Zwischenspiel

Zwischen großen Anstrengungen braucht man eine Art »Zwischenspiel«, eine Zeit zum Nachdenken und Ausruhen: II faut reculer pour mieux sauter. Erinnerungen nehmen eine Art Vogelperspektive ein, aus der heraus Chronologie keine wesentliche Rolle mehr spielt. Die Vergangenheit so zu betrachten, wie das Gedächtnis sie auf die Leinwand des Geistes projiziert, läßt uns über unser vergangenes Leben erfahren, was uns sonst verschlossen bliebe. Doch kein Kompaß kann solch einer extensiven Zeitspanne Richtung verleihen. Aus dem Strom innerer und äußerer Ereignisse kann man nur einige wenige herausragende oder verdrängte gedanklich erfassen. Sie können ein verstehbares Muster ergeben, das illustriert, wie wir dem Kampf ums Überleben, um Liebe und Selbstachtung geführt haben. Nur durch späte Einsicht können wir wirklich etwas verstehen. Der Moment der Erfahrung ist bereits Vergangenheit, und die Milliarden Augenblicke sind von Anfang an ihrer Gegenwart entkleidet. Doch wenn wir uns aus distanzierter Sicht auf die Vergangenheit konzentrieren, kann sie uns einiges lehren, das wir manchmal rasch akzeptieren können, das uns manchmal aber auch sehr zu Herzen geht. Muster erzählen manchmal eine Geschichte, und sie verrät die Realität hinter der endlosen Zahl von Ereignissen und Gefühlen, die wir durchlebt haben. Wir müssen uns glücklich schätzen, wenn wir auch nur einen kurzen Blick auf die Realität werfen können, denn sie ist das Kostbarste und am schwierigsten Erfaßbare.
In seinem Buch »Essai sur une Psychologie de la Main« schreibt Dr. N.Vaschide: »Der Charakter des Menschen ist das Ergebnis eines Kampfes zwischen anspannenden und entspannenden Impulsen«. Dr.Vaschide, um die Jahrhundertwende Philosophieprofessor an der Ecole des Hautes Etudes, war der erste, der eine wissenschaftliche Methode der Handinterpretation formulierte. Er übte den stärksten Einfluß auf meine Arbeit über die menschliche Hand aus. Die mathematische Klarheit, mit der er das komplexe Thema des menschlichen Charakters in einer einfachen Formel zusammenfaßte, beeinflußte mein allgemeines psychologisches Verständnis und das für die Gestensprache im Besonderen.
Die entgegengesetzten Impulse, die uns formen, sind die Grundlage emotionaler Reaktionen und wesentlich für unser gesamtes psychophysisches System. Sie sind wie die Wellen des Meeres: Spannung treibt uns hoch auf die schäumenden Kronen der Wellen, Entspannung läßt uns in ihrem Tal zur Ruhe kommen. Vaschide entwarf mit wenigen Worten unser psychophysisches Dasein. Etwa zur gleichen Zeit, als sein Buch 1905 veröffentlicht wurde (nach seinem Tod im Alter von 37 Jahren) schreckte Wilhelm Fliess einen großen Teil der damaligen Intelligenz mit seiner Theorie der Periodizität auf, die Hand in Hand ging mit seinem Konzept der Bisexualität. Es gibt offensichtlich Ähnlichkeiten zwischen seinen und Vaschides Ideen. Doch während er international bekannt wurde, fand Vaschides Bedeutung nur begrenzte Anerkennung, und heute ist er so gut wie vergessen. Fliess andererseits hat ein Comeback erlangt. Ich habe auf seine Bedeutung als visionärer Theoretiker in meinem Buch »Bisexualität« hingewiesen und seine Arbeit zur Periodizität für weitere wissenschaftliche Forschung empfohlen. Heute haben einige amerikanische Psychologen seine Theorien wieder aufgegriffen, und inzwischen spricht fast jeder von Biorythmen (wobei leider der psychische Aspekt weggelassen wird). Ein oberflächlicher und sensationeller Seitenblick auf das Thema, wie ihn die Vulgärpsychologie riskiert, wird allerdings der sorgfältigen und gründlichen Pionierarbeit von Wilhelm Fliess nicht gerecht. Seine wesentliche Botschaft, daß sich erfolgreiche und erfolglose Lebensabschnitte periodisch und in rhythmischen Abständen abwechseln, kann im Leben jedes Menschen verifiziert werden. Möglicherweise hat man Fliess deshalb die volle Anerkennung, die er verdiente, verwehrt, weil man seine Theorie oberflächlich mit der Astrologie verglichen hat. Aus beiden kann man Vorhersagen machen. Doch während Fliess' Interpretationen bedeutsamer Daten von wissenschaftlichem Wert sind, kann man dies von der Astrologie nicht behaupten.
Wie oft fühlte ich mich ausgelaugt und litt unter Zuständen der Erschöpfung, als ich noch in Deutschland studierte und als Ärztin arbeitete! Und doch führte ich ein gutes Leben und war mit meinem Beruf in der Gesellschaft verankert. Die Erkenntnis, daß mein Sicherheitsbewußtsein eine Illusion war, dämmerte mir erst, als die Zeichen am Horizont nicht mehr zu übersehen waren.
Vor den Tagen des Exils waren meine geistigen Möglichkeiten noch nie an ihre Grenzen gestoßen. Dann änderte ein neuer psychologischer Biorhythmus mein gewohntes Lebensmuster. Er wirkte sich auch auf meine nervliche Gesundheit und meine Energie aus. Neue Einflüsse machten aus alten Gewohnheiten eine tabula rasa und ließen mich neue Verhaltens-Grundsätze entwickeln, die zu menschlichen Beziehungen führten, von denen ich mir vorher nichts hatte träumen lassen. Obwohl gefährlich erschöpft, mußte ich meinen Weg, wohin er auch immer führte, fortsetzen. Ich durfte den Versuch nicht aufgeben, einen solideren Grund zu finden und von dem schwankenden Boden der Unsicherheit herunterzukommen. Der Versuch, einen angemessenen Platz in der Welt zu finden, kostete mich ungeheuere Anstrengung und ließ mir wenig Zeit zum Ausruhen und Nachdenken.
