Leben und Werk von Charlotte Berend-Corinth (1880-1967)

»Meine stärksten Lebensjahre gab ich Lovis ... «

»Malen ist das Schönste in diesem Leben« dieser Satz findet sich in dem Erinnerungsbuch »Mein Leben mit Lovis Corinth« (1947), das die Malerin Charlotte Berend über ihre Ehe mit Corinth nach dessen Tod verfaßte. Eine solche Aussage ist mehr als die Huldigung an das Werk des Mannes, in ihr steckt das Lebensprogramm einer Frau, die sich zeit ihres Lebens als Künstlerin verstanden und für die die Kunst stets im Mittelpunkt ihrer Wünsche gestanden hat. Der Satz »Ich will nichts anderes mehr als malen«, den Charlotte Berend mehr als dreißig Jahre nach dem Tode Corinths in ihrem zweiten Erinnerungsbuch »Lovis« <1957) niederschrieb, ist nicht Ausdruck resignierender Weltflucht einer alternden Witwe, sondern er steht in lebendigem Zusammenhang mit einer Fülle von ähnlichen Äußerungen, die von der frühen Jugend bis ins hohe Alter reichen.
Bereits als kleines Mädchen wollte Charlotte Berend Malerin werden. Ihrer verdutzten Schulfreundin erklärte sie kategorisch: »Wenn ich erwachsen bin, male ich Bilder. Ich will keinen Mann und keine Kinder haben.« Gegen den Widerstand der Eltern, die ihre Tochter lieber großbürgerlich verheiratet gesehen hätten erkämpfte sie sich eine Ausbildung als Malerin. Für die damalige Zeit ein kühner Schritt! Als ihr Lehrer Lovis Corinth, dessen Lieblingsschülerin sie nicht zuletzt wegen ihrer großen Begabung wurde, sie nicht ganz ohne Eigeninteresse nach ihren Zukunftsplänen befragte, antwortete die damals Einundzwanzigjährige, daß sie niemals heiraten werde, weil sie kleine Kinder nicht ausstehen könne. Als Corinth amüsiert nach dem Grund forschte, erwiderte sie: »Weil sie quieken und quaken und mich beim Malen stören würden.«
Wenn sie auch in bezug auf die Entscheidung gegen Ehe und Kinder nicht konsequent geblieben ist, die Malerei hat sie zeit ihres Lebens nicht aufgegeben. Trotzdem ist sie als Malerin relativ unbekannt geblieben. Wer sich über ihren Mann, den Maler Lovis Corinth informieren will, stößt auf eine Fülle von Veröffentlichungen, repräsentativen Katalogen umfassenden Dokumentationen und nicht zuletzt auf die Erinnerungsbücher, die seine Frau über ihr Leben mit ihm verfaßt hat. Wer sich aber für die Malerin Charlotte Berend interessiert, wird nur eine schmale Ausbeute machen: Ein Sammelsurium von kleineren Ausstellungskatalogen, überwiegend mit Schwarzweiß-Reproduktionen, die wenig von der Qualität der Bilder ahnen lassen, zeugt immerhin davon, daß es die Malerin Charlotte Berend gegeben hat, aber eine Übersicht über das Gesamtwerk gibt es nicht, und biographische Details müssen mühsam recherchiert werden.
Präsent ist Charlotte Berend jedoch als »Schutzgeist« von Corinth als die »Bewahrerin seiner künstlerischen Hinterlassenschaft«. Das von ihr in jahrzehntelanger Arbeit zusammengestellte Werkverzeichnis (1958) ist die Grundlage jeder ernsthaften Beschäftigung mit Corinths Malerei. Kein Wunder, daß ihre Leistungen auf diesem Gebiet immer
