sonnenaufgang, ein kleines Reh läuft dicht bei mir vorbei, der Kuckuck mit drei Tönen; schöne Stimmung. - R. gefällt aber mein Morgenspaziergang nicht, so daß ich ihn zu bereuen habe. - Die Sonne hat sich bald umwölkt, und es regnet. Fidi unwohl, ein Backzahn kommt. R. versendet seinen Aufsatz. Er geht spazieren und entdeckt die Wolfsschlucht, nachdem er dem Medailleur Scharff[9] lange gesessen hat.
Donnerstag 13ten
Brief von Cornelius mit humoristischer Darstellung des Weißheimer'schen Erfolges* (*Zeichen im Text, Hinweis auf die hier folgende Ergänzung an späterer Stelle ((*) (und [der] den Brief, den R. im ersten Augenblick an Herrn W. geschrieben, auf R.'s telegraphisches Verlangen zurückschickt, wofür die letzte Erklärung R.'s in der Zeitung steht. Sitzung; die Medaille wird, glaube ich, gut. R. spielt seinen zweiten Akt und ist damit zufrieden, was mich um so mehr freut, als er neulich in Bezug auf den ersten Akt beklommen war. Kindertisch. Dann mit R. in die Stadt. Zuerst zu unsrem Baumeister, R. sehr zufrieden mit der Ausführung seines Plans zu unsrem Haus. Dann zu Feustels, von da zum Festplatz; phantastischer Eindruck der arbeitenden Leute. Wiederum zu Feustels; spät abends heim in unserer Fantaisie-Karosse, mit einem unbeschreiblichen Kutscher, der sich immer in Eile weiße Handschuhe anzieht, wenn er uns kommen sieht, einen Bauernhut aus der Dürer'schen Zeit auf hat, und die dazu passenden Pferde. - (*) Heute waren wir auch in der Redaktion des Tagblattes, um dem Herrn Redakteur für eine unziemliche Notiz (»Feder-Krieg zwischen Weißheimer und Wagner«) den Text zu lesen und ihm zu untersagen, R.'s Namen zu nennen, außer in Bezug auf das Bayreuther Unternehmen.
Freitag 14ten
R. träumt von einem Rosenbusch, der am Kopfe seines Bettes wächst und dessen Rosen so groß waren, daß er sich dachte: »Du mußt doch Cosima sie zeigen«, da fielen sie aber ab wie Camelien; eine blieb, die wollte er eben pflücken, sie fiel, entblätterte sich und hatte einen Kern ungefähr wie eine Ananas, die Loldi aß, das wollte er nun doch auch zeigen, als er erwachte. - Ankunft von Cigarren aus Havanna (»das entzückende Kraut«, schreibt der Lieferant); es ist ein Präsent des Herrn Nettke; letzte Sitzung für den Medailleur, es geht leider wieder ein Vormittag dabei verloren, doch hoffe ich, daß der Erfolg ein guter wird. R. spielt dann wieder aus der Götterdämmerung und freut sich auf die Arbeit. Wann wird endlich die Ruhe dazu kommen? Nachmittags mit Fidi und Eva (die andren sind in der Stadt) nach der Schweizerei. Dann mit R. allein spazieren. Schönes Wetter, herrlicher Aufenthalt. Abends arbeiten die vier Mädel an R.'s Kopf und machen ihm Locken-Papilloten! - Früh zu Bett, weil R. nicht wohl ist, plötzliche Störung durch eine Depesche, der Agent Herr Batz meldet sich, wiederum eine Störung.