Nachdem ich meine Forschungsarbeiten über Hand und Gestik abgeschlossen hatte, empfand ich das dringende Bedürfnis nach einer Ruhepause. Das geistige Vakuum nach vielen Jahren aufregender Forschung hatte mich in einen Zustand der Depression versetzt. Menschen werden verdrießlich, wenn sie einer inneren Leere ausgesetzt sind. Jede Ablenkung kann zu einer willkommenen Droge werden, doch nichts außer der Fürsorge und Liebe einer mütterlichen Person heilt die Wurzeln des Übels. Ich wollte meinen Kopf auf ein Kissen legen, das nicht meines war, und ein Stück Leben genießen, das ich mir von einer Freundin oder Geliebten lieh. Mehrmals war ich einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen, und die Bedrohung, daß mir dies wieder geschehen könnte, war mir stets präsent. Dann traf ich Caroline. Emotionaler Opportunismus wird zu einem Weg aus Lebensumständen, die zu schwierig sind, um sie selbst anzugehen. Das Bedürfnis, einen Ausweg zu finden, führt dazu, daß man Neugier und Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Menschen richtet wie auf einen Rettungsring, der einen vor dem Ertrinken bewahren kann. Ich war unbewußt auf der Suche nach jemandem, der mich »übernehmen« konnte. Menschen prüfen ihre Umgebung oder unternehmen Reisen oder tun sonst alles mögliche, vorwärtsgetrieben durch das Verlangen, sich selbst zu schützen, genauer: von anderen beschützt zu werden. Auf der Suche nach der günstigen Gelegenheit, wenn Auge und Ohr nur noch darauf ausgerichtet sind, Lebensbedingungen zu erkunden, die einen vor dem Zusammenbruch bewahren können, werden Zeichen und Hinweise möglicherweise fehlinterpretiert. Der gesunde Menschenverstand ist ausgeschaltet, und warnende Stimmen werden zum Schweigen gebracht. Doch das Glück kann einer unbedachten und hilflosen Person, die sich zu schnell der Liebe hingibt, zu Hilfe kommen. Ich habe es immer für einen Glücksfall gehalten, daß ich den beiden seltsamen Frauen in Hazelwood in die Arme gefallen bin. Ich wußte damals nicht, daß meine Zuneigung zu Isabel und meine Liebe zu Caroline an erster Stelle die Funktion eines Sicherheitsventils hatten. Die romantische Atmosphäre, das Wohlgefühl, das sie mir bereiten konnten, die Schönheit der Umgebung, waren Geschenke des Schicksals. Nach den immer größer werdenden Anstrengungen des Lebens im Exil, wo ich mich fühlte wie ein Fisch, den man aufs Ufer geworfen hatte, konnte ich mich bei ihnen ausruhen und entspannen. Die beiden retteten mich, und nach Isabels Tod übernahm Caroline allein diese Aufgabe. Ich bin für den besseren Teil meines Lebens in England, nämlich 27 Jahre lang, von zwei Frauen in der kleinen Stadt Malvern gerettet worden. Nur die Phantasie kann die Realität berühren. Meine reicherten die beiden und ihr Milieu mit einem Gefühl der Sicherheit und emotionaler Zufriedenheit an - die beste Nahrung für Seele und Körper. Ich fand Ruhe, Zeit zum Nachdenken und - noch wichtiger - das Lebenselixier des Selbstvertrauens, das die Gewißheit, erwünscht zu sein, spendet. Offensichtlich gibt es ein friedliches Leben nur im Abstrakten, und das Auf und Ab einer emotionalen Beziehung ist Teil davon.
Und so war es auch in unserem Fall. Beide Frauen hielten treu zu mir, vielleicht durch religiöse Prinzipien ebenso geleitet wie durch ihre eigenen, unbewußten Bedürfnisse. Ich konnte meine einzige Insel der Sicherheit, die ich in England gefunden hatte, nicht verlassen. Es war von geringer oder gar keiner Bedeutung, ob ich mich einer Illusion hingab oder mich bei ihnen tatsächlich auf festem Grund bewegte. Die Wahrheit werde ich niemals genau wissen. Doch ich vermute, es war eine Mischung aus beidem.
Abgesehen von meinen persönlichen Gefühlen, übten die »Ladies von Hazelwood« durch ihre pure Existenz eine Faszination auf mich aus. Nie zuvor hatte ich ein Paar von solcher Unschuld, Integrität und Exzentrik getroffen. Ich liebte das alles. Ich war auf ein unberührtes Land der Gefühle gestoßen, wo ich neue Gesten von Liebe und Furcht beobachtete. Ich weiß nicht, ob ich mir des Privilegs bewußt war, ein unbekanntes Territorium betreten zu haben. Meine Zeit bei ihnen war eine Zeit der Entdeckung und entsprach dem Bedürfnis, das alle meine Forschungsarbeiten angefacht hatte - die Erkundung der Grenzgebiete des Geistes. Sie hatten mir die emotionale Liebe zwischen zwei Frauen vor Augen geführt, deren wahre Bedeutung ihnen aufgrund religiöser Tabus verborgen blieb.
Ich hatte beides, die Stärke und die Schwäche ihrer Situation erkannt. Zwar war mir die seelische Kraft und Inspiration, die solche ungelösten Konflikte hervorbringen können, bewußt geworden, doch ich hatte nicht vorhergesehen, daß genau die ungeheuren inneren Hemmungen, die durch religiöse Tabus diktiert wurden, zu einer religiösen Manie führen konnten. Genau dies geschah bei Caroline während der letzten zehn Jahre ihres Lebens, obwohl sie ihre »Krankheit« eher genoß als darunter zu leiden. Caroline hatte den Quäkern angehört, die eine recht verständnisvolle Einstellung zur Homosexualität demonstrieren. Sie jedoch wollte mit deren Pamphlet: »Towards a Quaker View of Sex« (1963) nichts zu tun haben.
Die Haltung der Quäker beeindruckt Christen und Nichtchristen nach wie vor gleichermaßen. Doch die Quäker sind keine einheitliche Gruppe. Einem Kern progressiver Mitglieder, unter denen sich die Autoren des Pamphlets befanden, steht eine Mehrheit altmodischer Menschen gegenüber, die nicht mit der Zeit gegangen sind und an patriarchalischen Einstellungen festhalten. Das Vertrauen in sie als praktizierende Christen ist jedoch gerechtfertigt, ob sie nun altmodisch sind oder nicht. Das gleiche trifft zu für ihr Bedürfnis danach, alles Unechte abzulehnen, sei es in der Religion oder in menschlichen Beziehungen.
Nie fand ich eine Antwort auf die Frage, ob die gewissenhafte Treue bei Caroline und anderen Quäkern eher typischen Wertvorstellungen der Quäker entsprachen oder ihren persönlichen Gefühlen. Allerdings spielt es letztlich keine Rolle, welche Motive ein gewünschtes Ergebnis erbringen. Und doch versetzt es dem eigenen Stolz einen Stich, wenn es eher religiöser Einfluß als Liebe ist, der einem die Liebe anderer Menschen einbringt. Die Quäker machten tapfere Anstrengungen, sich der Falschheit zu entledigen, konnten dabei aber wegen ihres religiösen Überbaus keinen vollen Erfolg haben. Das Bedürfnis der Quäker, »echt« zu sein, unterscheidet sie jedoch von der konventionellen Kirche und sichert ihren Platz in der Religionsgeschichte.
Reflektionen berühren die weit entlegene und die nahe Vergangenheit, als ob es zwischen ihnen keine Distanz gebe. Wie im Traum wird die Zeit gerafft oder gedehnt. Erst zwei Tage bevor ich diese Zeilen schrieb, am 20. Oktober 1979, kam der Bericht über Homosexualität des Board of Social Responsibility der Kirche von England in meine Hände. Er hat für mich eine doppelte Bedeutung. Er behandelt das Thema, dem ich die letzten Jahre meiner Forschung gewidmet habe, und ich war eine der »Experten«, die eingeladen waren, den Arbeitsausschuß über lesbische Liebe zu informieren.
Ich verglich diesen Bericht mit dem Pamphlet der Quäker aus dem Jahre 1963 und fand, daß er zu wünschen übrig ließ. Das vor langer Zeit bereits formulierte Pamphlet war von der Grundhaltung der Quäker bestimmt und eine Arbeit emphatischen Verständnisses, während der Bericht der Kirche von England nichts anderes als ein intellektueller Versuch ist, ein ihr offensichtlich unbequemes Thema so »gerecht« und so schnell wie möglich zu erledigen. Der Bericht weist jedoch auf die Scheinheiligkeit und die Arroganz der Heterosexuellen zu diesem Thema hin und stellt deren moralischen Kodex in Frage. Er hat den Mut, das Wort »normal« in Anführungsstriche zu setzen, was auf ein gewisses, wenn auch mangelhaftes Verständnis, das diesem Papier zugrundeliegt, verweist. Die Gruppe der Quäker, die »Towards a Quaker View of Sex« schrieb, war auf der Suche nach der Wahrheit, ohne Furcht vor Gott und den Menschen.
