Januar

1. Januar
Mit Weihnachten, meinem 31. Geburtstage, sollte dieses Buch beginnen; ich bekam es in Luzern nicht. So soll denn der erste Tag des Jahres auch den Anfang meiner Berichte an euch, meine Kinder, enthalten. [1] Ihr sollt jede Stunde meines Lebens kennen, damit ihr mich dereinst erkennen könnt, denn sterbe ich früh, so werden die anderen gar wenig über mich euch sagen können, sterbe ich alt, so werde ich wohl nur noch zu schweigen wissen. Ihr sollt mir so helfen meine Pflicht erfüllen - ja meine Kinder, meine Pflicht. Was ich damit meine, werdet ihr später erfahren. Alles will euch die Mutter von ihrem jetzigen Leben sagen, denn sie glaubt, daß sie dies kann.
Das Jahr 1868 bezeichnet den äußeren Wendepunkt meines Lebens, in diesem Jahre wurde es mir gegönnt, das zu betätigen, was seit fünf Jahren mich beseelte. Dieser Betätigung habe ich nicht nachgesucht, sie nicht herbeigeführt, das Schicksal hat sie mir auferlegt. Damit ihr mich versteht, muß ich euch bekennen, daß bis zu der Stunde, wo ich meinen wahren innersten Beruf erkannte, mein Leben ein wüster, unschöner Traum war, von welchem ich euch nichts erzählen mag, denn ich begreife ihn selbst nicht und verwerfe ihn mit der ganzen Kraft meiner jetzt geläuterten Seele. Der Anschein war und blieb ruhig, das Innere war verödet, verwüstet, als das Wesen sich mir offenbarte, welches mir rasch erhellte, daß ich noch gar nicht gelebt. Eine Wiedergeburt, eine Erlösung, ein Ersterben alles Nichtigen und Schlechten in mir ward mir meine Liebe, und ich schwor mir, sie durch den Tod, durch heiligste Entsagung oder durch gänzliche Hingebung zu besiegeln. Das Werk der Liebe, das an mir geschehen ist, werde ich durch nichts jemals entgelten können. Als die Sterne es fügten, daß Ereignisse, die ihr anderweitig erfahren werdet, den einzigen Freund, den Schutzgeist und Erretter meiner Seele, den Offenbarer alles Edlen und Wahren, einsam, verlassen, freudlos freundlos, in die Einsamkeit trieben*, (*Leserlich ausgestrichen: »sich zurückziehen mußte, da«) rief ich ihm zu: Ich komme zu dir und will mein höchstes heiligstes Glück darin finden, dir das Leben tragen [zu] helfen. Da trennte ich mich von euch, meine zwei ältesten teuren Kinder. Ich habe es getan und würde es noch jeden Augenblick tun, und doch entbehre ich euch und gedenke euer Tag und Nacht. Denn ich liebe euch alle, alle gleich, in euren Herzen suche ich das Asyl für mein irdisches Andenken, wenn ich dahin bin, und alles hätte ich euch aufgeopfert - nur das Leben des Einen nicht. - Die Trennung wird vorübergehend sein, und ihr seid noch so klein, daß ihr sie nicht so empfindet wie die Mutter. Dies meine Hoffnung. - Am frühen Morgen kam der Freund zu mir, begrüßte mich und wünschte mir ein glückliches Jahr. Ich bin immer so überwältigt von seiner Güte zu mir, bei dem steten tieferen Innewerden seiner Größe, daß ich eigentlich in seiner Gegenwart immer in Tränen zerfließen möchte. Hernach kleidete ich Loldchen und Evchen schön (weiße Atlas-Kleider und Rosen-Kränze), und nun gingen wir ihm gratulieren. Dann war das Frühstück, nach welchem er zu seiner regelmäßigen Tätigkeit ging (Reinschrift des 2ten Aktes von Siegfried und Ausarbeitung des Juden-Auf satzes). Ich nahm Evchen und Loldchen in den Garten. Vor dem Mittagessen (1 Uhr) las mir der Geliebte, was er geschrieben. Bei Tisch belehrte er mich weiter über die Tragweite des Aufsatzes und besprachen wir seine Lage, d. h. die Lage der Kunst, wie sie die Juden bestellt haben, wo zum ersten Mal mir Mendelssohn als tragische Figur erschien. Nach Tisch ging er wie gewöhnlich spazieren, nachdem er eine Depesche vom König und eine von euch empfangen. Letztere ergriff ihn wie mich, mein Herz war schwer bis zum Bersten, daß ich euch nicht da hatte, ein Blick auf ihn aber tröstete und ermutigte mich, ich blickte in eine frohe Zukunft. Dann richtete ich den Christ-Baum her, der zum zweitenmale heute angezündet wurde. Um fünf Uhr ungefähr kamen Evchen und Loldchen, wieder als Engel gekleidet, herunter und fanden die Weihnachtsspielsachen, die noch verwahrt worden waren. Richard spielte ihnen vor, sie tanzten, da dachte ich an euch, meine abwesenden Fernen, und wiederum sah ich das heitere Bild durch einen Tränenflor, doch hier auch waren diese Tränen ohne Bitterkeit. Dann ließ Richard einen Hampelmann spielen, zu Loldi's größter Freude. Während aber die Kleinen ihr Abendessen genaßen, spielte er mir aus der Walküre das Lenzes-Lied. Werdet ihr diese Töne dereinst hören, dann, Kinder, werdet ihr mich verstehen. Ich kann sie nicht hören, ohne zu vergehen. - Den Tee nehmen wir oben bei mir; ich bat den Geliebten, heute mir zu diktieren (Biographie), eines Aberglaubens wegen (es heißt, was man am ersten Tage des Jahres tut, setzt man fort). Trotzdem es ihn angriff, wollte er in seiner unsäglichen Güte zu mir es doch tun, und so entstanden zwei Seiten über Schopenhauer, die mir unschätzbar wertvoll sind. Um elf Uhr trennten wir uns, nachdem wir den Tag noch einmal gemeinschaftlich überblickten und ihn freundlich und gut fanden. Wie er sich entfernt hatte, setzte ich mich an den Schreibtisch, um zu euch zu reden. Die goldene Feder, mit welcher er Tristan und Siegfried niederschrieb, gab mir der Freund, diese weihe ich den Mitteilungen an euch. Damit sage ich euch, wie heilig mir dies Werk des mütterlichen Vertrauens und Bangens; die Feder, die das Hehrste gezeichnet, das ein höchster Geist entworfen, soll nur noch dem Tiefsten aus dem weiblichen Herzen gewidmet sein. So seid denn gesegnet, meine Kinder, ihr fernen, ihr nahen, und du auch, mein unbekanntes, das du noch in meinem Schöße ruhst. Die Liebe eurer Mutter sei euch eine freundliche Leuchte durch das Leben. Verkennt die Mutter nicht, wenn ihr auch niemals wie sie werdet handeln können, denn das Schicksal hat hier etwas gefügt, das sich nicht wiederholt. - Alles, was ich liebe, ruhet jetzt, so will auch ich schlafen gehen. Euch und ihm mein letzter freundlichster Gedanke!
2. Januar (Samstag)
Mein erster Blick wurde durch einen rosigen Himmel erfreut; der »Föhn« hatte sein glänzendstes Farbenspiel am Morgen gezaubert. Bald darauf hieß es, Evchen sei krank, sie habe eine schlechte Nacht gehabt. Betrübnis, wenn auch keine Angst, denn sie war heiter. Richard etwas leidend, doch guten Mutes. Wir besuchen das Kind, ich verweile oben, er geht zu seiner Arbeit (Juden-Aufsatz). Um elf Uhr begrüße ich ihn vor dem Spaziergang mit Loldi und kann ihm melden: Evchen sei wohl, wenn auch noch etwas angegriffen. Vor dem Mittagessen liest er mir seine Fortsetzung vor. Große Freude über deren Kürze und Inhaltsschwere. Unser Tischgespräch entspringt hieraus. Nach Tisch innige Empfindung des Glückes, uns gefunden zu haben. Später - an die Biographie anknüpfend - frag ich ihn, ob ich Schopenhauer lesen sollte; er rät mir davon ab; durch den Mann, durch den Dichter solle die Frau zu Philosophie kommen. Vollkommenes Verständnis meinerseits. Er macht seinen Spaziergang, ich schlafe ein, Musäus in die Hand nehmend.[2] Abends zu den Kindern, Eva ganz munter, eine schwere Sorge mir vom Herzen. Die Kinder zu Bett (7 Uhr), dann unser Abendbrot. Richard hat keine Neigung zu diktieren; ein Buch wollen wir vornehmen. Platon? - Noch nicht gebunden. »Wallenstein«, kürzlich eben wiedergelesen. Calderon - zu pathetisch, die Historien von Shakespeare  oder die Odyssee. Für letzteres entschieden. Herrlichster Eindruck, traulich erhabener Abend, unauslöschliche Bilder in die Seele geprägt. Sanfte Ruhe.
3ten Januar
Heller Sonntagshimmel. Eva gesund. Richard wohl nach einer guten Nacht. Hoffnung auf einen Brief von den Münchner Kindern. Erstes Gespräch beim Frühstück — Homer] Sein Einfluß auf die Kunst-und früheren Lebens-Ideale des Geliebten. Gemeinschaftlicher täglicher Besuch der Kinder. Richard an seine Arbeit, ich mit Loldi in den Garten. Die gestern im Moos gesehenen Reif-Perlen nicht wieder gefunden, doch Freude an der glänzenden farbreichen Landschaft. Friede der Seele, Friede der Natur, schöner Einklang. Um ein Uhr der Freund mit seinem Aufsatz fertig; liest mir den Schluß (Schumann). [3]Überraschend glücklich milde Stimmung dieses Schlusses. Mittag Spaziergang des Freundes und Ruhe wie gewöhnlich. Auf dem Ruhebett Rothmantel von Musäus gelesen. Abends zu den Kindern, Loldi Evchen geschlagen, doch artig und reuig, wie ich es ihr vorhalte. Heitere »gute Nacht«. Bei mir das Abendbrot; Gespräch über die Reiterlieder des 30- und des siebenjährigen Krieges; Richard singt mir zweie vor (»Der Prinz Eugen« - und die »Prager Schlacht«). Dann sagt er von Bernhard von Weimar und Gustav Adolf; Empörung seinerseits, daß man letzteren heutzutage zum Jesuiten stempeln will. Charakteristischer Zug, welchen Richard von der Schlacht bei Lützen mir hervorhebt: nach dem Tode Gustav Adolf's wurden seine Truppen nicht entmutigt, was bei dem Tode Pappenheim's seitens der Kaiserlichen geschah; Beweis, daß die Moralität bei den Protestanten war. Begeisterung Richard's für Bernhard von Weimar, man freue sich, daß ein Deutscher sich so zeige. Großartige Auffassung des ganzen germanischen Wesens. Er (Richard) erscheint mir wie der letzte Deutsche. - Krone des Abends vier Gesänge der Odyssee (Kalypso-Nausikaa-Leukothea). Einzige Zerstreuung während des Vorlesens die Betrachtung von Richard's schönem leuchtenden Antlitz und die Freude an dem Klang seiner Stimme. - Alleiniger Kummer des Tages, keinen Brief aus München erhalten zu haben (die Post war nachmittags geschlossen) und - - daß mir der Freund eine kleine Besorgung für ihn nicht anvertraut, sondern dem Dienstboten. Er weiß noch nicht, wie gern ich alles, das Geringste wie das Größte, für ihn täte. - Tränen kamen einmal mir in die Augen, als Loldi ganz unerwartet die Lieder sang, die sie von Lou-Iou und Boni gehört. Gute Nacht, meine lieben Kinder, bald habe ich euch wohl alle mit mir, wie ich euch im Herzen alle zusammen hege.