wieder gepriesen werden. Wie aber steht es mit der Malerin Charlotte Berend selbst? Hier ist die Kunstkritik sehr viel zurückhaltender in ihrem Urteil. Wenn überhaupt von ihrer eigenen Malerei im Zusammenhang mit Corinth die Rede ist, dann nur nebenbei und meistens gönnerhaft und sehr oft mit dem Hinweis darauf, daß sie in ihrer Malerei von ihrem Mann abhängig gewesen sei. Vergeblich hat sich Charlotte Berend gegen eine solche Sichtweise zur Wehr gesetzt: »Manche Menschen meinen, ich wolle so malen wie er! Wie niedrig sie mich einschätzen.« Die Fixierung der Kunstkritik auf Corinths Werk ist ihrer Meinung nach die Ursache dafür, daß ihr als Künstlerin nicht die genügende Aufmerksamkeit geschenkt worden sei: »Wie schwer hatte ich es, weil andere mich stets nur in Verbindung mit Corinth sahen und beurteilten.«
Sicherlich liegt hier ein Grund für ihre fehlende Anerkennung als Künstlerin; es gibt meines Erachtens aber noch andere Gründe, die dafür verantwortlich sind, daß die Malerin Charlotte Berend in der öffentlichen Wahrnehmung hinter der Ehefrau Charlotte Corinth so sehr zurückgetreten ist, daß sie als eigenständige Person kaum mehr erkennbar ist: Die Kunstkritik exekutiert nur das, was Charlotte Berend-Corinth selbst mit vorbereiten half.
Der Schlüssel liegt - wie so häufig bei begabten Frauen ihrer Generation - in Erfahrungen der frühesten Jugend, die sie in die Verbindung mit einem Mann hineintrieben, der ihre Begabung zwar anerkannte und anfangs auch förderte, diese Begabung in der Ehe jedoch so kanalisierte, daß sie ihm für sein eigenes Werk zugute kam. Als Muse und Modell war Charlotte Berend von unschätzbarer Bedeutung für ihn: Die vielgerühmte »titanische Kraft« des Meisters speiste sich nicht nur aus der eigenen Person, sondern auch aus der Begabung seiner Frau.
Geboren wurde Charlotte Berend 1880 als zweite Tochter einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin. Zusammen mit der fünf Jahre älteren Schwester Alice wuchs sie in einem großbürgerlichen liberalen Ambiente auf, das jedoch weniger harmonisch war, als die glänzenden äußeren Umstände vermuten lassen. Die Ehe der Eltern war nicht glücklich. Die Schuld daran gaben die beiden Töchter der Mutter, die es ihrer Meinung nach nicht verstand, den Vater zu fesseln. Obgleich der Vater als vielbeschäftigter Geschäftsmann kaum Zeit für die Töchter hat, ist er der strahlende Mittelpunkt ihres Lebens. Sie sind beeindruckt von seiner Großzügigkeit und der selbstverständlichen Eleganz, mit der er sich in Gesellschaften bewegt. Für die beiden Mädchen verkörpert der Vater ein Stück der großen weiten Welt, die ihre Phantasie bewegt. »Mein Vater war für mich das schönste, was es auf der Welt gab« schreibt Charlotte Berend noch als Siebzigjährige in der Rückschau. Das Leben der Mutter im engen häuslichen Kreis erscheint den beiden Mädchen dagegen wenig verlockend. Sie verbinden es mit Langeweile, schlechter Laune, Sparsamkeit und öder Perfektion. Wie die Mutter werden - welch ein Alptraum für die beiden kleinen phantasievollen und begabten Mädchen! Und doch liebt die kleine Charlotte auch die Mutter und erträumt sich eine harmonische Beziehung zu beiden Elternteilen. In ihren Erinnerungen »Als ich ein Kind war« findet sich eine aufschlußreiche Passage, die von einem Gespräch zwischen ihr und der Schwester berichtet. Vorangegangen ist eine der üblichen Streitereien der Eltern, die die beiden Kinder hilflos zurückgelassen haben.