Der Bericht der Kirche von England dreht und wendet sich und ist nicht in der Lage, eindeutig Position zu beziehen. Er ist ein Dokument der Unsicherheit, das sich um den Kern der Sache herumredet. Er proklamiert »Toleranz« gegenüber der Homosexualität, leugnet aber ihre prinzipielle Gleichwertigkeit mit der Heterosexualität. Schon allein mit dieser Attitüde hat er sich als inkompetent für das Thema erwiesen. Er referiert pastorale und moralische Probleme, mit denen nicht angemessen umgegangen werden kann, weil die Bibel die Homosexualität ablehnt; und dies ist unvereinbar mit den Befunden der modernen Naturwissenschaft und der Psychologie. Dieser Bericht ist ein zungenfertiges und herablassendes Dokument, das sich grundsätzlich von dem klar und eindeutig formulierten Pamphlet der Quäker unterscheidet. Beide religiöse Körperschaften haben mit der Last altmodischer Vorurteile fertigzuwerden, doch nur der Arbeitsausschuß der Kirche von England ließ sich davon beeindrucken. Es ist die innere Haltung dem Thema gegenüber, das den Unterschied ausmacht. Ignoranz gegenüber weiblicher Homosexualität ist jedoch in beiden Dokumenten offensichtlich. 1963 gab es nur wenige Publikationen über lesbische Liebe, doch 1975 war bereits beträchtliches Material zum Thema vorhanden. Die Äußerungen des Quäker-Pamphlets über lesbische Frauen haben keine Relevanz für deren wirkliche Situation. Es sind Wiederholungen all der Irrtümer, die bereits seit Jahrzehnten herumgeistern. Die Zitate aus meinem Buch »Love between Women«, die in dem Bericht der Kirche von England vorkommen, sind korrekt, doch verschleiern sie die prägnantesten Ergebnisse meiner Untersuchung. Keines der beiden Dokumente bringt die Bedeutung der lesbischen Liebe in der modernen Gesellschaft zum Ausdruck, so als ob es sich nur um eine illusionäre Sache handele. Die Schlußfolgerung, die man aus beiden Publikationen ziehen könnte, ist die, daß Frauen als das »andere Geschlecht« gelten und Homosexualität eher eine Sache unter Männern ist. Männer und heterosexuelle Frauen können sich der lesbischen Liebe nicht wirklich stellen, weil sie sich vor dem endgültigen Kollaps der patriarchalischen Gesellschaft und ihrer Werte fürchten.
Die Unangemessenheit des Berichts der Kirche von England überraschte mich sehr, denn das stimmte nicht mit dem Eindruck überein, den ich von dem Arbeitsausschuß gewonnen hatte, als ich zu seinen Mitgliedern zum Thema weibliche Homosexualität sprach. Ich hielt sie damals für aufgeschlossen gegenüber meinen Erklärungen. Sie hatten mir aufmerksam zugehört und zustimmend genickt, als ich ihnen meine Forschungen und Ansichten über lesbische Liebe erklärte. Einer von ihnen - ein Jurist - versuchte mich allerdings zu widerlegen, indem er die Ansicht vertrat, die ganze lesbische Situation sei eine Art »falscher Alarm«, da doch mehr als 25 Prozent der von mir untersuchten Frauen verheiratet wären, ein Status, den er mit Heterosexualität gleichsetzte. Er hat zumindest mein Buch gelesen, dachte ich mir, nur hatte er daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Also korrigierte ich ihn, und er akzeptierte meine Erklärung widerstrebend. Die anderen Mitglieder schienen mir vollkommen zuzustimmen. Ich sprach zu dem gesamten Arbeitsausschuß, wechselte jedoch einige persönliche Worte mit dem Vorsitzenden, dem Bischof von Gloucester. Er beeindruckte mich als ein Mann von beträchtlicher Intelligenz und Scharfsicht. Nicht ohne amüsiert zu sein, mußte ich ihm widersprechen, als er nach Beendigung meines Vortrages bemerkte: »Wir müssen diesen Menschen gegenüber tolerant sein.« Blitzschnell antwortete ich ihm: »Sprechen Sie nicht von Toleranz, Bischof. Toleranz ist Herablassung, die ihr Objekt abwertet. Wenn sie homosexuellen Menschen erzählen, daß man ihnen gegenüber tolerant sein muß, kann es sein, daß sie Ihnen antworten: >Zum Teufel mit Ihnen<. Juden würden sich ähnlich angegriffen fühlen, wenn sie in solch herablassender Weise behandelt werden würden.« Der Bischof lächelte mich »tolerant« an, doch er hatte mich verstanden. Er lud mich dann ein, ihn immer, wenn ich in Gloucester war, zu besuchen.
Der Bericht des Arbeitsausschusses jedoch erwähnte zwar mein Buch, nicht aber meinen Besuch. Hatte ich mich zu eindeutig geäußert, oder war es nur ein Versehen, wie man mir versicherte? Der Bischof von Gloucester beschwichtigte meine Zweifel. Er entschuldigte sich für die Weglassung meines Namens und versicherte mir, wenn ich wollte, könne er bezeugen, daß ich dort gewesen sei.
Seit meinem sechsten Lebensjahr spielte die Religion in meinem Leben eine Rolle. Als Kind fühlte ich mich depriviert, daß ich nicht wie meine Schulkameraden von Jesus geliebt und beschützt wurde, weil ich Jüdin war. Wie betete ich zu Jesus, nicht von Ihm aufgegeben zu werden! Wie enttäuscht war ich über die jüdische Sonntagsschule, ein trauriges Surrogat für das, was ich bei der Höheren Töchterschule so vermißte. Wir lernten zwar hebräische Texte zu lesen, erfuhren aber nichts über ihre Bedeutung. Dieser Mangel war der erste von vielen Steinen, die meinen Weg zum Judaismus versperren sollten. Und als ich als Jugendliche gelegentlich die Synagoge besuchte, wurde mir zunehmend der jüdische Gottesdienst vergällt. Ich weiß nicht, ob es die hohle Dumpfheit dieses »Gottesdienste« war, die veranlaßte, daß ich mich der jüdischen Vergangenheit zuwandte. Jedenfalls las ich begierig das Alte Testament und die Geschichte der Juden. In meiner Phantasie assimilierte ich das Gelesene, doch ich erlaubte es meiner Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte nicht, in mir Zweifel über meinen deutschen Status zu erwecken. Die Propheten inspirierten meine Phantasie, und die bemerkenswerten Juden, die im Spanien des Mittelalters lebten, gaben mir ein Gefühl von Stolz, Glanz und Ehrfurcht. Das elfte und die erste Hälfte des zwölften Jahrhunderts war ihre glorreiche Zeit. Es waren die Juden, die auf den Gebieten der Wissenschaft, Medizin, Dichtkunst und Politik herausragende Leistungen erbrachten. Beispielsweise war der Leibarzt von Alphonse VI. ein Jude. Ausgesprochen respektiert und bewundert, erfüllten sie hohe Ämter an den muslemischen Höfen. Sie schrieben - auf hebräisch oder arabisch - philosophische und religiöse Traktate und waren ausgezeichnete Dichter und Ärzte.