4ten Januar
Montag, der schlimme Tag von alters her. Evchen wieder krank. (Unvorsichtigkeit der Bedienung!) Großen Kummer hierüber mit einiger Ratlosigkeit verbunden, weil es nicht leicht möglich ist, eine Veränderung im Hausstand einzuführen. Geduld und doppelte Sorgfalt meinerseits erheischt. Brief Herminen's, [4]die Kinder dort sind wohl, ihr Weihnachten war munter; wehmütige Freude darüber. Den Vormittag in der Kinderstube, bis auf die Stunde, in welcher R.* (*Richard. s. Abkürzungsverzeichnis nach den Anmerkungen!) mir im Zusammenhang seinen Aufsatz liest. Durch diese Freude augenblickliches Verschwinden der besorgten Stimmung. Nachmittag bei den Kindern; wiederum viel Not, aus Versehen ist Evchen Milch gegeben worden, was ihr wieder Leibschmerzen verursacht. Sie sieht aber nicht schlecht aus und hat kein Fieber; auch ist sie heiter. Ich schreibe Hermine und Mathilde Maier, um mich nicht der Verstimmung hinzugeben. Große Sehnsucht nach Loulou, die mich vielleicht vermißt.(Gestrichen: »entbehrt«.) Die gestrigen Gesänge des Homer wieder vorgenommen; Innewerden, daß mir das Buch gar nicht lebendig werden würde, wenn es der Freund mir nicht vorlese. Die ganze Welt ist mir nur erkennbar in ihm und durch seine Vermittlung. - Die Kinder bekommen auf R.'s Wunsch eine zweite Stube, der Umzug beunruhigt mich wie jede auch kleinste äußere Veränderung. - Nach dem Tee spielt Richard das Vorspiel zu Tristan und Isolde (in den Signalen stand von der »grobsinnlichen Wirkung« desselben!); tief erschüttert davon, ja kaum meiner mächtig. Ich weiß dann nichts anderes als Elsa's Worte: »für dich möchte ich zum Tode gehen«, und diese selbst kann ich nicht aussprechen. Nachher zwei Gesänge Odyssee (Polyphem und Kirke); große Freude über er-steren; Kirke aber, die wir mit Punsch begleiteten, schlummerte uns ein. Genelli's Umrisse zu Homer gefallen mir jetzt nicht mehr, die Naivität fehlt ganz, wenn auch die Konzeption häufig großartig ist. Ganz andere Bilder entstehen uns im Gemüte, wenn wir das herrliche Gedicht lesen. Um elf Uhr geht Richard zu seiner Wohnung; ich lege mich, die Kinder segnend.
5ten Januar
(morgens) Evchen wohler, nur einmal die Nacht erwacht. Ich bin mit großer Schwermut aufgestanden; schwer ist der Traum des Lebens, meine Kinder, und wie ein Fremdling erscheine ich mir darin. Ich kämpfe gegen den Unmut. Evchen's Aussehen ist nicht gut, doch scheint die Sonne, und vieles Gute und Schöne birgt der Tag gewiß noch in seinem Schöße.- (abends) Viel half mir der Spaziergang bei hellem Sonnenschein; auf der Anhöhe entzückte mich der Kranz der schneeigen Berge, welche das Geheimnisvolle eines unbeweglichen Tanzes mir darstellten. Lange das Bild betrachtend vernahm mein Geist die Musik, welche die hohen Wesen uns in Tönen wiedergeben. - Die Vergänglichkeit alles persönlichen Daseins, die Ewigkeit des Ganzen strahlte mir vom blauen Spiegel des Sees entgegen. Tief innerlich gestärkt rief ich den Freund von der Arbeit ab, wir wanderten zusammen zu der Anhöhe; wie ein Nebelbild erschien der herrliche Pilatus; oben bei den Kindern fand sich wieder ein Versäumnis in der Diät; ich hatte großen Kummer davon; nicht aus Befürchtung der Folgen, sondern wegen der Gleichgültigkeit der Leute. Die bewältigte Schwermut kam wieder und behauptete sich siegend den ganzen Tag. Von der Stadt brachte Richard Spielzeug für die Kinder (den Nußknacker), welches ihnen große Freude machte. Dann auch ein Brief, welcher ihm meldet, die Übersetzung des Rossini-Aufsatzes sei nicht anzubringen gewesen.[5] Dieser Brief ließ mich einen neuen Blick in die Pariser Zustände werfen. Es leuchtete uns sehr ein, wie fremd wir diesem Tun und Treiben sind, und wie wir eigentlich gar nicht mehr wissen, wie es in der Welt steht, und wie jetzt das Diapason normal dort ist. - Die Kinder zu Bett gebracht, Evchen munter, wenn auch das Übel nicht ganz gehoben. Drei Gesänge aus der Odyssee zum Schlüsse des Abends. Wie im Traumbild - so lebendig und verklärt - erscheinen mir die herrlichen Begebenheiten, wenn der Freund zu mir sagt; lese ich sie selbst, ist es wie etwas Wirkliches; so ist es erlebt zugleich und entrückt. Seine Stimme und seine Weise umgeben das ewige Werk wie Musik. »Es gibt ein Glück - allein wir kennen es nicht; wir kennen es wohl und wissen es nicht zu schätzen«, - sagt die Prinzessin, ich kenne es und weiß es zu schätzen. Alles Leiden und aller Jammer dieser Welt können dem im Herzen tief verborgenen Glücke, wie der Perle in der Muschel, nichts anhaben, und in den schwersten Stunden habe ich die wonnige Perle in der Seele gewußt. - Ruhet sanft, meine Kinder, wie gern sähe euch die Mutter vereint!
6ten Januar
Evchen noch etwas angegriffen. Den Vormittag den Kindern gewidmet. Beide lieb und heiter. Richard besorgt seine Abschrift. Beunruhigter Nachmittag durch einen Besuch der Bedienung Bassenheim's [bei] unsrer Bedienung.[6] Da erstere im Zusammenhang mit München steht und ich von dort nur Übles zu erwarten habe, glaube ich, daß schadensüchtige Neugierde sie im schlimmsten Wetter hierhergetrieben hat, um für dortige Leute zu erkunden, ob ich und die Kinder hier sind. Meine Vorstellungen machen Richard unmutig, weil er nicht helfen kann, doch bald ist er wieder munter, und ich beruhige mich durch den Gedanken, daß ich mit der Verheimlichung meines Aufenthaltes vor der Welt nichts Übles und nur Rücksicht gegen andere im Sinne gehabt habe. Und sollten die Prüfungen, die ich erwarte, hiermit und in dieser Weise beginnen, in Gottes Namen, euch, meine Kinder, sage ich, wie alles kam und ward und wie ich es trage. Abends bei den Kindern; beide lustig. Der Himmel gebe Eva eine gute Nacht. - Abends zwei Gesänge der Odyssee (Odysseus und der Sauhirt. Heimkehr Telemach's); ersterer herrlich in jeder Einzelheit, zweiter etwas ermüdend. Richard ist mit der Abschrift seines Aufsatzes fertig und ist damit zufrieden. Heute dachte ich mich unerkannt in der Kinderstube in München, unerkannt aber wollte ich nicht weilen, und erkannt konnte ich nicht gehen. So ist denn alles gut wie es ist, geben die Götter uns eine freundliche Lenkung.
7ten Januar
Der Beginn des Tages war gut, Evchen hatte ruhig die Nacht geschlafen, und Richard erzählte mir von einem freundlichen Traum, den er gehabt und worin wir beide traulich zusammen sprachen und wandelten. Wenn uns auch das Schicksal gleichsam über alle Erscheinungen dieser Art, wie Ahnungen, Visionen, Träume, hinweggeschleudert hat, daß wir kaum mehr auf sie achten können, so bleibt ein liebliches Bild doch von großem Wert; wie ein Gruß der freundlichen Götter, denen wir nicht mehr angehören, erscheint es, und ich bin dankbar dafür wie für ein eingetretenes Glück. - Leider verschwand dieser Sonnenstrahl gar bald. Richard brachte zwei Nummern der Süddeutschen Presse herauf, welche ihm von unbekannter frecher Hand zugeschickt worden waren; sie enthielten einen längeren Aufsatz von Fröbel über »Oper und Drama«. [7]Ich kann den Ekel gar nicht beschreiben, der mich bei der Durchlesung erfüllte. Gott erspare euch, meine Kinder, es jemals zu erfahren, was ihr liebt, ehrt und glaubt, in Schmutz getreten zu sehen. Hier ist von keinem Kampfe die Rede, wo man mutig dem Gegner sich stellt, selbst nicht von einem Märtyrertum, das freudig erlitten wird, um Zeugnis abzulegen. Hier ist nur Besudelung, gegen die nicht zu streiten ist und deren Duldung von keinem Erfolg für die Sache ist! - Meine tiefe Mißstimmung sah Richard, er las den Aufsatz, zuerst trug er es ruhig, da es ihm einen Zusatz zu seinem »Judentum] in der Musik« eingab. Bei Tisch aber versuchten wir vergebens die Trauer zu verscheuchen, die sich unser bemächtigt hatte, alle die Erfahrungen erschienen vor uns wie die Geister in den Shakespeare'schen Stücken, und daß jedes Wort nur Schmutz hervorrief oder auf apathische Nicht-Beachtung geriet, erwägten wir trüb. Der ganze Tag blieb bedrückt. Von der Stadt brachte man meinem Freund den erwarteten Brief von Boni! Auch zwei freundliche Grüße aus der Ferne (M. Muchanoff und Elisabeth Krockow), nun weiß ich nicht recht, was ich mit den Freundschaften machen soll. Mir folgt doch keiner, wenn er weiß, wo ich anlange, und nur von euch will ich noch geliebt und erkannt sein. - Die Kinder gesund; Loldi spricht vom Reineke-Fisch. Abends die Odyssee; das Herrlichste daraus der Hund Argos; das tiefe Geheimnis der Natur wie nahe gerückt und etwas gelüftet. Der kranke Hund ist der einzige, welcher Odysseus durch die Verwandlung und Verkleidung erkennt - und stirbt, nach zwanzigjähriger Erwartung!    