Sonnabend 15ten
Der ganze Morgen dahin! Herr Batz von 9 bis ein Uhr da - ich könnte weinen vor Kummer!    Wann, wann die Arbeitsruhe? Ich möchte Gelübde tun, um sie herzuzaubern!... R. erzählte mir gestern, daß Pfarrer Sydom vom ganzen Konsistorialrat angegriffen würde, weil er gesagt habe, Christus sei ein gottbegnadeter Mensch gewesen; »der alte jüdische Gott verdirbt immer die ganze Sache«, meint R., »und was man klar sieht, ist das Absterben der Religion, die sich nur durch Verdummung des Volkes aufrecht hält, während die Liberalen sich auch nicht anders zu helfen wissen als durch Indifferenz; den alten Gott läßt keiner fahren, dafür leugnen sie aber Christus - es ist eine Konfusion überall, wohin man blickt«. - Ich träumte von einer E dur Symphonie; R. hatte mir nämlich gestern erzählt, daß die Symphonie, die ihm Mendelssohn verloren[10] und die er gern wieder hätte, nur um zu zeigen, wie er das Metier gut gekonnt, in E dur gewesen. - »Wenn Du die Dinge nimmst ohn' allen Unterscheid, So bleibst Du still und gleich in Liebe wie in Leid.« Dieser alte Vers, in Gutzkow's Roman »Fritz Ellrodt« zitiert, rührt mich sehr und soll mir zum Spruch werden. (Der Roman wurde mir durch Freund Feustel in's Haus geschickt, weil er auf Bayreuths Geschichte Bezug hat). - Großer Spaziergang mit R. durch die Wälder und die Korn-Felder, die von Kornblumen prangen; ich teile R. mit, was mir in Bezug auf die Kehrseite der Medaille eingefallen ist, über welche unser Medailleur nicht im klaren war, ich denke Mythus und Musik, das Drama erzeugend, und wie ich R. sagte, daß, der Allegorie ihre Kälte und Steifheit zu nehmen, man Portraits machen sollte, schlägt er vor, Ludwig Schnorr und die Schröder-Devrient. - Schöne Stimmung unsres Spaziergangs, wie stets, wenn wir ungestört zusammen sind, neulich im Wagen sagte er mir: »Wenn ich den Blick von dir wende, so ist es nur um zu sinnen, wie ich dir rechte Freude machen könnte -.« Die Heimkehr verdirbt uns der General, den R. am Fenster erblickt. R. entschließt sich, ihn noch spät abends heraufkommen zu lassen. Seine Gemeinheit entsetzt uns, und unheimlich geheimnisvoll muß uns sein Weilen auf Fantaisie dünken. R. sehr verstimmt. (Brief von H.v.G.*(*Herrn von Gersdorff), der sich über R.'s Aufsatz freut, und von Malwide, die von der Zudringlichkeit des Generals erzählt und von der Fortsetzung des Weißheimer'schen Streites, wovon wir Gott sei Dank nichts erfahren).
Sonntag 16ten
Wilde Nacht mit Schreckensbildern erfüllt! Doch ist der Morgen schön, ich bin im Garten mit den Kindern, schreibe an Malwide M., während R. sich wieder an die Arbeit macht. Gott gebe seinen Segen und Ruhe. Später Spaziergang mit Svendsens, die recht großartige Leute sind. Spät Abends »der General«, doch Gott sei Dank, um Abschied zu nehmen. - Ich hatte heute am Nachmittag »Hermann und Dorothea« gelesen und fand, daß die Form des Hexameter dem Eindruck der herrlichen Naivität der Goethe'schen Gestalten viel Eintracht tut, R. gab mir darin recht und sagte: »Man sieht daran, wie alles bei uns ein Suchen und Tappen war; die Unverständigen nennen dies klassisch, weil die griechische Form angewendet ist, die hier gar nicht paßt und alles affektiert erscheinen läßt.«
Montag 17ten
R. hat Ohrensausen und Stechen, was er vor 8 Jahren auch in Starnberg stark hatte. Es betrübt und ängstigt mich alles gleich, auch betrübt mich die sehr große Kostspieligkeit unsres hiesigen Lebens - ach! der arme Teure hat viel zu tragen! — Er ist gar nicht wohl, kann wenig arbeiten und geht nicht spazieren. Abends kommen die guten Svendsens und er muß gehen, weil er niemanden sprechen kann. - Wir sind sehr erschüttert durch die Nachricht der ernsten Erkrankung des Dekans. Sollte uns hier wirklich ein Verlust bevorstehen? Sein letztes Amt war, unsrem Freund Feustel das Abendmahl zu reichen, da dieser zum Protestantismus übergegangen ist. R. sagt halb scherzend, halb ernst: Ob ihm dafür gewisse Herrn ein Tränkchen gereicht?