Jehuda Halevi, einer der führenden Dichter der damaligen Zeit, drückte in seinen Oden seine Sehnsucht nach Zion aus, trotz seines Ruhmes und der Ehrungen, die ihm in seinem Geburtsland Spanien zuteil wurden. Auch sein enger Freund Moses Ibn Ezra vergaß seine Wurzeln nicht. Viele spanische Juden waren Ärzte, und Halevi selbst praktizierte im christlichen Toledo. Gegen Ende von Halevis Leben wurden die Juden von einer fanatischen Moslemsekte verfolgt, doch seine Sehnsucht nach dem Heimatland hatte einen tieferen Ursprung als die Kreuzzüge der Angst. Juden haben sich in guten und schlechten Zeiten immer entwurzelt gefühlt, seit Nebukadnezar sie vor etwa 2400 Jahren ins Exil trieb. Es war der weise Maimonides, der sogar noch stärker als die anderen jüdischen Philosophen und Dichter in Spanien meine Phantasie anregte. Seine Lehre, seine Weisheit, die philosophischen und religiösen Traktate, die er schon in frühem Alter schrieb, machten ihn zu dem außergewöhnlichsten Menschen, von dem ich je gehört hatte. Im mittleren Alter ging er aus Spanien nach Ägypten, wo er als Arzt praktizierte und Leibarzt des Sultans Saladin wurde. Maimonides repräsentierte für mich das erlesenste Beispiel jüdischer Intelligenz und Spiritualität. Ich verehrte sein Bild wie ein Jünger seinen Meister und machte ihn zum Vorbild meiner eigenen Bestrebungen.
Träume und Tagträume haben ihr eigenes Zeitmaß. Man kann seine eigene geistige und körperliche Größe in der Phantasie beliebig steigern. Während Maimonides für mich das Bild geistiger Perfektion und ein Symbol vergangener Spiritualität wurde, nährte mich das Alte Testament mit religiösen Weisheiten in der Gegenwart. Noch bevor ich 20 wurde, war mir König Salomon - der Prediger - das, was Christus seinen Anhängern bedeutet. Wenn ich überhaupt irgendeine Religion habe, dann die des Predigers.
Der Konflikt über meine fehlgeschlagenen Besuche in der Synagoge betraf auch die unterlegene Position der Frauen in der jüdischen Gesellschaft. Warum protestierten sie nicht, fragte ich mich. Sie waren selbstverständlich zu Hause die »grauen Eminenzen«, und doch hätten nur wenige Männer mit ihnen tauschen wollen. Meine Empörung war so stark, daß ich unserem Rabbi eine entsprechende Frage stellte. Dr. Kaelter, ein kleiner Mann, der bis auf wenige blonde Locken an beiden Seiten des Kopfes kahl war, stimmte mir vollkommen zu. Ja, es sei skandalös, den Frauen beim Gottesdienst eine solch untergeordnete Position einzuräumen und sie von den Männern abzutrennen, als »zweitrangige« Diener Jehovas. Aber er konnte an diesem alten Brauch nichts ändern. Dieser Mann mit seinen klugen Augen und der blassen Haut war ein Gelehrter mit progressiven Ansichten über die Stellung der Frau in der Gesellschaft und die jüdische Lehre im allgemeinen. Wir schwärmten beide gemeinsam für die jüdische Geschichte und bewunderten die spirituelle Kraft und den Mut unserer Vorfahren in glücklichen und unglücklichen Zeiten. War es paradox, daß ich unfähig war, meine eigene jüdische Identität durch das Gelesene zu finden? Ein Paradoxon kann ein Schutzschild sein gegen polarisierende Kräfte, die mit dem geistigen und emotionalen Gleichgewicht unvereinbar sind. Die deutsche Sprache und Kultur war der Grund, auf dem ich stand - wenn es anders gewesen wäre, hätte ich mich auf Treibsand befunden.
Der Schock der Verfolgung durch die Nazis etablierte meine jüdische Identität und beseitigte mit einem Schlag die Überzeugung, daß ich eine Deutsche war. Von da an fühlte ich mich einem verfolgten Volk zugehörig, ohne an ihrer Religion festzuhalten.
Caroline, die geborene Missionarin, versuchte unaufhörlich, mich zum christlichen Glauben zu bekehren. Sie brachte mich dazu, das Neue Testament zu lesen, was ich allerdings nur ihr zuliebe tat. 22 Jahre zuvor war Lady Ottolines Geschenk einer deutschen Bibel für mich ein Zeichen ihrer Zuneigung gewesen und wohl weniger als Anreiz, Trost in Christi Lehre zu finden, gedacht. Allein die Liebe zu Caroline führte dazu, daß ich ernsthaft versuchte, etwas mehr über Jesus Christus zu erfahren. Caroline lächelte mich bei solchen Gelegenheiten immer versonnen an, und sie gab 26 Jahre lang ihre Hoffnung nicht auf, aus mir doch noch eine Christin zu machen. Immer wieder meinte sie: »Ich weiß, daß Du eines Tages eine Gläubige sein wirst.« Dies ist nie eingetreten. Statt dessen bestätigte sich mein Verdacht, daß Religion wie jede Medizin ein mögliches Gift ist: In der richtigen Dosis eingenommen kann sie guttun, aber zuviel davon ist zerstörerisch. Ich bin allerdings sicher, daß das schwindende Christentum in der westlichen Welt zur Zersetzung der Gesellschaft beigetragen hat. Die meisten Menschen brauchen den ethischen Kodex der Religion, um sich um andere Menschen zu kümmern, um ihre Selbstachtung, ihren Stolz auf die Arbeit, ja sogar ihre Vitalität aufrechtzuerhalten. Der Materialismus ist das deformierte Kind der Gottlosigkeit. Er hat dazu geführt, daß die modernen Gesellschaften in den Abgrund der Selbstzerstörung fallen. Der Humanismus ist eine Sache für die Wenigen, deren Einsicht und Urteilskraft die Religion durch die ethische Lehre wahrer Werte ersetzen kann.
Das Christentum hielt mir nicht stand. Meine Religion war die Poesie. Die Freuden und Schmerzen einer geistigen Geburt, Worte zu prägen, verwiesen mich auf eine Kraft jenseits meines persönlichen Selbst. Für mich war die Poesie eine Berufung, die Philosophie der Gipfel alles Lernens, und Medizin ein Mischlingskind von Kunst und Wissenschaft.
Doch wurden weder Poesie noch Philosophie zu einem Beruf für mich. Ursprünglich hatte ich Philosophie studieren wollen, nicht Medizin. Allerdings: Wie dankbar war ich schon in meiner deutschen Zeit, daß ich diesen Weg eingeschlagen hatte: Ich erkannte, daß die Medizin ein Nährboden für die Poesie sein konnte - und ein Gegengift gegen zuviel Innerlichkeit. Meine rationale Entscheidung rüstete mich nicht nur für ein unabhängiges Leben, sondern nährte auch meine Phantasie durch menschliche Erfahrungen. Ich fragte mich, ob meine spanischen Vorfahren, Halevi, Maimonides und Ibn Ezra, zu einer ähnlichen Schlußfolgerung gekommen waren, als sie gleichzeitig als Ärzte praktizierten, während sie Dichter und Philosophen waren. Es scheint ein natürliches Bindeglied zwischen Literatur und Medizin zu geben. Spanische Dichter jüdischen Ursprungs praktizierten Medizin im frühen Mittelalter. Anton Tschechow, der Dramen und Kurzgeschichten schrieb, ist ein Beispiel für das 19. Jahrhundert - und Somerset Maugham, Gottfried Benn und A. J. Cronin für das 20. Man kann mit Recht vermuten, daß es über die Jahrhunderte noch viele weitere Beispiele dieser Art gegeben hat.