8ten Januar
Liebe Loulou und liebe Boni, heute ist eures Vaters Geburtstag; [8]ich wünsche, daß er denselben in friedlicher versöhnter Stimmung begehe, kann ich auch nichts dazu beitragen. Es war ein großes Mißverständnis, das uns ehelich verband; das Gefühl, das ich für ihn damals vor 12 Jahren empfand, ich empfinde es noch, große Teilnahme für sein Schicksal, Freude an seinen Geistes- und Herzensgaben, wirkliche Achtung für seinen Charakter, bei vollständigstem Auseinandergehen der Anlagen. Gleich im ersten Jahre meiner Ehe war ich so verzweifelt über diese Konfusion, daß ich sterben wollte; viele Irrtümer entstanden aus meiner Not, doch ermannte ich mich stets wieder, und euer Vater hat nichts geahnt von meinem Leiden und wird mir, so glaube ich, das Zeugnis nicht versagen, daß ich ihm in Leid und Freud beigestanden und daß ich ihm nach Kräften geholfen habe. Niemals würde er mich verloren haben, wenn das Schicksal mir nicht denjenigen zugeführt hätte, für welchen zu leben und zu sterben ich als meinen Beruf erkennen mußte. Nicht einen Vorwurf habe ich eurem Vater zu machen, wenn auch die letzten Jahre mir schwer wurden über alle Maßen. Ich habe es versuchen wollen, meine bisherige Existenz mit meinem neuen Leben zu verbinden, ich habe an die Möglichkeit geglaubt einer Verschmelzung der verschiedenartigen Gefühle - Schmähungen und Kränkungen haben mir bewiesen, daß ich Törin sei, und mir blieb nur die Wahl, die keine Wahl war. So entbehre ich euch jetzt, meine Kinder, und trage viele Sorge, doch es hilft ein Gott. - Am Morgen schrieb ich an Boni und an Marie Muchanoff. Ich schleppte mich den Tag ziemlich elend hin, denn das Wetter ist ungünstig. Mit Richard gedachten wir des vorigen Jahres, wo wir alle zusammen Hans feierten und noch viele Hoffnungen hegten und vielen guten Willen hatten. Nachmittags kam die italienische Partitur von Rienzi an und die »Cinque Canti« (die nun weniger Freude machten). Zu den Kindern dann, bis sie zur Ruhe kommen. Nach einem Gespräch über das Tischrük-ken, worüber wir nicht einerlei Ansicht sind (Richard glaubt an die Wirkung eines mechanischen Gesetzes, und ich an Betrügerei), nahmen wir drei Gesänge von der Odyssee vor, allein ich bin so matt, daß ich kaum zuhören kann und viel von dem Vorgetragenen verliere. Heute empfand ich in meinem Schöße die erste Regung des unbekannten Wesens.
9ten Januar
Üble Nacht; heftige Kopfschmerzen mit Cauchemars [9]verbunden, Sorge um die Kinder, traurige Gedanken über die Mutter und Vater, schmerzlichen Blick in die Vergangenheit geworfen, und ängstliche Vorstellung über die Zukunft der Kinder. Der Zustand wächst bis zu lodernder Angst: »Ach! hätte ich nur eine Schwester«, rief ich in der stummen Dunkelheit aus. O meine Kinder, haltet den Seelenreigen fest geschlossen; nur wenn an einer selben Wurzel Freud und Leid gesogen worden ist, entsteht Vertrauen und Liebe; die Freundschaften, welche das Leben in seinem weiteren Laufe mitbringt, sind alle beleidigenden Zweifeln und Mißverständnissen unterworfen. Der unerschütterliche erkenntnisreiche Glauben weilt nur in der Schwesterliebe. - Nach wenigem Schlaf stand ich auf. Die Magd besucht ihre Eltern auf zwei Tage, so lebe ich denn jetzt ganz in der Kinderstube. Die Kinder sind artig und gut, ich kann bei ihnen schreiben und lesen; auch Eva ist wieder gesund. Zu Mittag besprach Richard mit mir die Opportunität der augenblicklichen Publikation des Juden-Aufsatzes, ich sagte ihm, ich sei unfähig, das mindeste ihm hierüber sagen zu können, denn wenn man mir sagte: Es bringt ihm die größten Widerwärtigkeiten ein, oder es wird gänzlich ignoriert, oder es macht eine gute Wirkung, ich würde alles glauben. - In Bezug auf den Aufsatz von Fröbel sagt mir Richard, es käme ihm vor, wie wenn er in freundlicher Absicht an ein Haus geklopft hätte, worin alles todesstumm gewesen und einzig ein Schwein ihm entgegengegrunzt hätte. Ich fühle mich sehr unwohl, heftige Kopfschmerzen, doch hilft mir ein Spaziergang bei frischem Wetter. Schluß der Odyssee.
10ten Januar
Kleiner Kummer, daß die Feder, die ich von New York für R. habe kommen lassen, nicht gut schreibt. Ich notiere das, weil es mich nachts betrübte und mir der Gedanke kam, daß mein früheres Glück in kleinen wie in großen Dingen mich verlassen habe. Schlaflose Nacht mit vieler Sorge um die Zukunft der Kinder. Schwermütige Gedanken über meine eigene Erziehung, Befürchtung, meine Kinder nicht nach meinen Gedanken erziehen zu können. Richard auch nicht ganz wohl, doch heiter. Mit den beiden Kindern spazieren gegangen, beide wohl. Mit ihnen dann gespeist. Hernach mit Richard zu Tisch, Ankunft der Fortsetzung des Fröbel'schen Aufsatzes über »Oper und Drama«, R. verbrennt ihn zwar, bevor wir ihn gelesen, doch verstimmt der bloße Gedanke an die Nichtswürdigkeit der Menschen. Das Schweigen des Königs ist auch merkwürdig und unschön. Große Niedergeschlagenheit R.'s in Bezug auf seine Arbeiten, am liebsten gäbe er die musikalische Vollendung der Nibelungen auf. Mein Entgegenreden facht nur die Mißstimmung an. Traurig leg ich mich hin, R. geht zur Stadt. Dann bei den Kindern. Abends zu meiner großen Freude Wiederaufnahme der Diktate. Beim Schlafengehen sage ich zu R.: »Wenn ich dir nur viele Freude machen könnte.« Mich hat große Wehmut bei seiner Stimmung am Tage gefaßt, in welcher er alle seine Verhältnisse durchging und nicht eines ernst und tief fand. Am schlimmsten die Erfahrung mit dem König. Wir sprachen von der Möglichkeit des künftigen Lebens in der Mansarde in Paris. Eine Stube und zwei Kammern für uns und die Kinder. Gott weiß, was das Schicksal uns bestimmt.
11ten Januar
Eva wieder unwohl; Unwillen meinerseits über das Hineinreden des ganzen Hauses; ich begehe das Unrecht, R. diesen Unwillen zu zeigen. Die wiederholte Schlaflosigkeit mag dieses Unrecht entschuldigen. Er hat den Judenaufsatz abgeschickt, was mich mit Bangigkeit erfüllt, was ich aber doch nicht verhindern wollte. Viele Gedanken an Boni und Loulou. Spaziergang mit den beiden Kindern. Richard an seine Arbeit (die Meistersinger kommen endlich in Karlsruhe und Dresden zur Aufführung).[10] Er erzählt mir nach Tisch, daß er in Schrecken geraten sei, weil er mich nicht habe heimkehren gehört - und zitiert Calderon: Das schrecklichste sei: glückliche Liebe, weil dann alles zu befürchten. Bei Tisch sagt er: Der Fluch seines Lebens sei Armut und Ehe. Nach Tisch fühle ich mich wieder sehr leidend und lege mich hin. Richard beendigt eine Partitur-Seite; ich freue mich über seine Stimmung und sein Aussehen. Nur wenn er fort ist überfallen mich Angst und Sorge, man wird uns keine Ruhe gönnen, ich sehe uns im Elend und bösem Hohn preisgegeben. Sobald er aber wieder da ist, schwinden die üblen Gedanken. Es ist mir ein förmlicher Schmerz, nur einen Augenblick mich von ihm zu trennen. Von den Kindern keinen Brief. Hans schweigt, der Vater muß jetzt in Deutschland sein; wie fremd ist mir alles geworden, was mit dieser Welt zusammenhängt! Auch weiß ich, daß keiner mich darin geliebt hat. - Eva wohler, doch leidend aussehend. Guten Abend mein Lusch, guten Abend meine Boni, ihr fehlet mir auch im höchsten Glück. Niemals könnte ich euch ganz entbehren. -
12ten Januar
Die schlaflose Nacht wurde mir durch den Anblick des sternenleuchtenden Himmels besänftigt. Beim Morgengrauen schlief ich ein und wachte dann auf. Richard ist wohl - wir hatten gestern abend eine kleine Mißstimmung, weil er aus Sorge für mein Befinden mir nicht diktieren wollte und ich dringend darum bat. Doch ergab ich mich, als ich seine große Abneigung und seine Angst bemerkte, und der erste Gesang der Ilias beschloß den gestrigen Abend. Nach einer solchen wenn auch durchaus geringfügigen Verstimmung ist es ein wahres Glück, freudig sich wieder in's Auge zu blicken. Eva immer etwas leidend aussehend, ich bin den ganzen Vormittag bei den Kindern. Loldi spricht viel von Loulou, das macht mich froh und traurig zugleich. Sie entsinnt sich der Einzelheiten der Münchner Kinderstube, und Eva ruft Loulou, Loulou, als ob sie einem Traume nachhing. Bei Tisch erzählt mir Richard, er habe viel über seine Nibelungen gedacht, und es sei ihm darüber sehr der Kamm geschwollen, fügt er scherzhaft hinzu. Mich beglückt es, daß er ohne Widerwillen an sein göttliches Werk denkt. Sonst bildet noch immer die Odyssee das Hauptthema unserer Gespräche, auch die Beethoven'schen Symphonien, [11]gestern war es die A dur {mit Bezugnahme auf das Trio des Presto, aus welchem die deutschen Dirigenten einen »Großvater-Tanz« machen, während das Tempo ganz unmerklich langsamer sein soll und die Vortragsweise den großen Unterschied bezeichnen soll), heute die F dur (im ersten Satz nicht eine Wiederholung, und doch schiene sich alles gleich). Schon öfters hat mich Richard darauf aufmerksam gemacht, mit welch richtigem Instinkt Beethoven es in den Symphonien (mit Ausnahme der 9ten, wo er dann auch zur Versöhnung zum Worte greift) vermieden hat, die Regionen zu berühren, in welche er sich in der intimen Form des Quartetts und der Sonate ergeht. Er wußte gleichsam, daß er zum Volke spricht und daß hier gewisse Akzente, wenn sie nicht vom Worte begleitet und besänftigt werden, unstatthaft sind. - Nach Tisch kleiner Schlaf und einsamer Spaziergang im Garten. Die Kälte ist eingetreten, Reif bedeckt Wiese und Bäume. In dieser einsamen Stunde einzig an euch gedacht, meine Kinder. Mit Bangigkeit sah ich in die Zukunft: Sollte es wirklich mir beschieden sein, daß ihr von mir getrennt würdet und daß eure Mutter euch unbegreiflich dünken sollte, dann sei mir der Himmel gnädig und sende mir den Tod. Eigensinnig habe ich nicht dem Glücke nachgejagt, ich habe getan, wie ich nicht anders konnte, und meine einzige aber auch innigste Erhebung ist, daß ich geholfen habe und helfe nach meinen Kräften. Bewahrt die Lehre, meine Kinder, der einzige Frieden wird euch aus einer gänzlichen Hingebung entströmen; die Leiden, welche aus dieser Quelle fließen, sind wohl unaufhörlich auch, doch sanft. Vom Garten zu den Kindern. Dort traf mich Richard; er kam heiter, ja ausgelassen herein; das lange Nachsinnen hatte mich ermüdet, auch hatte ich erwartet, daß er einen Brief aus München mir brächte, und da es nicht der Fall war, wurde mir traurig zu Mute. Doch überwand ich [es] bald. Abends Diktat; R. geht mit großer Abneigung daran, doch erinnert er sich bald. Gegen elf Uhr trennen wir uns, nachdem wir vier Seiten zu Stande gebracht haben. - Loldi sagte heute: »Lulu geht in Schule und noch was?« Ich verstand es erst nicht, sie quälte mich aber, bis ich ihr gesagt: »In's Institut«. »Ja! insTitut.« -Da er die Lage der Welt bespricht und von einem möglichen großen diesjährigen Durcheinander spricht, sagt Richard: »Selbst wenn man mit dem schwärzesten Pessimismus die Dinge erwartet, ist man zu optimistisch, denn die entstehen immer so halb und mit lauter derartigen Kompromissen, daß nur das Niederträchtige dabei gewinnt. Der einzige Trost ist, daß das Nichtswürdige auch nichts zu gründen vermag.« Er fügte hinzu, daß er zweimal in seinem Leben sich wohl und würdig gefühlt habe: damals im Beginn seines Exils, wo er, losgelöst von allem, garnichts hatte noch wollte; und in Wien nach der Pariser Tannhäuser-Katastrophe, wo er Haus und Hof aufgegeben hatte und keinem Menschen etwas verdankte.