Dienstag 18ten
R. eine erträgliche Nacht gehabt, kann wirklich arbeiten; er ist heiterer Laune und geht zu Fuß in die Stadt, ich gehe ihm dann mit den zwei Kleinen entgegen. Er erkundigt sich beim Dekan, dem es etwas besser geht. Heitrer Abend. Viel über »Reineke Fuchs«[11] gesprochen, den ich soeben lese. Nachricht vom Tode Alfred Meißner's.
Mittwoch 19ten
Ich sehr unwohl, doch muß man sich aufmachen Hochzeit von Frl. Feustel im Goldenen Anker; 90 Bayreuther, Tafelmusik, Toasts und schließlich Tanz, von 1 Uhr bis 8. Wir sind recht müde, und namentlich der Lärm greift mich sehr an, R. ärgern die alten Weiber mit Blumen, und er sagt: »Das merkwürdige ist, im ersten Augenblick meint man, man würde es gar nicht aushalten, der Schreck ist grenzenlos, dann aber stumpft man ab.«
Donnerstag 20ten
R. arbeitet am Morgen, ist aber traurig, so oft unterbrochen zu werden wie wiederum gestern durch das Fest. Kindertisch. Fidi unartig gegen seinen Papa, erhält die erste Züchtigung von demselben. Nachmittags Spaziergang mit R., nachdem Sendungen von Büchern (Leben Moscheles' [12]u.s.w.) uns wiederum in Staunen versetzt haben, was alles heute gedruckt wird und demnach sein Publikum findet. Ein armes Weib verlangt mit rauhem Tone ein Almosen, R. gibt, und ich bemerke daß ich es nur zu gut verstehe, wenn die Armen gegen die Bevorzugten nun ein Gefühl der Rebellion hegen, »ja«, sagt R., »wenn nicht ein Band da ist, das sie teilhaftig an allem, selbst an den Ehren macht, dann kann nur Haß bestehen, die Religion sollte dieses Band sein, ist es aber schon lange nicht mehr, ein großes Nationalgefühl existiert auch nicht, die Zeitungen sind das einzige schädliche Band«. - Wir sprachen von Amerika, »wie schön, wie reich diese westindischen Inseln, und doch wie nichtig uninteressant dieser ganze Kontinent gegen unsre geringsten Flächen; da sieht man, wie die Kultur nichts mit großen Dimensionen, Eisenbahn-Wesen u.s.w. zu tun hat, und wie selten und spärlich die Punkte sind, aus denen eine große Kultur hervorgeht. Unproduktiv erweist sich bis jetzt Amerika«. - »Den Parcival werde ich doch noch machen«, sagt R. am Abend; »die Religionen werden ewig durch die Kunst, wo sie keine Kunst hervorbringen, also nicht fähig sind, den Gebildetsten wie den Gemeinen zu befriedigen, so sind sie vergänglich (Mohammedanismus).« - Wir nehmen abends die deutschen Lieder des Herrn Tappert vor; mit wenig Vergnügen. »Gott! wie ich recht behalte«, scherzt R., »[vor] 25 Jahren habe ich es im >Kunstwerk der Zukunft< gesagt, daß es mit all dieser Musiziererei vorbei sei, daß nichts dabei herauskam.« (Eva auffallend gut und bescheiden).