In der modernen Medizin steckt noch viel von der ehemals parareligiösen Heilkunde. Und hinter dem Arzt steht oft heute noch der Schamane, der ihn seine Aufgabe eher kunstvoll als authentisch erfüllen läßt. Kleidung und Manierismen des »Doktor-Priesters« haben sich geändert, doch sein Bestreben ist immer noch dasselbe. Solche Attitüden erfüllten bei Menschen primitiver Gesellschaften ihren Zweck, versagen jedoch in der modernen Welt. Ärzte haben viel von ihrem Prestige durch Anmaßung verloren. Ihre Diagnosen erwiesen sich häufig als fraglich und unvollkommen. Das Gefühl der Überlegenheit und Macht raubte ihnen den wirklichen Kontakt zu ihren Patienten. Ihr Verhalten am Krankenbett und der falsche Mythos »überlegener« Kenntnisse funktionieren nicht mehr. Sie gelten nicht mehr unbegrenzt als Experten, und die medikamentöse Behandlung mit Drogen und ihre schädlichen Nebeneffekte haben dazu geführt, daß sich viele Menschen von der Medizin ab- und Naturheilverfahren oder anderen Formen unorthodoxer Behandlung zugewandt haben. Das Image des Arztes hat eine irreversible Wendung zum Schlechten genommen, vom jovialen Paternalismus zum Computer-Agenten. Die schlimmste Sünde dieses Berufsstandes ist die mangelnde Anteilnahme an den Patienten, die Kälte des Herzens. Die tadelnswertesten Vertreter ihres Standes sind jene Psychiater, die sich in der »Buddha"-Rolle gefallen und falsche Machtvorstellungen haben. Sie geben vor, alles besser zu wissen als alle anderen. Es gibt natürlich Ausnahmen. R.D.Laing und Thomas Szasz haben beispielsweise die falsche Position der Psychiatrie erkannt und versuchen, sie in Wort und Tat zu verbessern. Ich habe mich bemüht, meinen Patienten von Mensch zu Mensch zu begegnen und die Maske einer »Priesterin der Seele« abzulegen. Das Wort »Psychiater« bedeutet »Heiler der Psyche« und statten den Betreffenden leider mit dem Mantel einer »höhergestellten Person« aus. »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« (Matthäus VII, 20), ist ein angemessenes Motto für diesen Berufsstand. Die Früchte einer psychischen Behandlung reifen allein durch die Macht der Liebe, in einer Atmosphäre der Kälte und des Rollenspiels können sie nicht gedeihen. Dies bringt Psychiater in eine mißliche Lage. Wie viele von ihnen können ihren Beruf wirklich mit Liebe ausüben? Die Antwort ist - Schweigen.
Der sich vermindernde Glaube an die Medizin bereitet den Ärzten seit einiger Zeit beträchtliche Sorgen. Eine Art Revolte gegen konventionelle Behandlungsmethoden hat bei vielen Ärzten begonnen, die die Gefahren der Medikamentenbehandlung erkannt und angefangen haben, dem am besten ausgerüsteten Arzt mehr Beachtung zu schenken: der Natur.
In den 20er Jahren hatte eine andere Revolution die Ärzte auf das Bedürfnis nach Geburtenkontrolle aufmerksam gemacht, die psychologische Beratung einschließen mußte. Die Psychoanalyse hatte zu der Einsicht beigetragen, daß medizinische Fürsorge nicht von psychologischem Verständnis, sozialer Fürsorge und Familienplanung getrennt werden kann. In jenen Tagen war das Prestige der Ärzte als »Missionare« einer gesunden und besseren Welt noch ungebrochen. Jetzt haben sie an Boden verloren, denn durch die mangelnde Zuverlässigkeit ihres Wissens, das von einer Methode zur anderen wechselt, ist das Vertrauen in ihre Behandlung geschwunden. Die Medizin und insbesondere die Psychiatrie müssen eine Kehrtwendung machen, um sich an moderne Bedürfnisse und Anforderungen anzupassen. Sie behaupten, wissenschaftlich vorzugehen, doch sie können nicht mehr überzeugen. Das gleiche gilt für die Psychologie. Psychologen haben vergessen, daß ihre Wurzeln mit denen der Philosophie und der Poesie verflochten, und daß die Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur unscharf sind.
Konventionelle Medizin und Psychologie waren mir schon früh suspekt. Was ich ersehnte, war eine Einheit von Medizin, Wissenschaft und Kunst. Ich strebte an, die unerkundeten Gebiete des Geistes zu untersuchen, die bis dahin unbekannte menschliche Fähigkeiten zutage fördern könnten. Psychologische Forschung war der Brennpunkt, in dem sich meine verlorene Poesie mit der neuen - bei meinen Entdeckungen erlebten - Begeisterung verschmolz. Sie gab mir den Atem des Lebens wieder, den ich für mein spirituelles Überleben brauchte. Zur gleichen Zeit sicherte sie mir meinen sozialen Status und mein finanzielles Auskommen.
Poesie und Forschung waren die Höhepunkte meines Lebens, die Wegzeichen meiner Entwicklung. Solange es Richtung gab, gab es auch Inspiration und Hoffnung. Doch lange Strecken wurden in Dunkelheit zurückgelegt, als Depression und Ruhelosigkeit die kreativen Bestrebungen in eine Ecke meines Geistes verwiesen. Die Zeit in Malvern schien sich endlos hinzuziehen, denn sie stellte den einzigen Ersatz für Heim und Familie dar, den ich seit meiner Kindheit gefunden hatte. Und sie führte dazu, daß sich meine überanstrengten Nerven entspannten. Doch gleichzeitig war sie eine Art Zwischenspiel, denn sie verband annähernd die Zeit nach dem Krieg mit der jetzigen. Es gab ein »vor« und ein »nach« Malvern. In der Reflektion scheinen beide ruhelose und eingespannte Zeiten zu sein. Die Anziehungskraft des »Nachhausekom-mens« fehlte seit Carolines Tod, als Malvern seine Bedeutung für mich verlor und nur zu einem Ausflugsort wurde. Hazelwood und das spätere Haus in Malvern Link hatten ihren Zweck erfüllt, ob ich mich nun über seine Bewohner nur einer Illusion hingegeben hatte oder nicht. Ich glaube, daß ich mich nicht geirrt habe, solange Carolines sinnliche Zuneigung vorhanden war. Doch der Boden wurde schwankend, als sich schließlich ihr Hauptaugenmerk auf ihre Familie, auf Christus und darauf richtete, Gutes zu tun. Alte Menschen kehren zu ihren Wurzeln zurück. Ein gebeugter Rücken betrachtet den Boden, wo alles begann. Doch mit der Zeit machte es mir nichts aus, ob ich an erster, zweiter oder dritter Stelle kam. Ich bestand darauf, verankert zu bleiben, auch wenn die Vertäuung unsicher schien. Illusion ist ein Teil des Lebens und menschlicher Beziehungen. Wir brauchen sie so sehr wie die Luft zum Atmen. Ein Nest war für mich bereitet worden, und ich fügte manche guten Gaben hinzu, um seine leeren Stellen zu füllen. Ich konnte mich dort in Frieden bewegen, ein Buch beginnen oder beenden, einen Ausflug in die Umgebung machen oder in der belebenden Luft der Hügel von Malvern Spazierengehen. Wenn ich schließlich nicht ohne »Berechnung« handelte, gab ich Zuneigung für etwas zurück, das ich planvoll erhielt. Es ist eine weitverbreitete Annahme, daß wir dieselben Verhaltensmuster immer wieder im Leben wiederholen. Frühe Eindrücke mögen verantwortlich dafür sein, daß wir eine grundlegende Form bekommen, die später in strukturierte Muster geformt wird. Wahrheit oder Halbwahrheit - das ist die Frage. Ich entscheide mich für das letztere. Viele Dinge können zeitlebens geschehen, um diese Muster zu ändern, etwa Schockerfahrungen, Krankheit, eine emotionale Implosion oder geistige Erleuchtung. Wenn die Phantasie bewegt oder bereichert wird, hat der Geist die Vorherrschaft.