13ter Januar
Von Blandine geträumt, meiner Schwester. Als ich aufwachte, suchte ich sie: »Ach! sie ist ja tot.« Richard wohl, die Kinder munter, das Wetter aber trübe. Bevor ich im Garten mit den Kindern gehe, sage ich R. adieu; dieser sagt mir, daß schwere Wolken seinen Geist umhüllten; »das, was man nicht ausspricht«. Ach! wie verstehe ich ihn! Doch hatte am Morgen - da er mich mit »Freude schöner Götterfunken« auf dem Klavier weckte - ich gehofft, seine Stimmung würde heiter bleiben. Als ich heim komme und ihn wieder begrüße, sagt er mir: »Arme Frau! Du hast nur mich!« »Da bin ich nicht arm«, meine ich. Er arbeitet aber fleißig an seiner Partitur. Bei Tisch kam das Gespräch auf Lola Montez; [12]ihr elendes Ende berichtend, sage ich: »Das arme Geschöpf!« Das verweist mir Richard streng und sagt, solche dämonische, herzlose Wesen seien nie zu beklagen, sein Bedauern habe man für andre aufzubewahren. Er hat gewiß recht, doch scheint mir das Schlechte immer bejammernswert und ein schlimmes Ende das allerbemitleidenswürdigste. - Wir freuen uns der Bücher, die er gekauft (einen neuen Lessing und die Sim-rock'schen Volksbücher). Letztere namentlich erfreuen mich. Bei den Kindern abends liest er mir zwei Briefe aus Paris; die Rienzi-Angelegenheit wird dort elend betrieben. Ich hoffe noch immer, daß es zu keiner Aufführung kommt. Das Vorspiel zum dritten Akt des Lohengrin mit dem Brautlied soll einen großartigen Erfolg gehabt haben. - Von den Kindern in München aber keine Nachrichten. Ich bin nicht in Sorge, nur aber betrübt. In Sorge bin ich für die Zukunft, deshalb sind meine Nächte immer schlimm und unruhig. - Abends sprach R. sich wieder trübe aus; er glaubt, daß nach seinem Tode sie seine Werke gänzlich sekretieren werden und er nur wie ein Phantom im Gedächtnisse der Menschheit leben wird. So schlimm es auch mit der Öffentlichkeit aussieht, mit den Theatern und mit der Presse, ich kann es doch nicht glauben, daß er so verschwinden wird. Er behauptet, daß kein Mensch seine Partituren studiere, das scheint mir, bei aller Stumpfheit und Gleichgültigkeit, doch nicht möglich. Abends diktierte er mir noch, und sehr heiter schloß der Abend mit den Erinnerungen an seinen zweiten Londoner Aufenthalt. Die schlafenden Kinder besuchte ich noch einmal.
14ter Januar
Unruhige Nacht, doch guter Morgen. Richard weckt mich mit Lohengrin's »Schlachtlied«.[13] Dann aber erzählt er, ein Rothühnchen habe sich zu Tode an die Wände des Vogelhauses vor Scheu gerannt. Erst [vor] ein paar Wochen hat er die Tierchen gekauft; nun hat sich das eine zu Tode gehärmt und hat nichts essen wollen, ist ganz abgemagert. Wie traurig doch! Kos ist auch immer krank und wird trotz aller Pflege gar nicht besser. - Nachdem ich die Kinder in [den] Garten geführt, gehe ich noch ein wenig allein, in Gedanken an die Kleinen in München. Unwillkürlich fleht in der Angst das unruhige Gemüt die unbewegliche Umgebung um Schutz und Hilfe. Starr und schweigsam bleibt sie, allein im Innersten erschallt es: »Finde dich zurecht mit deinem Herzen und deinem Schicksal, regiere das erstere und ertrage letzteres. Am Ende ist dir doch nicht mehr beschieden, als du tragen kannst.« Friedlich kehrte ich heim. Bei Tisch besprechen wir mit R. noch einmal die schauderhafte Episode mit Fröbel; daß er diesen Menschen nach München hinzog und mit diesem sein Werk begründen wollte, der jetzt vor Wut schnaubt! Zum Schluß erzählt R.: Hebbel habe ihm einst von Nestroy gesagt: »Es ist ein so gemeiner Mensch, daß, wenn er eine Rose beriecht, so muß dieselbe stinken.« So, meint Richard, käme ihm jetzt seine Theorie der Liebe unter Fröbel's Feder [vor], ungefähr wie die Rose unter Nestroy's Nase. - Ein Brief seiner Nichte Ottilie aus Dresden ladet Richard zu der dortigen ersten Aufführung der Meistersinger. R. schwankt, ob er hingeht; gern möchte er einer zu schlechten Aufführung entgegentreten, doch graut ihm vor dem, was er dort erfahren wird. Er geht zur Stadt und bringt einen guten Brief von Mailand (seinem Verleger), aber nichts von meinen Kindern. Viel Kummer, doch bewältige ich ihn nach Kräften. Richard ist gedrückter Stimmung; das allgemeine Schweigen in München drückt ihn übel. Am 7ten hat der Vater Rom verlassen; R. meint, daß nach allen Seiten hin uns Übles gebraut wird. Die Biographie heitert uns auf. Gute Nacht, meine Kinder, Mamas Herz ist in Sorge um euch.
15ten Januar
Kurzer Nachtschlaf; langes ruhiges Wachen im Dunklen. An die Kinder gedacht; ob sie mich entbehren? Für Hans - vielleicht gar zu sehr - ohne Sorge; seine künstlerische Tätigkeit ist ihm ein Quell der Freude, meine seit dem Mißlingen unserer großen Unternehmung [14] betrübte Teilnahmslosigkeit störte das Fließen dieses Quelles. Wie anders dagegen R., wie einzig hat er nur mich, um ihn zu verstehen und seine Absonderung von der Welt zu teilen. Ich kann nicht glauben, daß ich diese meine Hingebung zu ihm mit der Entfremdung meiner älteren Kinder werde bezahlen müssen. Richard sieht nicht wohl aus; ist es die innere Besorgnis oder das trübe Wetter, das so auf ihn lastet? Stumm bleibt um uns die Welt. Er fragt mich, ob ich besorgt um die Kinder sei, und glaubt, daß der Vater einen üblen Einfluß ausgeübt hat. Ich glaube es leider auch. Loldi und Eva aber sind wohl; letztere sehr wild. - Mit »Eine feste Burg ist unser Gott« weckte mich R. heute. Dann sagte er, es würde bestimmt dieses Jahr zum Kriege kommen. Wie lange wird uns die Tribschner Ruhe noch beschieden sein? - Etwas in Schiller's Briefen gelesen, während die Kinder spazieren gehen. Vor Ermattung eingeschlafen. R. arbeitet an seiner Partitur. Loldi sehr gut, Eva so heftig, daß sie mich schlägt. Einsamer Spaziergang nach Tisch; ein Nebel- und Sonnenspiel läßt die gegenüber liegenden Ufer wie ein Traumbild erscheinen, die Bäume, von Reif bedeckt, begrüßen mich wie freundlich sanfte Geister; der »Pilatus«, mit einem goldenen Wolken-Schein umgeben, ist wie der erhabene König dieser Traumwelt. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«, ertönt in mir, als ich auf der Höhe angelangt bin und um mich blicke. Kein Glück auf Erden, doch in unserem Herzen das Unvergängliche, das, was bei jedem erhabenen Klang, bei jedem tiefen Gedicht, bei jedem schönen Bild der Kunst oder der Natur, bei jeder großen Herzenstat in uns ertönt. - R. brachte wieder keinen Brief; wirklicher Schmerz; ich weiß, daß ich meinen Kindern unauslöschliche ewige Lehren geben könnte. Wird mir dies versagt sein? Wann wird die Wendung meines Schicksals eintreten, daß ich den Kindern und ihm leben kann. - Loldchen und Evchen gesund und artig. Abends Diktat, die Rückkunft nach Zürich und das arbeitsame Jahr 1856. - >Daß er mich über alles auf dieser Welt liebt<, sagte mir R. abends, und dieses Wort beglückte mich grenzenlos - wenn ich es auch im Tiefsten wohl weiß, ohne daß er mir es sagt. -
16ten Januar
Heute vor zwei Monaten nahm ich Abschied von euch, Kinder - mein Herz ist schwer, denke ich daran, und ich bin ohne Nachrichten! Um ein wenig zu schlafen, hatte ich gestern spät noch einen warmen Trank zu mir genommen; auch schlief ich gleich ein, doch bald wachte ich wieder auf und gedachte euer. Nichts auf der Welt will ich und wünsche ich, als dem Geliebten zu helfen, ihm einige ruhige Lebensjahre geben und euch erziehen zu dürfen. Alles, alles will ich freudig entbehren, jeden Zusammenhang mit der Welt, alle Musik; ertragen jeden Hohn, nur dies sei mir vergönnt. Mit dem Meistersinger-Thema wünschte mir R. guten Morgen. Er ist wohl und hat einen beruhigenden Brief aus Dresden (Mitterwurzer), [15]er ist froh, daß er nicht hinzugehen braucht. Die Zeitungen melden vom König, daß er viel empfängt; lächelnd bemerken wir, daß er endlich das tut, worum wir ihn vergebens lange gebeten haben! - Es ist mir bang um München, alles so stumm; selbst der Maler Lenbach, der mir gut und treu gesinnt war und mir schreiben wollte, ist still. Bei den Kindern bleibe ich und schreibe an Ciaire, damit sie mir Nachrichten von Loulou und Boni verschaffe. R. schreibt Briefe und lehnt die Einladung nach Dresden ab. Er ist aber nicht wohl, ich will es gern auf das üble Wetter schieben und den trüben Himmel, allein es beunruhigt mich. Wir kommen auf Schopenhauer zu sprechen, und er erzählt mir, dieser habe Karl Ritter gesagt: »Ich admiriere* (* Zeichen im Text, am Rande die folgende Eintragung: »Schopenhauer sagte: Ich admiriere, wie Wagner in seinen Nibelungen die dunklen sagenhaften Gestalten uns menschlich nahegerückt hat. Dann: Er ist ein Dichter aber kein Musiker.«) Wagner als Dichter; nur ist er kein Musiker.« Der altmodische Ausdruck macht Richard Spaß, und er meint, es sei jedenfalls besser, als wie wenn er ihn als Musiker und nicht als Dichter hätte gelten lassen. Nach Tisch kommt der kleine Buddha (ein früheres Geschenk der Mutter an Wagner) und die Briefe an seine Frau an. Viele gute Laune über die Ankunft. Richard meint, ich habe Sinn in sein Leben gebracht und habe ihm Freude an wohlgeordnetem Zustande erweckt. Wie freut er mich durch solch ein Wort! Er spielt Klavier, die Kinder kommen herunter und tanzen mit mir. Dann hat er wieder Rienzi-Not (die französische). Er geht spazieren, und ich bleibe mit Schiller. Viel Freude und Erhebung an einigen Gedichten (»Worte des Wahns« und »Das Glück«). Kein Brief von den Kindern. Richard und ich darüber trübgemut. Ruhiger Abend, doch kein Diktat.