»Abends im Bett: >Alice? wer hat recht, wenn sie sich zanken, Papa oder Mama?< >Immer Papa, Papa ist wundervoll.< >Mama doch auch!< Ich bekam keine Antwort. Ich weinte im Dunkeln. >Mama auch< schluchzte ich.«

Während die ältere Schwester bereits eine treue Verbündete des Vaters geworden ist, fühlt sich die kleine Charlotte noch hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu Vater und Mutter. Auf die Dauer hat die Mutter gegen den »wundervollen Papa« aber keine Chance. Auch die jüngere Tochter wechselt schließlich in das väterliche Lager und entwickelt erhebliche Aggressionen gegen die Mutter, die sich später bis zu Tötungsphantasien steigern. Der Vater jedoch bleibt lebenslang ihr Idol. Mit kleinen koketten Spielchen versucht sie bereits als kleines Mädchen seine Aufmerksamkeit zu erregen. In ihren Erinnerungen berichtet sie von einem Spaziergang im Garten mit dem Vater:

»Langsam gingen wir Hand in Hand auf den gelben Kieswegen. Ich wollte den Vater recht glücklich machen ... Grade sah ich, wie der Gärtner weit entfernt von uns über die Rasenfläche ging und sorgfältig hier und da etwas vom saubergeschnittenen Rasen aufhob. Er bückte sich recht kunstvoll, so schien es mir. Der alte Mann hob dabei ein Bein hoch in die Luft. >Pappi - hast du das gesehen?< >Was?< >Wie der Gärtner sich bückte. Warte mal, Pappi, ich zeige es dir. Sieh, so<, und ich hob das Bein so hoch, daß der gestärkte Rock über den Kopf fiel und die weiße Hose zu sehen war, die auch mit schöner Schweizer Stickerei umrahmt war. >Laß das<, sagte mein Vater und rüttelte mich an der Hand. >Du bist ein kleines Mädchen und kein alter Gärtner.<«

Ohne eine solche Szene interpretatorisch zu überfrachten, ist es sicherlich legitim, daraus Schlüsse für das spätere Verhalten der erwachsenen Charlotte Berend gegenüber Männern zu ziehen. Charlotte Berend selbst schreibt dazu in ihren Kindheitserinnerungen: »Die Fähigkeit, einen Mann zu lieben, wird vorbereitet in der Liebe zum Vater.« Die Art, wie sich die kleine Charlotte vor dem Vater in Szene setzt, wird später von ihr zu einer regelrechten Kunst des Posierens ausgebaut: Als Modell Corinths nimmt sie immer wieder neue Stellungen ein, um ihn als Maler zu stimulieren. In der Selbstinszenierung des kleinen Mädchens vor dem Vater wird der spätere Objektstatus als Muse und Modell vorweggenommen. Wenn dem kleinen Mädchen eine alte Tante eher säuerlich prophezeit, daß sie einst eine »Männerschönheit« werden würde - ein Begriff, mit dem die kleine Charlotte nichts anfangen kann und von dem auch der Vater vorgibt, nicht zu wissen, was das sei - zeigt dies, daß das kleine Mädchen bereits das »bestimmte Etwas« hat, das sie in den Augen ihrer Umgebung erfolgreich in der Männerwelt machen wird.
Freilich ist die kleine Charlotte mehr gewesen als ein kokettes Mädchen das um die Aufmerksamkeit des Vaters buhlt und die Mutter auszustechen versucht. Ebenso wie bei der Schwester hat die Ablehnung der Mutter und ihrer untergeordneten Rolle auch bei der kleinen Charlotte dazu geführt, daß sie sich sehr früh einen Bereich suchte, in dem sie etwas leisten und eine Position erreichen konnte, die der des Vaters ebenbürtig war. Beide Töchter haben diese Bereiche sehr früh gefunden. Die ältere Schwester Alice in der Literatur, die jüngere Schwester in der Malerei. Alice Berend wurde eine zu ihrer Zeit sehr produktive Unterhaltungsschriftstellerin, die sich auf dem Markt durchsetzte und deren Bücher bis in die fünfziger Jahre hinein immer wieder neu aufgelegt wurden. Ähnlich zielstrebig wie die ältere Schwester verfolgte auch Charlotte Berend ihren Lebensplan sich als Künstlerin eine eigene Existenz aufzubauen.
In ihrem Mädchentagebuch finden sich zahlreiche Eintragungen, die von Kunsteindrücken berichten und ihre immer stärker werdende Neigung zum Zeichnen und Malen beleuchten. Sehr bald kristallisiert sich daraus ein Berufswunsch. In ihren Erinnerungen beschreibt Charlotte Berend sehr anschaulich, wie der Vater auf die Eröffnung seiner Tochter, daß sie Malerin werden wolle, reagiert hat:

»Papa saß am Tisch und legte Patience. Ich saß ihm gegenüber. Willst du mir etwas sagen, Kind? Die andern sind schlafen gegangen, und du?, Ich stellte mich dicht neben ihn. >Papa, ich möchte nach dem Schulabgang studieren.< >Drücke dich nicht so überaus wichtig aus. Was meinst du damit? Ein Blaustrumpf zu werden? Nicht heiraten?< Seine Stimme war drohend. Ich blieb tapfer. >Man ist kein Blaustrumpf, weil man nicht einfach dasitzen will, bis ein Freiersmann daher kommt. Ich will nicht Klavier klimpern, Deckchen sticken, Französisch parlieren.< Dann willst Du eine Emanzipierte werden?< >Ich will Malerin werden, Papa.< >Eine Künstlerin? So eine von diesen verwahrlosten?< >Papa!< >Es mag sein, daß darunter auch ordentliche und anständige Menschen sind; ich kenne sie eigentlich nicht. Aber wenn ich mir denken soll, daß meine Tochter - es ist schwer, mir so etwas vorzustellen.< >Es ist ein Lehrgang, strenger als auf der Schule. Man muß ein Examen bestehen. Man kann froh sein, wenn man überhaupt aufgenommen wird.< >Wie lange dauert der Lehrgang?< >Viele Jahre.< >Viele Jahre? Jahre? Darüber vergeht deine Jugend! Also dann doch ein Blaustrumpf. Eine alte Jungfer!< >Eine Künstlerin, Papa. Eine Malerin.< Längst hatte er die Karten beiseite geschoben. Er vergrub seinen Kopf in die Hände. Es war, als ob er sich ins Dunkle vergraben wollte. Als er den Kopf hob, sah ich, daß seine Augen gerötet waren. Er blickte mich mit dem Ausdruck so unverhüllter tiefer Liebe an, daß es mich noch jetzt ergreift, wenn ich daran denke. Leise und sehr langsam sagte er. >Du wünschst es dir so sehr. Es wird mir schwer. Schwerer als du verstehen kannst. Kind, du! Ich will deinem Glück nicht im Wege stehn. Folge deinem Ideale. Ich willige ein. Vergiß deinen Vater nicht.< Er küßte mich auf die Stirn.«

Mit dem Einverständnis des Vaters - was die Mutter gesagt hat, wird nicht berichtet beginnt eine aufregende Zeit für Charlotte Berend. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden Frauen bis 1914 zu einem Kunststudium an deutschen Akademien mit dem Hinweis auf die »erfahrungsgemäß geringere Veranlagung des weiblichen Geschlechts für die großen Aufgaben der hohen Kunst« nicht zugelassen. Die Ausbildung erfolgte normalerweise in Privatschulen, deren Niveau im allgemeinen sehr gering war. Nur in Berlin, München und Karlsruhe gab es um die Jahrhundertwende staatlich subventionierte Lehranstalten für Frauen. Der Andrang war entsprechend groß. Nur zwei von fünfundachtzig Bewerberinnen des Jahrgangs 1898 bestanden die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Kunstschule in Berlin, eine von ihnen war Charlotte Berend. Sie gehörte damit zu den wenigen privilegierten Frauen, die eine einigermaßen professionelle Ausbildung erhielten. Trotzdem waren die Ausbildungsbedingungen deutlich schlechter als an den Kunstakademien für den männlichen Nachwuchs. Im Vergleich zu den Kunstakademien war der Lehrplan an der Staatlichen Kunstschule in Berlin, sowohl was die Anzahl der Unterrichtsstunden als auch was das Angebot der verschiedenen Fächer betraf, wesentlich begrenzter, die Kosten aber weitaus höher. Erschwerend zu den schlechten Ausbildungsbedingungen kamen die Vorurteile gegen die sogenannten »Malweiber« hinzu. Die Bestimmung der Frau wurde in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter gesehen, künstlerisch tätig sein sollte eine Frau nur insoweit, wie es diese Rollen nicht beeinträchtigte. Ein Zeitgenosse brachte die gängigen Vorstellungen zum Ausdruck, wenn er folgendes Idealbild der malenden Frauen entwarf.