Negative Emotionen bleiben uns ewig im Gedächtnis. Nicht nur verleiten sie zu selbstquälerischen Gedanken, sie prädestinieren auch zu Wiederholungen. Wenn wir alte Irrtümer wiederholen und den Ausweg aus einer Falle nicht finden können, werden wir möglicherweise nervlich oder körperlich krank. Dies ist der Zeitpunkt, sich zu fragen, warum man sich einsperren muß und so viel Zeit des Lebens mit Selbstzweifeln, Depressionen und ängstlicher Aufregung verbringt. Sind wir gezwungen, zu den selbstzerstörerischen Fixierungen in Kindheit und Jugend zurückzukehren, wie viele Psychoananytiker glauben? Dies mag für einige zutreffen, aber keineswegs für alle. Ich glaube an eine tiefere Ursache für diese seelischen Schmerzen: Langeweile, dieses heimtückische menschliche Leiden. Selbst elterliche Fürsorge und eine phantasievolle Beziehung können weder Erwachsene noch Kinder vor diesem lähmenden Geisteszustand bewahren. Wenn Ichschwäche und Neurose deren lethargisch machenden Effekt noch verstärken, können die Bewegungen, die man auf andere zumacht, gehemmt genug sein, um sich auf emotionale Beziehungen negativ auszuwirken. Das Bedürfnis nach Schutz und mütterlicher Wärme wird dann überstark. Langeweile kann sowohl Ursache wie Ergebnis von Depression sein und wirkt sich in jedem Fall als geistiges Gift aus. Langeweile steht an der Spitze der schlimmsten sozialen Übel, und die Hauptaufgabe jeder zukünftigen Gesellschaft wird darin bestehen, mit ihrer durchdringenden Zerstörungskraft fertig zu werden. Ich bin davon überzeugt, daß das Bedürfnis nach Reisen, nach neuen Eindrücken und Liebesaffären, ja selbst kreative Anstrengungen nichts weiter als Sicherheitsventile gegen die Langeweile sind.
In meinem eigenen Leben wurden intime Zuneigungsgefühle von einem Schrei nach Hilfe - und von Langeweile diktiert. Ich ging von einer »mütterlichen« Figur zur anderen, die mir bei der Eintönigkeit des täglichen Lebens helfen sollte, während meine Sehnsucht nach glanzvollen Menschen in kurzen und ekstatischen Begegnungen explodierte oder der Phantasie überantwortet wurde. Häufig versuchte ich, aus diesem Verhaltensmuster herauszukommen, das Enttäuschung und Langeweile nicht minderte. Keine andere Medizin als kreative Unternehmungen und die Liebe konnten diese geistige Lähmung heilen. Die Ekstase der Forschung allein war keine befriedigende Antwort; sie beseitigte das Vakuum nicht. Erotische Liebe und mütterliche Fürsorge waren nötig, um ein stabileres Gleichgewicht von Körper und Geist zu erreichen. Erst dann konnte die Langeweile zurückgedrängt werden.
Die Einzigartigkeit von Malvern bestand, kurz gesagt, in meiner Vorstellung, daß ich ein altes und unbefriedigendes Lebensmuster geändert hatte, daß mein Ausblick auf andere und meine Selbsteinschätzung erweitert wurden. Und doch blieb das Bedürfnis nach Liebe und mütterlichem Schutz. Tatsächlich war es dieselbe Situation in veränderter Umgebung. Es ist wirklich wahr, niemals zuvor hatte ich Menschen mit einem solch erlesenen Geschmack und perfekten Manieren getroffen. Ich war in die höhere Klasse aufgestiegen. Ihre Kultur und ihr savoir vivre wurde eine Schule verfeinerter Kunst des Genießens, konnte aber den Rückzug in eine kindgleiche Abhängigkeit nicht ändern. Aber ich hatte wenigstens einiges gelernt. Mein Leben mit ihnen hatte mich gelehrt, ohne Zorn und das Bedürfnis fortzulaufen, bei ihnen zu sein - und beiseite stehen zu können, wenn die Aufmerksamkeit nicht mehr auf mich konzentriert war.
Erfahrung ist ein strenger Zuchtmeister und ein schlechter Lehrer. Wenn sie uns nicht hart genug trifft, machen wir weiterhin dieselben Fehler. Individuen und ganze Nationen sind gleichermaßen unfähig, aus Erfahrungen zu lernen. So hat beispielsweise das Land, in dem ich jetzt lebe, immer noch nicht begriffen, daß es nicht länger eine Großmacht ist. Deutschland jedoch hatte sein Wirtschaftswunder nach der Beinahe-Zerstörung durch den Krieg. Die Deutschen haben ihr Land wieder erschaffen. Es erstand wie der Phönix aus der Asche. Wie die Nation, so die Bürger. Ohne Niederlage und ohne die Liebe zu Menschen und Ideen hinterlassen Erfahrungen keine bleibenden Spuren im Gedächtnis. Das Lernen bleibt oberflächlich und unwirksam, wenn es nicht die Tiefen der Emotion berührt. Intellektuelle Einsicht in die eigenen Lebensbedingungen kann nicht ein unglückliches Lebensmuster in ein positives verwandeln. Emotionales Lernen ist ein langsamer Prozeß Schritt für Schritt, bei dem Irrtümer und Rückschläge unvermeidlich sind. Keine äußere Instanz kann uns die Kunst lehren, eine uns unbequeme Haut für eine bequeme einzutauschen. Letztendlich kann ein Erneuerungsprozeß nur vom eigenen Selbst kommen. Die Psychoanalyse und andere psychologischen Behandlungsformen bemühen sich, in ihren Klienten emotionale Veränderungen herbeizuführen, doch ihre publizierten Erfolge sind anzuzweifeln. Es mag zwar sein, daß man neue Emotionen in einer Laborsituation erlebt, doch sie hinterlassen keine bleibenden Spuren. Sie verschwinden draußen im Leben, wenn die Krücken der Analyse einem wieder abgenommen werden. Methoden, die sich - notwendigerweise - auf verbale Kommunikation verlassen, verfälschen die Authentizität innerer Geschehnisse. Diese nämlich haben eine ganz eigene, nicht-verbale Sprache, und Worte können niemals ihre Bedeutung erfassen. Daher wird die Psychoanalyse selten mehr als nur einen intellektuellen Bodensatz der Selbsterkenntnis hinterlassen. Doch Selbsterkenntnis allein bringt noch keine Veränderung hervor. Einige Therapeuten, die sich dieses Dilemmas bewußt sind, haben versucht, neue Behandlungsformen zu finden.