Freitag 21ten
Bange Nacht; deren Not sich so steigert, daß ich beinahe den Wahnsinn befürchte; Sorge um die Kinder, Bangen vor dem Verkehr mit den Menschen, Sorge um R.'s Arbeitsruhe; fürchte physische und moralische Kräfte erliegen zu sehen und meine Arbeit nicht vollenden zu können. Der Morgen vertreibt die Gespenster. - Beim Frühstück sagt mir R., daß er sich vornehme, noch einmal das deutsche Wesen recht eingehend darzustellen, »die Heiterkeit, das ist das, was uns Germanen kennzeichnet und von den Romanen so unterscheidet; in dem >Faust< von Goethe spricht sich dieser Zug am prägnantesten aus, man braucht ihn bloß mit Dante's Epos zu vergleichen, um den Geistes-Unterschied zu merken. Diese wohlwollende Heiterkeit ist unser adeliger Zug, wie wir schließlich noch die einzigen adeligen Geschlechter uns erhalten haben. Er macht uns den Griechen verwandt (die ihn auch in diesem Grade nicht besaßen), während die Romanen alle von den Römern das >kein Spaß verstehen< geerbt haben. In Cervantes einzig möchte ich germanischen Geist erkennen«. Wir kommen auf Walküre zu sprechen, »wie nur dem König zu Mut ist, ob er gar nicht ahnt, was er mir mit den Aufführungen angetan hat; ich glaube aber, es liegt in ihm der hochmütige Zug, das Plebejerleiden nicht viel zu achten, wie im Roman von Frau Wille der englische Lord es als ganz natürlich empfindet, daß der Bürgerliche für ihn sein Blut vergießt«. Ich kann mich nicht genug darüber wundern, daß R. sich dies gemerkt hat, aber wo etwas Bedeutendes ist, so nimmt er es wahr, faßt es auf und behält es. - Johannes Konze[13] empfiehlt in seiner Zeitung unser Festtheater, »das fehlte auch noch!« Und wie ich unten bei den Kindern bin, kommt R. und sagt: Nichts bleibt mir erspart, Pusinelli schreibt entrüstet über den Brief von V. Hugo, den er für ächt hält! - Die Widerrufung ist ganz kleinlaut seitens des Herrn aus Mannheim geschehen, weil keiner es mit der Presse verderben will! - R. arbeitet, trotzdem er es unbequem genug dazu hat. Nachmittags verschiedene Besuche, unter andrem des Bürgermeisters. Abends Svendsens, die nach Kassel gehen, wo sie den Vater sehen werden. Erster sehr heißer Sommertag.
Sonnabend 22ten
Die Nachricht, daß es unsrem Dekan besser geht, ist die Freude dieses Tages. R. arbeitet, während ich mit den Kindern im Garten bin. Sehr unausstehliches Bild des Festes im Opernhause in der Illustrirten Zeitung. Unsinnige Anerbietungen der Leute; der eine offeriert Blech-Helme, der andere Goldborten, ein dritter ein Marionettentheater u.s.w. - Besuch des Herrn Feustel, der einen Aschaffenburger Patron bringt. R. unangenehme Nachrichten von seinem Verleger Franz Schott; er hat die Partituren (Rheingold und Walküre) noch gar nicht in Kopie gegeben.
Sonntag 23ten
R. arbeitet am Morgen, und ich schreibe einige Briefe (Marie Schl. etc.) und lese dann Lusch die Geschichte der schönen Melusine[14] vor, Fontaine de Soif und so manches gemahnt mich Tribschens und an unsre frühere Geschichte, über das Seltsame der Kinder Melusinen's sagt R.: »Der Drang des Individualisieren der Gestalten hat das Volk dazu gebracht, Götter und Wesen göttlicher Abkunft körperlich fehlerhaft darzustellen, Wotan einäugig u.s.w.« (ich gedenke dabei des hinkenden Teufels), »auch wird dadurch ausgedrückt, daß die geistige Gewalt die physische regelmäß. Schönheit ausschließt; wie wir von keinem regelmäßig schönem Genie wissen, die Weiber hielten Hephaistion für den König, er dünkte ihnen schöner als Alexander. Wo diese racenhafte regelmäßige Schönheit eintritt, da ist das Gehirn depotensiert, da hat die Natur etwas anderes gewollt.« Auf Melusine zurückkommend, sagt R. noch: »Hier liegt noch die Absicht des Christentums, das Heidnische, das doch sehr mächtig war und in welchem bedeutende Geschlechter wie hier das luxemburgische ihren Ursprung hatten, wenigstens grauenhaft erscheinen zu lassen.« - Scherzend sagt er mir: »Du möchtest gern deinen Fidi mit solch einer ungarischen Nase und neapolitanischen Augen haben.« - Ein Kapellmeister aus Coburg besucht R. und sagt ihm, er könne nicht glauben, wie er populär sei, das sei der gemeine Mann, der schlichte Mann, der nach seinen Opern verlange u.s.w. - Brief des Konzertmeisters Hill, enthusiastisch dankend für die 9te Symphonie, die ihm erst in Bayreuth klar geworden sei. Brief des Herrn Coerper, unorthographisch und schlimmen Stils, doch guter Gesinnung. - Der Brief R.'s an Pr. N. ist in der ND Allgemeinen Zeitung. - Großer Spaziergang mit R.