  • »Sie haben über Pinsel und Palette nicht die Sorge für den Mann und die Kinder, über den Farbentöpfen nicht die Kochtöpfe, über der aufgespannten Leinwand nicht die im Kasten liegende vergessen... So lange sie so treffliche Töchter, Gattinnen und Mütter sind, mögen wir, dünkt mich, es leichter ertragen, wenn sie keine Raffaels und Michelangelos werden.«

Eine solche Rollenzuschreibung erlaubte malenden Frauen nur den Status der Dilettantin, auf den sie durch den Ausbildungsbetrieb sowieso schon verwiesen waren. Repressive Ideologie und reduzierte Ausbildungsmöglichkeiten griffen nahtlos ineinander über. Freilich hielten die männlichen Ideologen auch ein Trostpflaster für die Frauen bereit. Wahre Bedeutung könne die Frau gewinnen, wenn sie das eigene Schöpfertum der Kunst des geliebten Mannes opfern würde:

  • »Beglückt im Schatten des Größeren sich mit der zweiten Rolle zu bescheiden, versteht sie es, seinem Gestaltungsdrange herbeizuschaffen, was er ersehnt, zahllose Hemmnise wegzuräumen. Sie lernt mit seinen Augen sehen, weckt in sich Vorstellungen seiner Einbildungskraft.«

Über den Ausbildungsgang Charlotte Berends an der Staatlichen Kunstschule ist wenig bekannt. Die Jahre zwischen 1898, dem Beginn des Studiums, und dem Jahre 1901, dem Eintritt in die private Malschule bei Lovis Corinth sind überschattet von der Katastrophe, die 1900 über die Familie hereinbrechen sollte und die so traumatisch gewesen sein muß daß Charlotte Berend darüber noch aus der Distanz von mehr als fünfundzwanzig Jahren nur in Andeutungen sprechen konnte: Im Jahre 1900 nahm sich der Vater das Leben. Was das für die Tochter, in deren Armen der Vater starb, bedeutete, ist kaum zu ermessen. In der Erinnerung an den toten Corinth bricht erstmals die Erinnerung an den toten Vater auf. Über die Phantasie eines Todesengels werden die beiden Männer in eine geheime Verbindung zueinander gebracht. Tatsächlich sah Charlotte Berend kurz nach dem Tode des Vaters zum ersten Mal Bilder von Lovis Corinth in einer Ausstellung, wenige Monate später wurde sie seine Schülerin, im Frühjahr 1903 heirateten sie. In dem zweiundzwanzig Jahre älteren Mann scheint sie eine Vaterfigur gesucht und gefunden zu haben.