17ter Januar
(morgens) Etwas geschlafen, doch sehr frisch aufgewacht! Immer wieder die Möglichkeit der baldigen Vereinigung mit den Kindern überdacht. Große Schwäche und inneren Kummer; beides, der Kleinen und R.'s wegen, bekämpft. Abends - Der Kopf ist mir schwer. Wie gerne schriebe ich euch heiter, daß ihr mit Lächeln manche der Blätter durchleset, doch die Heiterkeit kann ich nur betätigen, ich habe sie im Umgang mit Loldchen und Evchen und werde sie mit euch haben, wenn ihr da sein werdet. Das sinnende Niederschreiben aber beschwört den ganzen Ernst des Lebens herauf. Auch bin ich immer ohne Brief, ohne Nachrichten von euch. Ich kann auf euer Bildchen sehen, das auf dem Schreibtisch vor mir steht. Meine gute Lulu, der Himmel segnet dich! Heute abend tat mir Richard weh - er, der sonst nur Balsam auf die Seele mir legt! - er meinte bei der Biographie, die ich innig bat fortzuführen: >Dies unschuldige Leben könne doch keinen Reiz für mich haben.< Warum er dies gesagt? Ich weiß es nicht, denn er denkt es gewiß nicht. Einsam für mich habe ich heute unaufhaltsam geweint, wenn ich auch durch Beschäftigung mit den Kleinen und anhaltendes Lesen mich habe bezwingen wollen. Allein ich bin schwach. Zuweilen ist es mir, als ob mir der Tod nicht ferne sein könnte, doch verscheuche ich den Gedanken, denn ihm und euch will ich noch leben. Dein treuherziger guter Blick strahlt zu mir her; du bist doch nicht krank, mein Luschchen? Bei Tisch sprachen wir wiederum viel vom Drama, R. erklärte mir verschiedene Versarten, namentlich in Bezug auf Schiller, dessen »Wallenstein« ich heute wieder gelesen. Er meinte auch, »Wallenstein's Lager« und »Die Piccolomini« wären in drei große Akte einzuteilen, wobei das Lager mit der Ankunft der Fürstin, des Max und Thekia, begleitet von den Dragonern (mit marschartiger Musik) am Schluß den ersten Akt bilden würde. Und das Bankett bei Terzky mit dem Gespräch von Vater und Sohn am Schlüsse desselben das ganze Stück beenden. - Richard ist so besorgt um mich, daß ich nicht weiß, wie ich es anfangen soll, um ihn zu beruhigen. Ist es doch meine Pflicht, ihn zu erheitern. Gute Nacht, meine Kinder, jetzt ist bald Mitternacht, die heilige Stunde. Alle guten Geister mögen euch beschützen und beistehen. Daniel [16]und Blandine, seid mir gegrüßt und segnet meine Kinder.
18ten Januar
Bessere Nacht, die ich wohl dem Übermaß von Sorgen verdanke; der Moment tritt ein, wo das Gehirn die Gedanken nicht mehr tragen kann und der Ruhe verfällt. Am Morgen »Wallenstein« beendigt. Wie könnte jemals der Dichter hoch genug gepriesen werden, der uns uns selbst entreißt? Besonders wohltätig ist mir von je gerade dieses Werk gewesen, in welchem ein großes Herz das kleine Treiben der Welt in den größten Dimensionen zeigt und uns durch den Stoff unterhält und durch seine eigenen Gefühle erhebt! - Gewaltiger, dämonischer, erschütternder sind die Dichtungen Shakespeare's, Goethe's Gebilde zarter vielleicht, intimer, subtiler, Calderon's Phantasien sonderbarer, leidenschaftlicher und melancholischer, Schiller's Schöpfungen bleiben für mich die wohltätigsten. Es ist mir, als ob er recht die Weise getroffen hätte, in welcher der Menschheit ihr Bild zu zeigen ist, um ihr aufzuhelfen. Er ist ein Wohltäter der Menschheit, und sein Genie hat nicht minder großen Flug, weil er gewisse Regionen vermeidet. - In den Worten Gordons:[17] Das Unglück hat die Hoffnung, das Glück die Furcht zur Begleiterin, liegt für mich das Rätsel des Lebens, so ist es hienieden, meine Kinder, so wissen es die Dichter, und so erfahren wir es. - Viele Zeitungen waren heute da, manche Nachricht vom musikalischen Reich. Es sieht da bunt und wirr aus. Gegen Mittag kam Richard sehr trüb zu mir herauf; er ist mißgestimmt gegen die Vollendung seiner Arbeit. Er habe sie früher begonnen, als das Leben ein phantastisches Bild ihm gewesen sei, jetzt, wo es durch mich und die Kinder einen Boden erhalten hätte, wüßte er besser seine Kräfte zu nutzen als Partituren zu schreiben, die nie aufgeführt werden würden und für keinen Menschen da seien. Als ich ihm zur Antwort gab, daß die Zeiten sich ändern würden, antwortete er mir: »Im allerbesten Fall werden sie furchtbar, im allerbesten Fall kommt eine Puritaner-Zeit und meine Kunst hat da nichts zu sagen. Und tausend Mal besser doch so eine Zeit als der jetzige Zustand.« Mir ist diese Erklärung furchtbar; es ist mir, als ob der Segen unsrem Bund fehlen wird, wenn die Nibelungen unvollendet bleiben. Daß R.'s Gesundheitszustand ebensowohl als der Blick in die äußere Welt die Verstimmung gegen seinen eigentlichsten Beruf eingibt, ist kein Trost für den Schmerz, den ich darüber empfinde; noch hoffe ich aber, denn sein Gott, der, welcher ihm im Busen wohnt, wird ihn nicht verlassen. Die Kinder spielen bei mir und halten mich ab von unseligem Grübeln. Nach Tisch R. in die Stadt, ich im Garten; »Wallenstein« beschäftigt mich noch, vor allem ist mir bei der erneuten Lektüre desselben aufgefallen, daß man förmlich froh ist, wenn man den Held wirklich leidend sieht (Maxen's Tod, Buttler's Verrat), und so sehr man Teil an dem Schicksal nimmt, für nichts auf der Welt möchte man ihn retten, denn sein Untergang und der Verrat bilden seine einzige Größe; ganz anders als wie Götz und Egmont, für die man empfindet wie Georg und wie Klärchen. Sehr charakteristisch hat Schiller dem ehrgeizig klug berechnenden, doch abenteuerlich chimärischen Menschen nicht eine Seele treu bis zum Tode gegeben, außer der Schwester, die aber nicht mit ihm stirbt, sondern mit ihm fällt. Wunderbar ist die Abwesenheit des Pathos in W. 's letztem Auftreten. Es ist, als ob - den Tod nicht ahnend - er doch des Endes bewußt sei; ruhige Männlichkeit erwartet den Schluß! - Von diesem Überdenken des eben gelesenen Werkes ging es bald zu euch über, meine Kinder, und friedlich liebevoll grüßte ich euch aus der Ferne. Fünfmal ging ich über das ganze Tribschner Grundstück, die Dämmerung nahte, wie eine undurchdringliche dreifache Mauer standen Himmel, Berge, Wasser grau und starr vor mir, da ging in der Seele eine Sonne mir auf, ich fühlte es tief und wahr, daß ihr mir bleiben werdet, meine Kinder, was auch die Welt mir verhängen mag. Kaum war in der ringsumgebenden Nacht die Helle mir entbrannt, hörte ich mich rufen, R. kehrte heim und brachte mir freudig einen Brief von euch. Ihr seid wohl und gut und froh; sehnsüchtig wehmütig beglückt segnet euch die Mutter. Augenscheinlich erheitert war in seiner unsäglichen Güte zu mir R., nachdem er mir den Brief übergeben. Wir gingen zu den Kindern; Eva gesund und ungezogen, Loldi sehr eigentümlich. Sie hatte ein Stückchen Holz fallen lassen, Eva hob es auf, gab es ihr, sie aber nahm es nicht; »nimm und danke Eva«, sagte ich, nach langem Zögern nahm sie es endlich, wandte sich dann zum Ofen, nahm, ohne daß ich es sah, ein großes Stück Holz, kam damit zu mir auf dem Kanapee zurück und warf es so nahe bei Eva, daß um ein Haar die Kleine hätte getroffen sein können. Meinem erstaunten Fragen, warum sie das Holz genommen und geworfen hätte, antwortete sie: »Weil ich das Holz nicht mag.« Ich bestrafte sie, zeigte ihr, was sie hätte tun können, sie zeigte Reue, doch mir blieb der ganze Vorgang rätselhaft. - Abends Diktat, vier große Seiten. Jetzt möchte ich noch gerne aufbleiben und euch schreiben, Kinder, doch ich habe R. versprochen, bald zu Bett zu gehen. Gute Nacht denn, meine teuren Wesen, die Mutter ist bei euch allen.