Montag 24ten Johannistag!
R. arbeitet, hat aber Not mit seinem feucht gewordenen Papiere, das die Noten verwischt, wobei er an die eingegangenen Laube'schen Dekorationen lachend denkt. Er hat an H. Porges geschrieben, weil dessen Aufsatz über die Aufführung der 9ten S. ihm gefallen hat, und sagt er: »Ich kann es nie vergessen, wenn einer sich gut benommen hat, er hat damals in Prag[15] das Konzert mir schön eingerichtet, und in Wien in üblen Zeiten war er der einzige, an den ich mich wenden konnte, da hat einer einen Stein im Brett bei mir, worauf er lange sündigen kann.« - Zu Tisch sprachen wir von französischen Sagen, unter andrem Blaubart; R. sagt: »Es ist mir unbegreiflich, daß nicht ein jetziger fr. Theaterdichter sich dieser Sache bemächtigt hat, wie sie E. Sue erzählt; Blaubart höhnisch ausgehend, um die Jeanne d'Arc zu entlarven, von ihrer Roheit und Reinheit überwältigt, dient ihr reuig und treu und ist der einzige, der einen Versuch macht, sie zu befreien; wie er sie verbrennen sieht, gerät er in Verzweifelung und ergibt sich seinen früheren Ausschweifungen. Ich weiß, wenn ich ein junger fr. Dichter wäre, ich hätte gleich - wie stets - hieraus meine drei Akte gesehen und sie für Porte Se Martin oder Ambigu entworfen; und effektvoll müßte es im höchsten Grade sein, aber so sind diese Unglücksmenschen, sie fragen nach dem Publikum, was es verlangt; wie mir Gerardy sagte, daß unter Louis-Philippe die Marseillaise außer Mode wäre; und die Mode zu machen, das getraut sich keiner.« Wir sprachen von seiner ersten Ehe. »Gott«, sagt R., »es war kein üppiger Trieb, sondern ein recht solider, der mich dazu trieb, und wirklich hat mich diese Ehe vor allen aufregenden Beziehungen bewahrt und nur mein künstlerisches Wesen in mir entwickelt; ich war 40 Jahre geworden, ohne an die Möglichkeit von ernsteren Beziehungen zu Frauen, wie z.B. die meinigen zu der Laussot, nur zu glauben; während deines Vaters Seelenkräfte von frühester Zeit an in solchen Verhältnissen angespornt wurden, blieben die meinigen einzig auf meine künstlerische Entwickelunggerichtet! Freilich«, sagt er lachend, »habe ich diese Konservation etwas teuer bezahlt.« R. spielt mir, was er heute geschaffen, Siegfried's beginnende Erzählung. Dann geht er spazieren, ich bleibe bei den Kindern. (Brief an Ernst Dohm, Nachfrage nach dem Akademischen Verein in Berlin).