Die unter dem Eindruck des toten Vaters eingegangene Verbindung zu Corinth setzte eine Struktur fort, die nicht auf der Gleichberechtigung, sondern auf der Disparität der Partner basierte. Das sollte sich jedoch erst im Laufe der Jahre zeigen. Zunächst ließ sich die Beziehung als produktive Künstlerverbindung sehr verheißungsvoll an. Der gesicherte finanzielle Rahmen den der erfolgreiche Corinth Charlotte Berend als Ehefrau bieten konnte, ermöglichte einen großzügigen Lebensstil, der sie von häuslichen Verpflichtungen weitgehend freistellte. Sie hatte ihr eigenes Atelier und wurde von Corinth zu eigenen Arbeiten ermuntert. Er arrangierte für sie sogar Motive, animierte sie zum Malen, reiste mit ihr und unterstützte ihre Arbeit durch konstruktive Kritik. Er stellte sich ihr sogar als Modell für ein Ölbild zur Verfügung, was Charlotte Berend jedoch nur ein einziges Mal in Anspruch nahm um ihn zeitlich nicht zu sehr zu belasten.
Die Geburt der beiden Kinder 1904 und 1909 veränderte jedoch die Situation. Zwar malte sie auch jetzt noch weiter und beteiligte sich auch mit Erfolg an öffentlichen Ausstellungen, Corinths Interesse an ihr verlagerte sich aber immer mehr: Aus der Schülerin, für deren Ausbildung er sich väterlich verantwortlich fühlte, wurde das erotisch attraktive Modell, das als Geliebte, Ehefrau und Mutter gleichermaßen seine künstlerische Phantasie ansprach. In mehr als neunzig großformatigen Ölbildern und ungezählten Zeichnungen hat er seine Frau in immer neuen Posen gemalt. Für die gewandelte Beziehung am aussagekräftigsten ist das Bild, das Corinth von sich und der Familie 1909, nach der Geburt der Tochter malte. Er selbst stellte sich mit Pinsel und Palette bei der Arbeit dar, seine Frau ist im Vordergrund mit dem Säugling auf dem Schoß ganz als hingebungsvolle Mutter inszeniert. Ihr zur Seite steht der inzwischen fünfjährige ältere Sohn. Durch Haltung, Kleidung, Farbgebung und Malweise gehören Vater und Sohn zusammen. Sie bilden einen Kontrast der Strenge und Ernsthaftigkeit zu der in duftige Spitzen gekleideten im Vordergrund sitzenden Mutter mit der Tochter. In seltener Deutlichkeit sind hier die Bereiche zwischen den Geschlechtern aufgeteilt und Aussagen über den Mann als Bilderproduzenten formuliert: Corinth hat sich selbst als denjenigen in Szene gesetzt, der das Bild als Künstler schafft. Welch ein Unterschied besteht zu frühen Bildern, auf denen er Charlotte Berend als Malerin dargestellt hatte, und welch ein Unterschied besteht auch zu den Bildern, die Charlotte Berend von sich selbst als Malerin geschaffen hat!
Die Arbeit als Modell kostete sehr viel Zeit, Zeit, die von Charlotte Berends eigener Malzeit abging und zudem viel Kraft kostete. Mehrmals bezahlte sie ihren Einsatz mit schweren Erkältungen und stand bis zur Erschöpfung für ihren Mann Modell: »Ich habe noch Modell gestanden zwei Tage vor meiner Niederkunft, ganze Figur, obwohl mir die Beine etwas zittrig waren.« Dazu kam die Zeit, die sie darauf verwendete, Motive für Corinth zu arrangieren, seine Phantasie durch ausgefallene Garderoben anzuregen oder aber über seine Bilder mit ihm zu sprechen und seine Depressionen abzufangen. Wenn man sich die Briefe zwischen Charlotte Berend und Corinth ansieht, fällt auf, wie das Interesse Corinths an den Bildern seiner Frau kontinuierlich abnimmt. In den Anfangsjahren der Ehe fragt er noch nach ihren Arbeiten und zeigt Interesse an ihren Fortschritten, später spricht er nur noch von eigenen Projekten. Charlotte Berend scheint diese Veränderung nicht so einfach geschluckt zu haben. Es kommt zu ernsthaften Verstimmungen zwischen den Ehepartnern, die sich an der Unzufriedenheit Charlotte Berends mit ihrer Arbeitssituation entzündeten. Auf Forderungen seiner Frau reagierte Corinth nicht ohne Schärfe:

  • »Ich beurteile doch deinen Charakter neben warmer Empfindung als sehr egoistisch, und ist nicht alles, wie du es im Augenblick möchtest, gleich bist du die mißverstandene Nora und glaubst dich vollständig verraten.«

Immer unverhüllter setzt Corinth seinen Prioritätsanspruch durch. Charlotte Berend hat in ihren Erinnerungen von einer Szene erzählt, die auf den Machtkampf in der Beziehung ein bezeichnendes Schlaglicht wirft. Um eine wichtige Auftragsarbeit fertigzustellen, geht sie in das Atelier ihres Mannes, um ihn um eine Tube Farbe zu bitten:

»Um ihn nicht zu stören, schlich ich mich zu seinem Malkasten hinter ihm vorbei. >Was machst du denn da?< fragte er, während ich kramte. >Ich nehme mir eine Tube Weiß.< >So ? Du nimmst dir? Lege die Tube gefälligst zurück!< Wie angewurzelt blieb ich stehn. >Na, das ist ja allerhand!< erwiderte ich. >Du holst dir bei mir Farben, Pinsel und Leinwand, sooft und wann immer es dir paßt - und ohne mich lange zu fragen!< Corinth sprang auf. Aus funkelnden Augen blitzten wir einander an. >Was! Hier in meinem Atelier!< schrie er >hier in meinem Atelier erlaubst du dir, so mit mir zu sprechen!< >Raus!< stammelte er, zur Tür zeigend mehr brachte er nicht hervor. Ich wankte in mein Atelier. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sank ich ermattet auf den Fußboden hin. Es dauerte einige Minuten, bis der Schwächeanfall überwunden war. Die Tube Weiß hielt ich jedoch tapfer in der Hand! Ich drückte ein wenig Farbe auf meine Palette und brachte die Tube sodann zurück. Corinth stand, als ich seinen Raum wieder betrat, am Fenster und betrachtete seine Kupferplatte; ostentativ wandte er mir den Rücken zu.«

Gelöst wird der Konflikt durch das Nachgeben der Frau:

»Gleich nach dem Essen ging ich zu Bett Schlafen konnte ich nicht. Ich hörte Corinth in sein Schlafzimmer gehen und die Verbindungstür zu dem meinigen schließen, die sonst stets offenblieb. Die Stunden krochen dahin, ich quälte mich mit mir selbst fürchterlich ab. Wie elend mir war! Längst wußte ich nicht mehr, auf wessen Seite das Recht eigentlich lag. Am Ende war das doch völlig egal. Ich ertrug diesen schrecklichen Zustand nicht länger und tastete mich im Dunkeln zur Tür. Wenn Lovis schlafen sollte, dachte ich, kuschle ich mich einfach neben ihn. Ich schlüpfte in sein Zimmer hinein und tat einen Schritt - und seine Arme umschlossen mich und zogen mich an seine Brust.«

Der Schlaganfall Corinths im Jahre 1911 verschlechterte die Arbeitsbedingungen für Charlotte Berend weiter. Corinth, der von einem Freund auf die unhaltbare Situation angesprochen wurde, sagte:

  • »Ich weiß, daß der Verzicht für sie hart ist. Es tut mir leid. Aber ich wäre ohne sie nicht durchgekommen. Und auch jetzt noch komme ich ohne sie nicht aus. Sie ist noch jung. Sie kann das nachholen. Aber mit mir ist's was anderes.«

Gerade aber in der Kunst kann man nichts nachholen. Das mußte Charlotte Berend an sich selbst und noch mehr an anderen Frauen erfahren, die sie später unterrichtete:

»Viele talentierte Frauen scheitern als Künstlerinnen an der Belastung, die eine Ehe mit sich bringt. Manch ältere Dame, die sich bei mir zum Malunterricht anmeldete, hat mir bekannt, sie habe ihre künstlerischen Ambitionen in der Zeit ihrer Ehe rigoros zurückstellen müssen. >Jetzt, da mein Mann gestorben ist und die Kinder verheiratet sind, habe ich endlich viel Zeit - nun möchte ich nachholen, was noch nachzuholen ist.< Ich glaube allerdings, daß man in der Malerei nichts nachholen kann.«

Lebensrettend für Charlotte Berend als Künstlerin ist die Selbstdisziplin gewesen, mit der sie sich immer wieder zur Arbeit gezwungen hat:

»In den Jahren, in denen ich tagsüber durch meine Hausfrauenpflichten vollauf in Anspruch genommen war, habe ich nachts noch gezeichnet, um mich in Übung zu halten. Hunderte von Selbstporträts sind so entstanden. Ich habe sie später verbrannt, weil sie mir nicht mehr gefielen - sie waren wirklich nicht gut, doch gleichwohl, der Zweck war erreicht; ich hatte das Handwerkliche nicht verlernt.«