(Heute abend machte mich R. darauf aufmerksam, daß alle großen Dichter (mit Ausnahme Homer's und Dante's) Dramatiker gewesen seien.)
19ten Januar
Ich wollte gestern zu Bett gehen und tat es nicht; wie ich das Buch zugemacht, überfiel mich eine solche traurige Sehnsucht, warf ich einen so trüben Blick in die Zukunft der Kinder, ward ich mir so tief inne, daß ich bei der wachsenden Beklemmung meiner Seele Richard nicht mehr helfen könnte, daß ich in dieser selben Mitternachtsstunde zu ihm gehen wollte, um ihm zu sagen, daß ich fort zöge und nur euch, Kinder, noch leben wollte und könnte. Dies tat ich auch nicht; das Opfer meines Lebens, meines Glücks, wie bald brächte ich es, sein Leben aber, sein
Schicksal stellte sich mir vor, ohnmächtig fiel ich zusammen. Als ich mich erholt hatte, ging ich zur Ruh, und morgens konnte ich R. sagen, daß ich gut geschlafen und - von Bismarck [18] geträumt habe. Er lächelte und teilte
mir mit, daß er sich mit dem Gedanken - seit gestern - trüge, der Gräfin Bismarck zu schreiben und ihr »Deutsche Kunst und Deutsche Politik«     zuzusenden. Vielleicht kann sie ihren Mann beeinflussen, daß er der    deutschen Kunst sich annähere. - Ich rate ihm ab, weil ich nur Mißverständnisse von solch einem Schritt erwarte. Leidend setzte ich mich an meinen Tisch und schreibe mit großem Aufwand von Mühe an Lenbach, meines Portraits wegen. Ich hatte gestern einen Brief von ihm, worin er mich ersucht, darüber zu verfügen. Sehr leidend komme ich zu Tisch, R.
ist auch sehr unwohl. Er hat aber das Konzept des Briefes an die Gr. Bismarck geschrieben. Nach Tisch spielte er Loewe'sche Balladen, die mir wohl gefallen (namentlich »Elvershöh«). Er bleibt dabei, daß die Juden-Erhebung alle deutschen Anlagen erstickt hätte. Dann besprechen wir den Unterschied zwischen dem ehemaligen groben kernigen deutschen Musiker, und dem jetzigen, jüdischen, eleganten, gebildeten. Im Garten dann, R. nach der Stadt. Ich überdenke und überdenke Lage und Dinge; wahrhaft erschrocken war ich, als zu Tisch, wie ich ihn frug, ob er jemals den Tod sich wirklich gewünscht, Richard mir sagte, er habe wohl ihn ersehnt, doch nie ihn wirklich vor sich gesehen, nur als er zu Zeiten geglaubt hätte, wir müßten uns trennen, dann habe er gefühlt, daß sein Leben zu Ende sei, daß er nichts mehr dafür könne. Ich zitterte und bebte, daß diese Mitteilung meinen nächtlichen Gedanken so auf dem Fuße folgte. - Nach langem Sinnen erlahmte mein Geist, ich wanderte gedankenlos in die Nacht hinein und hörte nur den Schlag der durch den Wind aufgebrachten Wellen und das Bellen der Hunde. Zu den Kindern dann, wo mir R. sagt: >daß ich nur der Erziehung der Kinder lebte.< Abends große Kopfschmerzen, R. liest mir »Heinrich VI.« vor.
20ten Januar
Spät doch tief eingeschlafen; am Morgen aber die traurigen Gedanken. Noch einmal bespricht R. die Sendung an Gr. B.* (* Gräfin Bismarck), ich rede ihm wieder ab, und er ergibt sich. Ich weiß aber nicht, ob ich recht getan. Unsäglich gütig ist er gegen mich. Wir mußten gestern abend recht herzlich lachen; er verlangte etwas, ich war zuerst dagegen, dann fand ich mich darein und erklärte ihm, wie es käme, daß ich ihm jetzt den Willen tun wollte und vorher nicht; in dieser Erklärung hörte er mich zu ihm sagen: »Aber lieber Wagner.«. Zuerst hob er es scherzend auf, ich meinte ihn nicht recht zu verstehen und ließ es gehen, er wurde aber immer heftiger und sagte: >Das sei doch noch nicht vorgekommen, daß ich ihn lieber W. nenne.< Endlich verstand ich ihn, und wie ich ihm erklärte, daß ich nie daran gedacht hätte, ihn so zu nennen, und daß er sich verhört habe, lachten wir herzlich und lang. - Ich gehe nicht zu den Kindern, weil ich an Loulou und Hermine schreiben will. Das nimmt mir den ganzen Morgen. Inzwischen kommt Richard herauf und zeigt mir die Seite 200, die er jetzt abschreibt. Sehr leidend, vor Schwäche weinend, muß ich mich mit Gewalt zusammennehmen, um nur zu Tisch gehen zu können. Wir besprechen Preller's Zeichnungen zur Odyssee,[19] Richard lacht und sagt, nach meinem Kunstsinn müßte ich einen steinreichen Mann geheiratet haben. Nach Tisch kommt ein Brief des Musikdirektors Esser aus Wien, welcher meldet, die dortige Direktion wolle die Meistersinger im Oktober künftigen Jahres, also in zwei Jahren geben!! Doch hatte Dingelstedt mit dem Kontrakt geeilt, in welchem sich R. verpflichten sollte, keine Fragmente seines Werkes in Wien hören zu lassen und auch keiner andren als der Hofbühne das Recht einzuräumen, die Oper zu geben. Also auf eine vollständige Sekretierung der Msinger war es abgesehen. Zum Glück hatte R. Argwohn und war nicht auf die Klausel eingegangen. - Wir sind über diese neue Nichtswürdigkeit ganz bestürzt. Hier handelt wahrscheinlich alles im Einklang, Bürokratie, Judentum, Theaterdirektion (Dingelstedt) und vielleicht selbst der Hof. Bei solchen Erfahrungen fühle ich recht deutlich, wie einsam er dasteht und wie einzig ich ihm zur Seite bin. Er geht zur Stadt, ich nehme den Schiller'schen Briefwechsel, lese und brüte. Unsere Erholung und Zerstreuung sind immer die Kinder, die wohl und heiter sind. Vor dem Tee beschließe ich noch den Briefwechsel. R. kommt herauf, trübe trübe; er wäre so weit, daß er eigentlich nur noch schweigen könnte: »So wollen wir denn schweigen«, sagte ich ihm lächelnd; ja mit mir - meint er - ging es immer wieder, und mit mir wollte er gern reden, doch zu niemandem sonst, Schweigen sei das einzige, das ihm nach allen Erfahrungen zukäme. Er ist nicht wohl. Wir kamen wieder auf Theater zu sprechen, und er meinte, wenn man den »Faust« von Goethe darstellen wollte, so müsse man keine Zwischenakte machen, man sollte ohne Unterbrechung spielen, wie er einst in London das Märchen-Spiel gesehen, das ohne Pause drei Stunden währte und sehr fesselte. — »Heinrich VI.« erster Teil vollendet, viel Vergnügen daran. Vor Jahren hatte ich es gelesen, war aber ganz unfähig, die Merkwürdigkeit dieser flüchtigen Darstellung zu empfinden und die wunderbare Charakteristik in dem losen Durcheinander mit zu bemerken. Wie ein Nebelbild war es an mir vorübergegangen, jetzt sah ich jede Figur und empfand jede Situation. - Bei der Trennung sagt mir Richard: Schopenhauer habe ganz recht, die Summe der Klugheit wäre: nichts glauben und nichts sagen. Wenn er dem König nicht geglaubt hätte z. B., wie viel würde er sich erspart haben. Wir kommen wieder auf die Wiener Zeitung zurück, und ich rate Richard, er möchte das Inserat seinen Bekannten in Wien und Berlin anzeigen, warum sein Werk nicht zur Aufführung käme. Lebhaft erregt besprechen wir noch die Lage; zuweilen seh ich selbst ganz trostlos schwarz. Er kann aber doch nicht ganz vergebens gelebt haben; seien die Herrschaften noch so klug, ihn ganz untergraben werden sie doch nicht können. - Ich bin so aufgeregt, daß ich nicht einschlafen kann, Schiller's Gedichte nehme ich zur Hand (Der Kampf mit dem Drachen); man hätte eigentlich an solch einer Dichtererscheinung zeitlebens genug, um sich in sie zu vertiefen und sie genau zu erkennen und zu würdigen. Wie fangen es doch die Leute an, die allerlei durcheinander lesen, und noch gar mittelmäßiges Zeug. -Gute Nacht, Kinder, ihr seid mir nah, ihr seid mein Weh und meine Hoffnung.
21ten Januar
Heute ist Meistersinger-Tag; sie werden in Dresden aufgeführt, und Richard weckt mich auch mit den Themen aus dem himmlischen Werk. - Beim Frühstück besprechen wir wiederum das gestern Erfahrene. - Ich bin sehr müde, denn ich habe eine schlechte Nacht gehabt, und das Morgengrauen brachte mir die Sorgen-Gedanken um die Kinder wieder. - Richard sagte mir beim Frühstück, daß, falls wir zur Mansarde genötigt werden, er eine Zeitung herausgeben will, worin er denn unerbittlich alles enthüllen würde. Während die Kinder spazieren gehen, beginne ich Lessing's Biographie.[20] Viel Freude daran. Nach Tisch liest mir R. aus den Volksbüchern, einen Akt der Puppenkomödie: Faust, viel Ergötzen, ja, ganz unglaublich heitere Stimmung entspringt daraus. Nur bedenke ich nachher mit Trauer, daß dieser herrliche Volksgeist jetzt, wo man seine Kundgebungen sorgfältig sammelt, ausgestorben sein muß, ungefähr wie die Galerien und Museen mit der Unproduktivität der Malerei zusammenfallen. - Von seinem Spaziergang kehrte R. mit der Nachricht heim: Der Juden-Aufsatz würde gedruckt! In Gottes Namen. Dann geht er zu den Kindern und sagt mir, er habe mich nicht dazu aufgefordert, weil es ihm schiene, als ob es mich immer eine Überwindung kostete. Und so ist es; wo ich vier anzutreffen gewohnt war, ist es mir schmerzlich, nur zwei zu sehen. Die zweie aber hier blühen auf. Kos ist jedoch krank, sehr krank; wie dauert einen solch ein armes Geschöpf. Abends das Faust-Puppenspiel zu Ende gebracht, unter herzlichem Lachen und wirklichem Interesse. Ein ganz andres Wesen als der spanische Grazioso und der italienische Harlekin ist doch der Kasperl, und wie zeugt er für die dramatische Befähigung der Deutschen. - Herrlicher, von uns beiden begrüßter Mondschein.