Dienstag 25ten
Beim Frühstück spricht R. viel über die deutsche Sprache, deren Verwahrlosung, deren Aussprache, »wir sind Schlumpen geworden«. R. arbeitet und entschließt sich dabei, etwas umzukomponieren. Nachmittags Besuch (mit den Kindern) beim Bürgermeister. Vortreffliche Leute. R. kommt hinzu; heitre Heimfahrt. Der Bürgermeister erzählt, daß die Aufführung des Fl. Holländers in München ein Ereignis war. M. M.* (*Marie Muchanoff) schreibt, daß Hans sehr heiter durch den Empfang sei. (Magnetismus, R. lernt es aus einer Broschüre, um mich zu kurieren).
Mittwoch 26ten
Erster Morgengruß ein Brief in ich weiß nicht wie viel Seiten des Herrn Dr. Julius Lang an mich, ich lese ihn nicht, ersehe aber aus der Ansprache und einzelnen Sätzen, daß er Schmähungen und Drohungen gegen mich enthält. Derlei sollte einen nicht afficieren, und es tut es doch, und ich muß mich zu einer Art von heroischer Stimmung erheben, d. h. mit Freude alles Schlimme auf mich nehmen, um des Glückes willen, das mir zu Teil ward, um nicht innerlich verstimmt zu werden. R. will den Brief mit einigen Worten seiner Hand zurückschicken. - R. arbeitet. Nachmittags kommt ein hübscher Brief des Pr. N., welchen R. sofort beantwortet. Wir gehn dann spazieren; ich muß mit der Traurigkeit sehr kämpfen; haben die meisten Menschen Todesangst, so kann ich wohl sagen, daß ich Lebensangst empfinde.
Donnerstag 27ten
R. liest in der Zeitung, daß in Wien Arbeiter-Aufstände gewesen, wiederum werden die armen Verführten gezüchtigt und verfolgt; »man sollte die Demagogen, die Anführer wie Emmerlinge zertreten«, sagt R. ganz empört darüber, daß wiederum die Verführten die Opfer sind. - Besuch des Direktor Herbeck. Vorschläge für Wien, ob R. etwa die Walküre, vor Bayreuth, dort geben würde - lauter Unsinn. - Kindertisch, Musikerphysiognomien werden besprochen, und R. sagt, daß die Mehul's[16] am schönsten war, auf meine Bemerkung, daß diese französischen Musiker (Gretry, Mehul etc.) sehr begabt waren: »O, bedeutend sind die Franzosen, das ist keine Frage, was ihnen fehlt, das ist das Ideale, das, was sich, wenn es darauf ankommt, gar nicht um die Form kümmert, wie z. B. Bach, der die Gesetze des Wohllautes, die dem Italiener alles waren, einfach vernachlässigte, der Selbständigkeit der Stimmen zuliebe.« - R. hat trotz der Unterbrechung durch Dr H. gearbeitet. Spaziergang nach dem Regen, mit den Kindern, stets erneuerte Freude an dem Park; »wenn man es sich herzaubern wollte, könnte man es nicht schöner schaffen«. Abends unsren alten Gibbon wieder vorgenommen und fortgesetzt, wobei wir bemerken, daß die Engländer viel bessere und originellere Wiedergeber der Latinität und ihrer klassischen Form und ihrer ruhigen Weltanschauung sind als die Franzosen.
Freitag 28ten
R. zum Mitglied der K. Akademie zu Florenz ernannt. Mir schreibt aus Brüssel ein Medailleur, der wiederum eine Münze auf R. prägen will. - Heute abend ist Tristan in München; »wie meine Freunde nur denken, wie mir bei derlei zu Mute ist«, sagt R.! - R. arbeitet und spielt mir das Herrliche vor. - Er ist aber leider nicht ganz wohl. Ich rate ihm zu einem Bade, das er auch nimmt. Abends Gibbon, immer mit Vergnügen.