Als es ihre häusliche Situation nicht zuließ an großen Bildern zu malen, verlegte sie sich auf Illustrationen und kleinformatige Mappen. Sobald es Corinth wieder besser ging und als die Kinder größer waren, begann sie wieder in Öl zu malen und öffentlich auszustellen. 1925 machte sie zum ersten Mal allein eine größere Studienreise nach Paris und Spanien und kehrte mit einer Fülle von Bildern zurück, mit denen sie großen, auch finanziellen Erfolg hatte.
Der Tod Corinths im Jahre 1925 setzte dieser Entwicklung in Richtung Unabhängigkeit ein jähes Ende. Das Identifikationssystem, in dem Charlotte Berend seit dem Tod des Vaters gelebt hatte, brach zusammen. Zurück blieb eine Frau, die sich selbst erst finden mußte. Die beiden Erinnerungsbücher an Lovis Corinth zeigen, wie schwer Charlotte Berend dieser Selbstfindungsprozeß fiel. Letztlich war die Liebe zur Malerei aber stärker als die Fixierung auf die Toten. Auf zahlreichen Reisen, die sie nach Corinths Tod bis in die Türkei und nach Ägypten führten sammelte sie Anregungen für die eigene Arbeit. Ihre eigene Malerei profitierte von diesem Zuwachs an Welt: Die Bilder gewinnen an Farbigkeit und Ausdrucksstärke, zugleich verändert sich der Pinselstrich, und die Experimentierfreude steigt.
Mit ihrem Entschluß, 1939 in die USA überzusiedeln, zu dem die politische Lage und ihre prekäre Situation als Jüdin sicherlich beigetragen haben, beginnt ein neues Kapitel ihrer künstlerischen Entwicklung. Bis zu ihrem Tod 1967 hat Charlotte Berend in den USA gelebt, zuerst in Kalifornien, später in New York. Für ihre Malerei war dieser Wechsel positiv, vor allem deshalb, weil ihre Arbeit in den Staaten »unvoreingenommen aufgenommen« wurde und sie nicht länger, wie sie selbst erleichtert konstatierte, mit der stereotypen Frage gequält wurde, ob sie »die Malerei Corinths fortzusetzen suche oder einen eigenen Weg zu gehen willens sei«. Ihrer Rezeption als Malerin in Europa hat die Übersiedlung in die USA zweifelsohne geschadet. Auch wenn sie nach dem Kriege immer wieder in die alte Heimat zurückkehrte, für den deutschen Kunstmarkt war sie zur Unbekannten geworden. Daran konnten auch die wenigen Ausstellungen nach dem Kriege nichts ändern. Die Entdeckung ihres Werkes, das sie in den USA schuf, steht noch aus.
Zu entdecken ist Charlotte Berend aber auch als eine Frau, die über die Situation der Frau als Künstlerin nachgedacht hat und dabei am Ende ihres Lebens zu wichtigen Einsichten gelangt ist. Auch wenn die Harmonisierungsbestrebungen und Idealisierung Corinths ihre Erinnerungen zu einer schwierigen Lektüre machen, so finden sich darin doch auch bemerkenswerte Passagen, wie zum Beispiel folgende, die wie ein Kommentar zur Beziehung Berend-Corinth klingt:

»Ich behaupte.. , daß große Leistungen von einem Mann nur ausgeführt werden, wenn eine Frau neben ihm steht, ohne sich vordrängen zu wollen, nicht einen Schritt - eher noch hinter ihm mag sie verbleiben ... Ich behaupte ferner, daß auch eine Frau mehr Leistung von Wert hervorbringen würde, wenn ein Mann so neben ihr stünde, aber - er möge mir verzeihen - dafür ist der Mann noch nicht reif! Tatsächlich, es gibt keine Frauenemanzipation - es gibt nur eine Entwicklung beim Manne, auf die zu hoffen wäre.«