Gestaltpsychologen beispielsweise begegnen ihren Klienten von Mensch zu Mensch und verlassen sich auf die nicht-verbale Sprache. Sie beobachten Haltung, Gestik und Gesichtsausdruck, die wahren Indikatoren innerer Ereignisse. Und sie versuchen, Manierismen und Rollenspiel abzulegen.
Auch einige andere Therapien verwenden neue Behandlungsmethoden, beispielsweise die Transaktions-Analyse und die Encounter-Therapie. Sie versuchen, den Klienten Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Doch ich fürchte, diese Therapien sind ebenso gut gemeint wie zum Scheitern verurteilt. Dies trifft besonders auf die Encounter-Therapie zu. Eine anonyme Gruppe von Menschen versucht, sinnlichen Kontakt untereinander aufzunehmen, mit anderen Worten: mit verbundenen Augen etwas über sich selbst und andere zu lernen. Dieses Vorgehen führt eher zu einer Beschneidung sensitiver Bewußtheit als zu deren Entwicklung. Nur wenn man sich Zeit läßt und die Augen offenhält, kann man sich selbst und anderen näherkommen, nicht jedoch in einer Art wilder Verfolgungsjagd in einer künstlichen Situation. Künstlichkeit und Befangenheit blok-kieren das eigentliche Thema: Authentischer Kontakt mir dem anderen ist ohne persönliche Verbindung nicht möglich.
Auch professionell erteilte Ratschläge über Techniken des Geschlechtsverkehrs gehen am wesentlichen Punkt vorbei: Nur emotionale Liebe rettet sexuelle Handlungen vor der Sinnlosigkeit. Ohne sie ist die ganze körperliche Akrobatik nichts weiter als eine hohle Schale. Eine künstliche Erziehung zu erfolgreicher sexueller Praxis trifft nicht das Entscheidende der Situation. Das Wissen um körperliche Freuden stammt aus autodidaktischen Lernerfahrungen in der Kindheit. Was zählt, ist eine frühe sinnliche Erfahrung seiner selbst und anderer Menschen. Sie sollte durch elterliche Zensur und religiöse Tabus nicht frustriert oder verboten werden.
Jüdische und christliche Einstellungen zur Sexualität sind größtenteils verantwortlich für die Fehlerhaftigkeit der Beziehungen unter Erwachsenen. Doch der ärmliche Ersatz, den Erwachsenen neue Tricks beizubringen, tötet die Spontaneität und fördert reine Effekthascherei. Übungsstunden in sexueller Praxis haben die körperliche Liebe ebenso zum Gespött gemacht wie der religiöse Puritanismus.
»II faut corriger la fortune« (G.E. Lessing, »Minna von Barnhelm«), die Maxime des Delinquenten, beschreibt die »Manipulationen«, die der Mensch über Jahrhunderte anwendete, um seine Situation zu verbessern. Meist stimmt irgend etwas nicht, sei es in Beziehungen zu anderen oder bei sich selbst. Die drohende Erwartung des Verlustes folgt den Menschen wie ein Schatten. Sie kann sich als ein Anreiz auswirken, die eigene Voraussicht und das Verhalten zu verbessern, denn ohne das dauernde Streben nach Verbesserung der eigenen Person und Situation würden wir vor Langeweile sterben, und die Gesellschaft würde auseinanderfallen. Doch die Vorstellung absoluter Perfektion in beiderlei Hinsicht ist der Weg zum Selbstmord. So sehr wir auch anderen und uns selbst Unzulänglichkeit verübeln, ohne ein gewisses Ausmaß davon könnten wir nicht existieren. Perserteppiche selbst der allerbesten Qualität enthalten immer einen kaum sichtbaren eingewebten Fehler, aufgrund eines unausgesprochenen Befehls - weder Gott noch die Menschen zu beleidigen. Westliche Gesellschaften scheinen weniger sensibel zu sein als die persischen Teppichweber. Derart mit halbgaren Gedanken und unsensiblem Verhalten beschäftigt, kommen uns Rechtfertigungen nur allzu schnell über die Lippen. »Entschuldigung« oder »Tut mir leid« sind Sätze, die zu den am häufigsten verwendeten gehören. Was wir damit erreichen wollen, ist eine Absolution für Taktfehler und falsche Handlungen, ohne dafür bestraft zu werden.
Lessings Bonmot ist mir, seit ich seine Stücke in der Schule gelesen habe, immer im Gedächtnis geblieben. Zusammen mit dem Motto meines Vaters: »Tue Recht und scheue niemand«, bildete es meine erste sogenannte Lebensphilosophie. Beide Sprichworte haben mir durch viele Schicksalschläge hindurch geholfen. Sie sind widersprüchlich, das macht ihre besondere Attraktivität aus. Einerseits »das Schicksal zu manipulieren«, andererseits ehrlich zu sein, erfordert Erfindungsgabe und geistige Flexibilität. Wir erreichen keine Änderung unseres Mißgeschicks und Unglücks, indem wir uns selbst und andere beschuldigen. Doch wir können dazu verführt werden zu glauben, wir könnten dem Schicksal mit einem kleinen »Anstoß« nachhelfen. Wir fliehen in eine andere Umgebung, weil wir hoffen, daß sich das Blatt unseres Schicksals wieder wenden wird, oder wir versuchen, eine unangenehme Situation durch Diplomatie zu bereinigen. »Mach, daß das Glück sich Dir zuwendet, aber achte darauf, daß Du nicht entdeckt wirst.« Ein solcher Grundsatz kann der Hebel werden, der einen aus einer unerträglichen in eine Situation voller Möglichkeiten heraushebt. Wie oft verwenden Menschen diese diplomatische Kunst, um einen Geliebten zu halten, den sie sonst verlieren würden, oder einen zu bekommen, der sonst auf ihre Avancen nicht reagiert hätte! »Bei der Liebe gibt es immer einen, der leidet, und einen, der sich langweilt«, erzählte mir einmal die Prinzessin Edmonde de Polignac mit einem versonnenen Lächeln, und ich vermutete, daß nicht sie es war, die litt.
Unser Leben schreitet mit seinen Höhen und Tiefen von einem Zwischenstadium zum anderen. Die Zwischenzeiten sind entweder vollgepackt oder leer, fruchtbar oder fruchtlos, je nach den Mustern, die wir entwickelt haben. Einige Menschen sind sich dessen voll bewußt, andere erkennen diese Muster nur vage und viele überhaupt nicht.
Das Leben selbst ist ein Zwischenspiel zwischen Geburt und Tod. Diese beiden riesigen Pfeiler halten es aufrecht und geben ihm die einzige mir sinnvoll erscheinende Bedeutung. Vor der Geburt war nichts, und danach wird es wahrscheinlich ebenso sein. Das Leben ist eine Zeitspanne vom Nichts zum Nichts. Die Geschichte unseres Lebens mag sich im Gedächtnis derjenigen widerspiegeln, die mit uns beschäftigt sind. Doch warum wollen wir Ewigkeit und Unsterblichkeit, wenn die condition humaine nicht darauf angelegt ist? Wir suchen nach »Gestalt«, nach einem un vernichtbaren Profil unserer selbst. Wir finden es momentan in der Extase der Liebe und der Kreativität. Dann ergreift ein Gefühl von Omnipotenz von uns Besitz, und der Tod hat keine Herrschaft über uns. Doch wahrscheinlich täuschen wir uns, wenn wir zu dem Ergebnis kommen, daß unsere persönlichen Höhepunkte kosmische Bedeutung haben können. Andererseits: Sie könnten ein Funken des göttlichen Feuers in unserem zerbrechlichen Leben sein. Jedenfalls können wir weder ihre Realität noch ihre Bedeutung erkennen. Ich weiß nur von einem Ereignis dieser Art, das ich in meiner Jugend hatte; sein Wunder kam unerwartet, seine Bedeutung jedoch blieb mir verschlossen.
