Sexualwissenschaftliche Forschung

Am Beginn meiner sexualwissenschaftlichen Forschungen stand der Aufsatz über weibliche Homosexualität, den ich 1961 schrieb. Er war als Teil meiner autobiografischen Notizen »On the Way to Myself« (»Innenwelt und Außenwelt«) gedacht. Ich faßte damals den Plan, sobald das Manuskript meiner Autobiographie abgeliefert wäre, ein Forschungsprojekt über Lesbianismus durchzuführen, mit dem ich schließlich 1967 begann. Heute frage ich mich, was mich veranlaßt haben mag, mich derart intensiv mit dem Thema zu befassen. Weder meine eigene emotionale Geschichte, noch die Erfahrungen und Beobachtungen, die ich bei Freundinnen, fremden Frauen und Patientinnen gesammelt hatte, waren substantiell genug, um meine intensive Beschäftigung mit der weiblichen Homosexualität zu rechtfertigen.
Eine Freundin von mir war dem ersten lesbischen Kollektiv in England beigetreten, das 1963 gegründet und als »Minorities Research Group« bekannt wurde. Sie gab mir regelmäßig die monatlich erscheinende Zeitschrift dieser Gruppe, »Arena Three« zu lesen. Doch ich mußte zugeben, daß ich auch daran kein besonderes Interesse hatte. Wahrscheinlich hatte ich ein Vorurteil gegen lesbische Gruppen, die nach meiner Ansicht zwangsläufig in ein Getto geraten mußten. Und nichts war mir fremder als eine »professionelle Lesbe« - ein fast zwangsläufiges Ergebnis solcher Gruppenbildung. In meinen Augen war es unsensibel und unzivilisiert, aus einer ganz und gar natürlichen Art zu leben und zu lieben, einen Brennpunkt öffentlicher Diskussion zu machen. Eingedenk solcher Reflektionen und Empfindungen glaube ich heute nicht, daß die damals bestehende lesbische Bewegung viel mit meiner Absicht gemein hatte, die Liebe zwischen Frauen wissenschaftlich zu ergründen. Meine Motive speisten sich aus anderen Quellen. Die Gesellschaft hat aus Männern und Frauen Artefakte gemacht. Die Konsequenzen dieser »Unnatürlichkeit« sind mannigfaltig. Dazu gehört die emotionale Fremdheit zwischen den Geschlechtern; die Unterdrückung angeborener Fähigkeiten der Frau ist eine weitere Folge. Und: Ständig werden falsche Bewertungen über Natur und Platz der Geschlechter in der Gesellschaft vorgenommen. Eine Folge davon ist, daß Frauen emotionales Wohlbefinden und Harmonie besser bei anderen Frauen als bei Männern finden konnten (und können) - eine Schlußfolgerung, die homosexuelle Frauen ganz klar in Theorie und Praxis vollzogen haben. Obwohl ich persönlich nie eine Diskriminierung auf Grund meines Geschlechts erleiden mußte, ist die Macht, die Männer emotional und sozial über Frauen ausüben, einer von vielen Gründen, warum sich meine intimen Gefühle von Zuneigung und Liebe auf andere Frauen richtete. Von Kind an war ich der Überzeugung, daß Liebe selbstverständlich eine »Sache« zwischen Frauen ist. Und als Erwachsene habe ich erkannt, daß die falsche Wertung der Geschlechter vollständig geändert werden muß, wenn sich weibliche Potentiale und weibliche Identität entfalten und etablieren sollen. Wahrscheinlich war es vor allen Dingen der Feminismus, der mich angeregt hat, über weibliche Homosexualität zu forschen. Noch bevor es die Frauenbewegung gab, war mir klar, daß Feminismus untrennbar mit Lesbianismus zusammenhängt. Die lesbische Frau ist die geborene Feministin, denn sie ist frei von emotionaler Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht. Doch die Gesellschaft zwingt sie, sich Männern aus beruflichen und sozialen Gründen anzupassen. Sie muß eine Rolle spielen, um bestehen zu können, und sich oft in ihrer falschen Position Gewalt antun. Diese Überlegungen nahmen in meinem Buch »Love between Women« (erschienen 1971) konkrete Gestalt an. Sie können als Leitmotiv für mein Verständnis der lesbischen Liebe gesehen werden, das, wie ich hoffte, zu einer »Korrektur« der als falsch entlarvten Weltanschauung, auf der unser sozialer Kodex und unser Verhalten beruht, beitragen könnte.