22ten Januar
Schlaflose Nacht; wenn die schweren Gedanken nicht wären! Zuweilen meine ich, ich müsse wahnsinnig werden. Wie die Kinder zu mir bekommen und R. nicht verlassen? Dieses letzte kann ich, darf ich nicht. - Am Morgen sieht mir R. es an, daß ich leidend bin, und will, daß wir nach dem Süden gehen. Doch ich befürchte für ihn jede Bewegung und hoffe immer, daß ich mich erholen werde. Unser Gespräch hierüber wird durch eine Depesche Mitterwurzer's unterbrochen, welche meldet, die Msinger haben gestern in Dresden den größten Erfolg gehabt. Der Neffe Clemens [21] telegraphiert dann auch. Viel Freude darüber; vielleicht muß doch Berlin jetzt daran. Die Sonne strahlt, zum ersten Mal seit vielen Tagen; wären meine Kinder bei mir - ich wäre wohl glücklich zu nennen, ja überglücklich, wie es hienieden nicht sein darf, selbst wenn man der Welt dabei gänzlich entsagt. - Nach Tisch Briefe. Pasdeloup meldet, daß nun die Proben des Rienzi doch im Gang sind; und die Ankunft der italienischen Holländer-Partitur, die wieder viel Not macht. Abends tiefe Mißstimmung R.'s gegen seine künstlerische Existenz. Am Schluß »Heinrich VI.« zweiten Teil - furchtbarer, gar nicht zu schildernder Eindruck.
23te Januar
Schlimmste Nacht; gar keinen Schlaf und Angst um die Kinder. Ich stehe nicht auf. R. kommt, meldet einen Brief Weber's (der Verleger), [22]welcher den Zeitpunkt der Erscheinung des Judentum in der Musik für gelegen hält. Gute Laune hierüber. Dann hat ein Deutsch-Franzose geschrieben und angezeigt, man spräche in Paris von der bevorstehenden Ankunft R.'s zum Rienzi! Ich bleibe den ganzen Morgen liegen, in großer Schwäche und unaufhörlicher Beklemmung des Herzens. Eine italienische Zeitung meldet den Kampf im Konzert Pasdeloup's bei Gelegenheit des Lohengrin-Vorspiels. Abermals die Juden. Zu Tisch bin ich wieder wohl; unser Gespräch gilt der gestrigen Vorlesung. Vergleich mit Aischylos' »Agamemnon«, bei welchem - wie R. bemerkt - die Chöre alles besänftigen und gleichsam musikalisch verklären, während hier alles nackt und schrecklich vor uns liegt und bleibt. Wie göttliche Wiegenlieder erscheinen alle Dichtungen daneben, hier ist es, als ob das Schicksal sich entschleierte und unseren irdischen Augen erschien. Nach Tisch eine Sendung [von] Hans; in den »Signalen« steht eine Biographie von ihm, in welcher gesagt wird, daß Wagner ihn als jungen Menschen gastfreundlich aufgenommen und für ihn väterlich gesorgt habe, während seine Familie ihn ohne Mittel ließ. Dieses scheint Hans verletzt zu haben! Wie kleinlich! Ich ersuche R. sofort eine Berichtigung in der nötigen ruhigen Form abzufassen, was er denn auch tut und Hans das Konzept zuschickt. Das Wetter ist kalt aber schön; R's Gesundheit bekommt es merklich wohl. Ich spiele mit den Kindern, Fröbel'sche Spiele, bei welchen Eva viel Intelligenz zeigt. Abends bringt R. einen Brief von Mme Laussot an ihn, sie will ihm die Manuskripte, die er zu der Herausgabe seiner Werke braucht, verschaffen. - Nach dem Tee Beendigung des zweiten Teiles und Beginn des dritten von »Heinrich VI.«.- Heute machte mir R. eine große Freude, als er mir sagte, er schriebe so ungern jetzt Briefe, weil er sich nun entschlossen habe, seinen Siegfried zu vollenden.
24ten Januar
Gute Nacht, daher auch freundlicher Morgen; zugleich einen Plan entworfen, wie ich die andren Kinder bald zu mir bekommen kann, und wie ich es überhaupt einrichten will in der Unbestimmtheit und Schwierigkeit der Lage. Dies gibt mir Beruhigung. Von Dresden hat R. einen noch in der Meistersinger-Mitternacht von dem von uns stets abgewiesenen und stets treu bleibenden Dr. Lang [23] geschriebenen Brief. Der Erfolg soll außerordentlich gewesen sein. Gute Launen über den Bericht und den Berichterstatter. Leider erweckt R.'s Passion zu Seidenstoffen eine Bemerkung von mir, die ich lieber hätte unterlassen sollen, weil sie eine kleine Verstimmung hervorrief. Gestern waren im Hause Tischler, Spengler, Tierarzt, eine sonderbare Bewegung in dem verzauberten Leben; ich mußte lachen über den Eindruck und konnte mir gar nicht vorstellen, daß ich jemals Theater wieder besuchen könne und eine große Menschenbewegung nur auch ansehen. Nichts entbehre ich in der Abgeschiedenheit - außer die Kinder. - Vormittags die Bücher geordnet. Nachmittag ein Brief Mitterwurzer's, welcher meldet, der König von Sachsen habe der Vorstellung beigewohnt und am Schluß noch bei dem dritten Herausruf der Darsteller stark applaudiert, was noch niemals vorgekommen sein soll. R. antwortet Mme Laussot und verlangt durch sie das Manuskript von »Jesus von Nazareth« von der Fürstin Wittgenstein, welche, obgleich sie es nur geliehen bekam, es nicht herausgeben will. Aus Besitztumsnot oder aus religiöser Vorsicht? Gleichviel, die zynische Unverschämtheit ist dieselbe. Nach Tisch, in Anwesenheit der Kinder, spielt R. aus dem zweiten Akt des Tristan's. Ob ich jetzt immer empfänglicher oder stets krankhafter empfindsam werde, weiß ich nicht, doch kann ich gewisse mächtige Eindrücke kaum mehr vertragen. Mir graut förmlich vor der Gewalt des Genius', welche die unergründlichen Geheimnisse des Daseins jählings vor uns aufdeckt, wenn ich auch nichts hoch halte und preise als diese göttlich dämonische Gewalt. Mir kommt das Wort R.'s in den Sinn (beim Tode Schnorr's): »Die Kunst ist vielleicht ein großer Frevel«; und glücklich sind wohl die zu preisen, die gleich den Tieren nichts von ihr ahnen, wenn mir auch dieses Glück wie die ewige Finsternis erscheint. Ich sehe mich blind, höre mich taub und fühle bis zum Vergehen all die Pracht; zu dem leuchtenden sternenerf üllten Abgrund zieht es mich an, unwiderstehlich schaue ich hinein und versinke bewußtlos darin. Wir armen Weiber, die nur lieben können, wohl sind wir zu beklagen, wenn wir des Genius' Geheimnis ahnen! Und doch, was sind wir ohne diese Teilnehmung an dem Genius. Sehr erschöpft lege ich mich hin und gehe von einer Art Ohnmacht zum Schlafe über; nachher die Kinder und Les-sing's Biographie. Abends Richard etwas angegriffen, doch nehmen wir noch den Schluß von »Heinrich VI.« vor. Da muß der Mensch schweigen. Wenn man aber denkt, daß die Leute »Richard III.« abgesondert geben, ja, noch mehr, daß es ein Hanswurst wagen dürfte, die drei Teile »Heinrich VI.« in zwei zu verdrehen und diese aufzuführen, da fragt man sich, was denn die Bedeutung des Genies ist, wenn es nach Jahrhunderten keine Ehrfurcht einzuflößen vermag und seine Kundgebungen die Beute der Charlatane werden. -
25ten Januar
Gute Nacht mit vorheriger Überlegung meines Planes. Briefe der Familie Richard's mit der Meldung ihres Eindruckes von den Msingern. Große Kälte, die Kinder davon angegriffen. Umzug derselben. R. betrübt, weil er mich traurig glaubt. Tröstung und Erheiterung. Seine Partitur macht ihm Freude. Bei Tisch erzählt er mir, er sei seiner Zeit gegen Fröbel durch Al. Müller [24] gewarnt worden, welcher ihm sagte, Fr. ziehe Vorteil von dem üblen Lebenswandel seiner ersten Frau. Er habe gar nicht darauf gemerkt. Nachmittags bei den Kindern, Lessing's Biographie beendigt. Deutschland geht mit seinen großen Männern wie die Natur mit dem Individuum um, opfert sie auf, als ob es genug Vorrat daran hätte. Abends spricht R. mit großer Empörung über die Leidenschaft des Spieles. Endlich wieder einmal diktiert, viel Freude daran. Punsch und gute Nacht. - Vre'neli hat Richard von einem armen Hund erzählt, daß sie [ihn] hat halb erschießen sehen; sein Herr wollte den verordneten Maulkorb nicht kaufen, und ungeschickt quält er das arme Geschöpf. R. ganz außer sich hierüber; wir sollten unsre Kinder zu Nonnen und barmherzigen Schwestern erziehen; wie könne man in einer solchen Welt noch an Schönheit denken.
26ten Januar  
Herrlicher Sonnenschein, die ganze Gegend triefend von Licht. Loldi heute vier Stunden im Garten gewesen. Ich bin wieder wohl, R. arbeitet an seiner Partitur und sagt, er könne es einen Morgen nicht aushalten, wenn er nicht etwas daran gemacht. Heitre Laune bei Tisch, der Sonnenschein belustigt die ganze Wohnung. Leider aber, wie R. ausgehen will, kommt ein schwer zu verstehender Brief Hans', welcher von R. die Revozierung der Berichtigung für die Signale verlangt und den Besuch »seiner Frau in Versailles« meldet. R.'s ganzes Aussehen verändert; er taumelt förmlich heraus. Ich verstehe gleich, daß mir Hans mit letzterem mitteilen will, was er zu Hause angekündigt hat. Nachmittags bei den Kindern; sehr unwohl heimgekommen legt sich R. hin. Um sieben Uhr, als die Kinder schlafen, gehe ich hinaus, schönster Anblick, den ich je von der Gegend gewahrte. Alles blau und silberartig, der Mond und die Sterne leuchten, die Berge strahlen, das Wasser blitzt, alles hell und alles verschleiert. Erhabene Stimmung um mich und in mir; in meinem Schöße regt sich das Ungeborene, ich segne es. Möge sein Geist klar und mild sein wie dieser strahlende nächtliche Himmel, erhaben und ruhig wie der in seinen schneeigen Mantel gehüllte Berg, möge sein Gemüt tief und lieblich sein wie dieses leicht gekräuselte Wasser, möge es unbeweglich die dunkle Finsternis zu seinen Füßen gelagert betrachten wie der dunkle Wald zu den Füßen des Berges, während das Haupt in Licht sich badet, möge es die dürftigen Geschöpfe zart bescheinen und erheben, wie das Sternenlicht die dürre Wiese und die dürren Bäume verklärt. Möge es der Mutter ewig in Liebe gedenken, die es in Liebe trug. - R. durch den Nachmittagsschlaf noch müder geworden und trüb gestimmt. Er beklagt, daß ich damals nicht in Genua [25]bleiben wollte, die Kinder nachkommen ließ und dann das Schicksal über uns ergehen ließ. Nicht viel kann ich erwidern, denn alles, [was] mich bestimmte, habe ich ihm seinerzeit mitgeteilt, und meine innere Stimme sagt mir, daß ich das Rechte getan. Auch ist er unwohl und spricht nur das Leiden aus ihm. - Am Morgen hat er einen sehr hübschen Brief seines Neffen, Pastor Brockhaus, über die Msinger.