Ob wir nun Humanisten sind oder nicht, je älter wir werden, desto intensiver ist unser Bedürfnis herauszufinden, ob es Gesetzmäßigkeiten in der Wiederkehr von Ereignissen oder Menschen gibt, so als ob wir in unserem Leben eine Kreisbewegung vollziehen würden. Das Geheimnis der Begegnungen mit der eigenen Vergangenheit ist wie die Wiederkehr von Moden, die sich mit fast mathematischer Präzision ereignet. Wenn solche Ereignisse einer Gesetzmäßigkeit folgen, dann ist es eine, die sich jenseits unseres Verständnisses abspielt. Theorien der Periodizität und der Biorhythmen können sie nicht erklären. Ich kenne genug Menschen, die nach unerwarteten Verbindungen zwischen Personen und Situationen Ausschau halten, die ein »geplantes Muster« in ihrem Leben zu verraten scheinen. Oft sind sie bei der Suche nach beiden erfolgreich. Nur wenige Menschen leugnen, daß es diese Dinge gibt - und daß sie darüber äußerst verwundert sind.
Wenn wir Fremden begegnen, die sich als entfernte Verwandte oder Freunde von Freunden herausstellen, wundern wir uns, »wie klein die Welt ist«. Solche Koinzidenzen geschehen zu oft, um noch als Zufall gelten zu können. Die Vorstellung, daß wir andere Menschen unabhängig von Raum und Zeit durch eine Art Geistesoder Seelen-Verwandtschaft anziehen, wirkt allerdings wenig überzeugend, es sei denn wir können daran glauben, daß Gott seine Hand bei allem was geschieht, im Spiel hat. Der Gedanke eines kollektiven Magnetismus, der bestimmte Menschen zueinander hinzieht und andere zurückweist, scheint weit hergeholt. Seine Auswirkungen müßten verschiedene Kontinente mit einschließen. Und diese Idee erscheint noch merkwürdiger, wenn die »Vermittlungsperson« nichts mit uns zu tun hat. Die Theorie des kollektiven Magnetismus bleibt daher eine offene Frage.
Das Mysteriöse, sei es nun Illusion oder nicht, macht uns alle zu Gläubigen, selbst wenn wir vorgeben, Atheisten zu sein. Ein geheimer Strom unerklärbarer Geheimnisse scheint das menschliche Geschick zu durchziehen. Das ist der »Hof um den Mond« unserer Phantasie.
Wenn es für das Unerklärliche keine Antwort gibt, ruft man das Übernatürliche zu Hilfe. Wer an das Okkulte glaubt, leidet unter dem gleichen Wunschdenken wie der religiöse Gläubige. Beide übergeben das Problem einer höheren Instanz. Koinzidenzen geistiger und emotionaler Reaktionen sind vorhersagbar, nur fälschlich hält man sie für unheimlich. Sie sind größtenteils vom Lernen durch Erfahrung ähnlicher innerer Ereignisse abhängig und dem psychologischen Verständnis zugänglich.
Doch was ist mit der körperlichen Ähnlichkeit zwischen absoluten Fremden, deren Leben sich hunderte von Jahren auseinander und an entgegengesetzten Enden Europas abspielt? Als ich eines Tages mit meinem Cousin durch die Alte Pinakothek in München schlenderte, blieben wir sprachlos vor dem Portrait eines der Höflinge Philips IV. von Spanien stehen, das Velasquez gemalt hat. Wir starrten uns an. War dieser Mann, der dieselben Gesichtszüge, Lippen und Augenbrauen, denselben Haar- und Bartansatz wie mein Cousin hatte, unser Vorfahr? Kein Mitglied der Familie hatte solch eine verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Cousin. Möglicherweise war der dargestellte Mann ein Marranne, ein konvertierter Jude, der unerkannt am Hof lebte. Hatte die Kunst der Natur dieselben Formen reproduziert, wie sie für eine Rasse, unabhängig von Zeit und Raum, charakteristisch sind? Dies konnte jedoch die Präzision der Gesichtsdetails, sogar des Ausdrucks in den Augen, der eine solch individuelle Eigenart meines Cousins war, nicht erklären. Dieses Erlebnis war so gewaltig, daß ich immmer noch den Schock der Erkenntnis, die es vermittelte, empfinde. Die Natur kann unglaubliche Formen hervorbringen, doch diese Überlegung gibt auf mein Erlebnis keine Antwort.
Das Erlebnis in meiner Jugend hat eine Verbindung zu einem in jüngster Zeit, das mich ebenfalls fassungslos machte. Ich hatte immer schon an den frühen deutschen Romantikern Gefallen gefunden. Als ich noch in der Schule war, hatte ich Bettina von Brentanos Leben der Karoline Günderode viele Male gelesen. Diese rätselhafte Dichterin hatte mich immer fasziniert, weil sie ihrer Zeit voraus und wahrscheinlich bisexuell war. Als ich von Christa Wolfs Buch »Kein Ort. Nirgends« hörte, das von einer imaginären Begegnung zwischen der Günderode und Kleist berichtet, ließ ich es mir sofort schicken. Beide Dichter begingen in Winkel am Rhein Selbstmord, und Christa Wolf beschreibt ihre Charaktere mit solch lebhafter Klarheit, daß ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte, bevor ich es zu Ende gelesen hatte. Eine poetische Passage, die sich auf Kleist bezieht, ließ mich verblüfft hochschrecken. Christa Wolf benutzt das gleiche Bild und mit fast denselben Worten, wie ich sie in meinem Gedicht »Jesaias« verwendet hatte. Hier sind die beiden Stellen:

»Durch die Sohlen seiner Füße brennt das Herzensblut der Erde.«
(Charlotte Wolff)
»Und fühlte den Herzschlag der Erde unter seinen Fußsohlen.«
(Christa Wolf)

Wir haben praktisch denselben Nachnamen. Sie wurde in Landsberg (Warthe) geboren, nicht weit von Danzig, und lebt in der DDR. In ihren Adern fließt wahrscheinlich kein jüdisches Blut, und sie ist 30 Jahre jünger als ich. Das gleiche poetische Bild wird von zwei Frauen ausgedrückt, die sich in fast allem außer der deutschen Sprache unterscheiden - ein sowohl erhebender wie ernüchternder Gedanke. Meiner Ansicht nach ist es ein Wunder, daß ein solch ähnlicher poetischer Ausdruck von zwei Geistern geschaffen werden konnte. Wie ist diese so detaillierte Ähnlichkeit möglich? Diese Frage hat keine Antwort.
Gertrude Stein sprach auf ihrem Totenbett die Worte: »Die Antwort liegt in der Frage.« Sie hatte nur zum Teil Recht. Viele Fragen bleiben, zu meiner Freude, unbeantwortet.