Wissenschaftliche Arbeit war mein geistiges Lebenselixier, und viele Jahre lang hatte ich unter starken Frustrationen gelitten, weil ich keine Forschungsarbeiten durchführen konnte. Jetzt begab ich mich wieder einmal auf die Suche nach unbekannten Daten eines ungewöhnlichen Forschungsgebietes. Das war nur möglich, indem ich die Zahl meiner Patienten reduzierte, doch der unverhoffte Glücksfall einer Erbschaft brachte mich der Verwirklichung meines Wunsches näher. Eine Arbeit, wie ich sie plante, erforderte eine beträchtliche Zahl an Versuchspersonen. Und schließlich mußte ich mich der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern an einer Universität versichern, um die Ergebnisse statistisch auswerten zu können. Statistiken sind für mich eine Art Kurzschrift, von der ich nichts verstehe. Während ich über mein weiteres Vorgehen nachdachte, fühlte ich mich wie ein Schriftsteller, der seinen ersten Roman schreiben will und erschreckt und voller Selbstzweifel auf ein leeres Blatt Papier starrt. Doch das Schicksal war mir wieder einmal wohlgesonnen, so daß ich mit meinem Plan vorwärtskam. Als ich mit meinen Untersuchungen der menschlichen Hand beschäftigt war, hatte ich die richtigen Menschen zur rechten Zeit getroffen. Und etwas Ähnliches passierte mir jetzt. Ruth hatte Antony Grey, damals der Direktor des Albany Trust, kennengelernt und war von seiner Persönlichkeit und seiner Intelligenz sehr beeindruckt. »Du mußt Grey aufsuchen«, empfahl sie mir. »Er könnte der Richtige sein, um Dir bei Deinen Forschungen zu helfen.« An einem Novembertag des Jahres 1967 arrangierte sie für mich ein Treffen mit Antony Grey im Cafe Royal. Ihre Voraussage erwies sich als richtig. Schon in der ersten Stunde unseres Gespräches wußte ich, daß seine Kenntnis rechtlicher und sozialer Lebensbedingungen homosexueller Menschen unübertroffen war. Die Tatsache, daß er sich »der Sache« mit ganzem Herzen gewidmet hatte, seine unaufhörlichen Bemühungen, das Los sexueller Minderheiten zu verbessern, machten ihn genau zu dem Menschen, den ich suchte, um das Material für meine Studie über lesbische Liebe zu finden.
Im Januar 1968 besuchte ich den Albany Trust zum ersten Mal. In den drei kleinen, viel zu engen Räumen herrschte emsige Aktivität. Homosexuelle Männer und Frauen kamen herein, um mit Antony Grey oder Doreen Cordel zu sprechen. Auch Doreen war eine Frau, die sich ihren Aufgaben, die sie unter schwierigen äußeren Bedingungen durchführen mußte, mit ganzem Herzen widmete. Männer und Frauen kamen in großer Zahl, um bei ihr Hilfe zu suchen. Sie war sehr an meiner Forschung interessiert und versprach, mich zu unterstützen. Sie begann sofort damit, indem sie lesbischen Frauen, die bereit waren, sich von mir interviewen zu lassen, riet, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich wurde eine regelmäßige Besucherin des Albany Trusts, und häufig aßen Antony, Doreen und ich zusammen in einem Restaurant zu Abend und schmiedeten große Pläne für weitere Forschungsprojekte oder diskutierten darüber, wie man die Öffentlichkeit über Homosexualität aufklären könnte.