Sonnabend 29ten
Feustel schickt mir mein Conto; ich verstehe die Rechnungen nicht, denke aber im ganzen (mit Abzug der Reisekosten) 19 857 Franken zu besitzen. Lulu hat Zahnschmerzen, was mich um ihre Zahnformation besorgt macht; ach! die Sorge um die Kinder verläßt mich eigentlich keinen Augenblick. Ob ich in ihnen den freudigen Stolz erleben werde, tüchtige gute Menschen herangebildet zu haben. - R. kann heute nicht arbeiten, er ist erkältet, er liest in Darwin[17] (Ursprung der Arten), ein Beispiel von einem Hunde, der seinem Operateur und Herrn noch die Hand geleckt hat, während dieser ihn secierte, und dieser gar nicht aufgehört hat, bringt R. ganz außer sich, »so etwas muß man sich immer vorstellen, um zu wissen, unter wem man lebt, zu wem man gehört, um demütig zu werden«. Mich ergreift es zu vollständigem Schweigen — vergessen, vergessen! Ach dieses Leben! Wir überzählen unsere Erfahrungen seit dem Fest: 1. Hans' Brief. 2. Weißheimeriade. 3. der General. 4. Wilamowitz. 5. Johann Herbeck. 6. Julius Lang! - In Bezug auf 5. errät R., daß sie gern die Walküre für die Welt-Ausstellung hätten, was sie verbergen. Nachmittags zum Zahnarzt gefahren. Lulu recht leidend, ihre Zähne sind schlecht. Abends Gibbon. - R. sagt: »Wenn ich hier meine Schule noch errichten würde, dann sollte es mir Freude machen, meine Ansicht über >Zauberflöte<, >Figaro<, >Freischütz<, auch Gluck auszusprechen und über ihre Bedeutung als Kulturmomente. >Zauberflöte<, >Freischütz< gehörten in's Volks-Theater. Die Dido's Abbandonata dagegen in das Hoftheater. - Ach! Wo ist aber bei uns eine Kultur möglich, wo die Wurzel der Religion so schadhaft ist und selbst die Terminologie so wenig geregelt ist, daß man noch von Geist und Natur als Antithese spricht.« - Ich unterhalte R. mit der Erzählung von meinem Besuch des Zahnarztes, wo ich wirklich »les mysteres de Bayreuth« habe kennen gelernt.
Sonntag 30ten
R. hatte eine bewegte Nacht, er träumte von einer Aufführung des Tannhäuser in Wien, worin Lulu und Boni hätten auftreten sollen, was aber nicht ging, und plötzlich nach dem Abgang der Elisabeth habe eine Cabaletta erklungen, die er schon in der Theater-Partitur eingeschaltet gefunden hatte und gestrichen, und die er nun wieder hörte; sprachlos vor Wut sprang er auf die Bühne, begegnet da seiner Schwägerin Elise Wagner, die ihm sagt: Es sei doch alles sehr schön, während er, krampfhaft nach Worten suchend, endlich: Schweinehund, laut und deutlich hervorbringt, worüber er aufwachte. - Beim Frühstück über das spanische Theater gesprochen, Bewegung des Volksgeistes, der in Italien gar nicht zu Worte kam, zu sehr von Akademien, Sitz der Kirche und Ausgrabung der Antike gebändigt wurde. Volksströmung, die in England Shakespeare hervorbrachte. - Lulu sehr leidend.    Bismarck, vom Papst der Welt denunziert, macht uns Freude; R. wünscht eine Allianz von Rom, Frankreich und Österreich, »dann kommt es vielleicht zu der deutschen Kirche und ist es zu Ende mit den Habsburgern, dem Pfahl in unserm Fleisch«. R. arbeitet. Nachmittags Kindergesellschaft. — Briefe, von M. Muchanoff aus Kassel, sie ladet mich ein zu ihr nach Weimar, den Vater besuchen, dann würde der Vater nach Bayreuth kommen! - M. M.* (*Malwida von Meysenbug?) schreibt aus München, wo der Tristan gewesen ist; mich befällt immer eine bittere Empfindung, wenn ich an diese Aufführungen denke, ohne uns, die unsre Freunde erfreuen. (Pr. Nietzsche und Herr v. G. auch zugegen.) »N. hat da seinen tragischen Menschen serviert bekommen«, sagt R. von Tristan.