27ten Januar
R. ist wohler, seine Nacht war gut, scheint es. Die meinige auch. Prachtvolles Wetter. Neue Nachrichten aus Dresden, die Msinger werden dort vier bis fünf Mal hinter einander gegeben. Die Kinder können beinahe den ganzen Tag im Garten sein. R. ist bei der Arbeit und selbst bei Tisch beunruhigt, weil er meint, daß er mich gestern abend gequält. Ich kann ihm nicht viel erwidern, denn wie könnte ich ihm sagen, daß seine traurige Stimmung mich nicht betrübt habe, und wenn ich ihm versichere, daß ich den Kummer gern trage, helfe ich ihm über die Sorge nicht hinweg. Es bleibt mir nur übrig, heiter und unbefangen zu sein. Sein Aussehen ist nicht gut, der gestrige Brief Hans' hat ihn ganz erschüttert. Er sagt, es kam ihm vor, als ob er nur durch einen Zauber lebe und eigentlich gar nichts mehr vertragen könne. Zweistündiger Spaziergang, Sonnenuntergang und Mondaufgang. Plötzlicher Schrecken im »Räuberpark«, zuerst ein Rabe, der mich umkrächzt, dann eine ganze Anzahl Krähen, ihr Flug wie ihr heiserer Ruf erfüllt mich mit Bangigkeit - haben sie mir Böses geweissagt? Die goldne Helligkeit des Mondes und der Widerstrahl im Wasser beruhigten mich nach und nach. - R. hat das Buch [26]Devrient's über Mendelssohn bestellt - es sieht drollig genug aus. Daß Devrient ein ungebildeter Komödiant und Mendelssohn ein Judenjunge ist, tritt deutlich daraus hervor. Ich lese R. einiges vor. Hernach Diktat.
28ten Januar
Erträgliche Nacht, nicht viel Schlaf, doch auch keine Beängstigungen, in Devrient's Buch gelesen (bei den Kindern). Viel Ungeduld dabei, doch viel Belehrung, diese Darstellung ist wie ein Beweis des von R. über Mendelssohn aufgestellten Satzes. Bei Tisch mit R. darüber gesprochen. Er geht aus, ich bin wieder schwach und muß mich hinlegen. Dann bei den Kindern, die munter und artig sind. Da R. es beklagt, daß ich nicht ausgewesen, mache ich mich noch in der Dunkelheit auf; ein grauer Dämmer umhüllt die Gegend, es ist mir, als ob die Schattenwelt der Griechen so aussehen mußte, und ich gewahrte förmlich die Heldengestalten über das ruhige graue Wasser wandeln und in dem Nebel der Berge und der Wolken sich verlieren. Nach und nach erhellte sich der Himmel, ein blasser Stern blinkte still, der erste, den ich an diesem Abend sah; »sei mir gegrüßt, du Sanfter, lenke freundlich mein Schicksal, leuchte gütig meinen Kindern«, wie ich Worte sprach, verschwand er plötzlich, war es, daß eine Träne meine Augen getrübt, oder daß das hervorgetretene Licht des Mondes den kleinen verdunkelte? -»Schon gut, du bist unerbittlich wie die anderen Großen, wie sie lehrst du mir Ergebenheit.« Da trat er wieder hervor, »bist du nun begütigt? Gib mir ein freundliches Zeichen, daß du meinen Kindern gnädig sein wirst«, - und plötzlich sah ich Richard vor mir stehen, der mich überall gesucht und die Weise Siegfried's mir nach allen Richtungen zugerufen hatte! Freudig begrüßte ich das Zeichen; die ganze Landschaft strahlte, die Wolken waren von dem Mond besiegt, die Schatten-Stimmung gewichen; nach dem kleinen Freund sah ich nicht mehr, hatte ich den großen Freund doch bei mir, der mir das Pfand einer milden Lenkung meines Schicksals war. - R. sagt: Ich sollte nur wissen, was er mir alles zuriefe, wenn ich nicht da bin. Ach! ich weiß es, daß er mich liebt. - Abends diktiert er mir wieder, und freundlich trennen wir uns. - Daß die Natur so wohltätig auf uns wirkt, liegt wohl darin, daß sie uns es recht nahe bringt, wie geringfügig das Individuum ist. Seit Jahrtausenden stehen beachtungslos die Berge dem Menschenleiden gegenüber und leuchten die Sterne gleichgültig dem Erden-Elend. In der Stadt aber denkt sich das Individuum etwas ganz Besonderes und Wichtiges, die Umwälzung der Häuser, die Entstehung der Gebäude, all die Unruhe, die es rastlos schafft, täuscht es über seine Bedeutung, und in dieser Täuschung liegt das Aufregende; denn zu jeder Stunde sagte ihm es doch der Tod, daß es nichts ist.
29ten Januar
In der Nacht das Buch Devrient's ausgelesen. Am Morgen gute freundliche Briefe Mathilden's* (* Mathilde Maier). Richard wohl, die Kinder munter - euch, meiner Fernen, gedenke ich nun, möget ihr die Mutter nicht entbehren wie sie euch! Bei Tisch erinnert mich R. daran, daß wir gestern bei der Besprechung der Schlacht bei Marathon und der plötzlichen schönen Hilfeleistung der Platäer Tränen in die Augen bekamen, auch dann bei dem Lesen des »Kampf mit dem Drachen«[27] wirklich weinten. Er meinte, wir müßten andren nicht sagen, worüber wir weinten! - Dann sagte er mir, er komme sich doch vor, als sei er stets von Schurken umgeben gewesen! Daß Eduard Devrient eine Berufung Mendelssohn's nach Dresden vermittelte, während er R.'s Tätigkeit dort kennenlernte und sah, wie viel geleistet wurde, hat er mit förmlichem Grauen aus diesem Buche ersehen. Nicht ein Wort hatte er damals davon erfahren. Natürlich war Mendelssohn klug genug, nicht auf die Vorschläge einzugehen. -Hübsch ist es auch, daß die Scene, in welcher Sachs Eva den Schuh anprobiert, »heiklich« in der Presse gefunden wird! - R. meint, ich sollte Notiz führen über all die Artigkeiten, die er erfährt; in der A.A.Z.** (Augsburger Allgemeine Zeitung) z. B. wurde von den Msingern in Dresden bloß gesagt, daß Dienstleute am frühen Morgen in der Kälte bei der Kasse gestanden haben, um Billette zu besorgen. Der Bericht des Erfolgs ersichtlich gestrichen. Und nach der zweiten Vorstellung »hinzugefügt«, daß der Kapellmeister Rietz herausgerufen wurde und daß sie in Dresden weniger Proben als in München gebraucht hätten. Die Sache selbst wird umgangen und nur mit Vergnügen die Gelegenheit erhascht, Ärgernis in München zu verursachen! - R. ist sehr mit seinem Siegfried beschäftigt und von ihm erfüllt. Die Kinder sind gut -wüßte ich nur, wie es den Kleinen dort geht. Kein Bericht hilft doch da, auch habe ich wieder lange keinen Brief. Abends kein Diktat, sondern Blumenlese des »korrekten Ladenschwengeldeutsch« von E. Devrient. - Großer Windsturm.
30ten Januar
Schöner Sonnenschein. Mildes Wetter; freundlicher Morgen nach einer guten Nacht, in welcher ich wie gewöhnlich von Blandine geträumt habe. Von diesem Tag wenig zu berichten. Bei herrlichem frühlingsmäßigen Wetter einen großen Teil des Nachmittags mit den Kindern im Garten. Richard wohl und ich dadurch froh. Abends sagt er mir: Es sei nur die eine Gefahr zwischen uns: daß wir uns zu lieb hätten; jeden Morgen, wenn er an seine Partitur ginge und die erste Zeile schriebe, wollte er gleich wieder herauflaufen und nach mir sehen. - Diktat. Es überfällt mich hierbei eine schwere schwere Stimmung, ich kann sie nicht ausdrücken, weiß ich doch kaum, worin sie besteht. Leiden, ewiges, uner-forschliches Leiden, sei du still getragen. Als letzte Lehre überlasse ich meinen Kindern, daß der Trank, welchen die hehrste Schale des überirdischsten Glückes enthält, eine Träne ist! - Richard merkt meine Stimmung und, um mich zu erheitern, erzählt er mir, daß sein Vater Geyer,[28]um seiner Mutter beim Geburtstag eine Überraschung zu bereiten, eine Charade aufgeführt habe, in welcher ein Rat Jeorgie, ein riesengroßer und starker Mann, sich ins Bett der Mama legte, mit ihrer Nachthaube und Nachtjacke verkleidet wurde, ihre große Kaffee-Tasse in die Hände bekam und die Kinder in Nachtkappen und Anzügen, wie das so gewöhnlich des Morgens geschah, um das Bett der Mutter versammelt wurden; die Mutter dann aber zu ihrem größten Ergötzen hereingerufen wurde. - Ich mußte sehr lachen. Dann wiederum weinen. Endlich schlief ich bei schönem Mondschein ein.
31ten Januar
Richard sehr unwohl, ich dadurch betrübt; dazu einen dummen Brief Mme Laussot's, welche ihm Erklärungen (von vor 20 Jahren!)[29] zu geben wünscht. Das verstimmt ihn, weil es so sehr unnütz ist. Der ganze Tag vergeht trübselig, R. ist schwach und sehr matt, er kann nichts essen. Ich dadurch wie der Seele beraubt. Am Mittag sagt er: Er könne sich gar keine Vorstellung machen, wie sein Leben geworden, wenn ich nicht dazu getreten wäre. Und wenn man ihm auch sagte: Ja, wären Ihre Kunstpläne ausgeführt worden, hätte sich der König bewährt, dann würde er wohl nicht so unbedingt von mir abhängig gewesen sein. Torheit! - sagt R. - er lebe nur durch mich, das habe er von der ersten Stunde an empfunden. - Er schleppt sich schwächlich den ganzen Tag durch; abends lese ich ihm vor (Briefwechsel Goethe und Knebel), da werde ich plötzlich unwohl und muß ihm Sorge machen. Er befürchtet, daß ich meine Gesundheit durch das Verborgensein hier untergrabe. Ach! die Not ist wohl groß, doch wenn ich an die Möglichkeit des Siegfried's denke, dann bin ich wie durch Zauber geheilt!