Der Albany Trust hatte mir den ersten »Schwung« Versuchspersonen verschafft. Doch die stärkste Unterstützung meiner Arbeit bekam ich von der lesbischen Minorities Research Group. Ich bat sie, meinen Aufruf nach freiwilligen Versuchspersonen in ihrer Zeitschrift »Arena Three« zu veröffentlichen, doch aufgrund von internen Veränderungen in der Organisation erschien meine Anzeige erst einmal nicht, so daß ich schon fast den Mut verlor, das nötige Material für die Studie zusammenzubekommen. Glücklicherweise hörte ich zu diesem Zeitpunkt von einer neuen lesbischen Gruppe namens Kenric, die 1958 von Diana Chapman, Cynthia Reed und anderen ins Leben gerufen worden war. Ich suchte sie auf, erzählte von meinem Vorhaben, und die Frauen von Kenric versprachen mir ihre Unterstützung. Sie veröffentlichten meinen Aufruf in ihrem Anzeigenblatt und verbreiteten ihn durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Etwa einen Monat später druckte »Arena Three« meine Anzeige gleich zweimal, und so suchten mich lesbische Frauen durch Vermittlung beider Gruppen auf. Obwohl ich auf diese Weise eine beträchtliche Anzahl von Versuchspersonen zusammenbekam, benötigte ich noch mehr. Als im Februar 1969 »On the Way to Myself« erschien, schlug Diana Chapman vor, daß ich darüber vor Kenric-Mitgliedern in der Caxton Hall sprechen sollte. Sie selbst leitete die Veranstaltung, bei der ich über mein Leben und über meine Arbeit sprach, und das Gesagte gefiel offenbar den anwesenden Frauen. Damit hatte ich die letzte Hürde meiner Materialsammlung überwunden. 108 lesbische Frauen kamen schließlich in mein Sprechzimmer, so daß ich jede Stunde des Tages und auch noch die Abende mit Interviews zubrachte. Es war eine wunderbare Zeit, in der ich mehr lernte, als ich für möglich gehalten hatte. Und mit einigen der Frauen freundete ich mich persönlich an. Nachdem 125 Kontrollpersonen ebenfalls von mir interviewt worden waren und beide Gruppen einen Fragebogen ausgefüllt hatten, begann ich den theoretischen Teil des Buches »Love between Women« (Deutsch: Die Psychologie der lesbischen Liebe) zu schreiben. Zur gleichen Zeit lernte ich Dr. Clive Spicer, den damaligen Direktor der statistischen Abteilung des Medical Research Council kennen, der mir seine Hilfe anbot und den statistischen Teil meiner Arbeit übernahm.
Ich hatte eine ganze Menge über das persönliche und berufliche Leben lesbischer Frauen erfahren, über das Versteckspiel, das sie Vorgesetzten und Kollegen gegenüber treiben mußten, über ihre Eltern und ihre heterosexuellen Freunde. Die Interviews bestätigten einige meiner Ansichten über weibliche Homosexualität und fügten neue Erkenntnisse hinzu. Die autobiografischen Beschreibungen, die jede Frau als Teil des Forschungsprojekts geschrieben hatte, waren besonders aufschlußreich. Diese Frauen waren hinsichtlich aller Persönlichkeitsmerkmale mit der Kontrollgruppe vergleichbar. Mit einem Unterschied: Sie waren Menschen mit einem stärkeren Bedürfnis nach Unabhängigkeit und einem insgesamt schärferen emotionalen Profil.
Doch es wurde mir klar, daß individueller Mut und persönliche Integrität die Berge gesellschaftlicher Dummheit und Vorurteile nicht versetzen können. Die Macht des Individuums war im Zeitalter der Gleichmacherei stark zurückgegangen. Im Gegensatz zur Überzeugung glühender Marxisten wird unorthodoxe Liebe von linken Regierungen weniger toleriert als von konservativen. Man braucht nur daran zu denken, wie die Homosexualität in der UDSSR behandelt wurde. Zunächst täuschte man Toleranz vor, um dann das Gegenteil gesetzlich zu verankern. Die autokratischen und »archaischen« Regierungen des mittleren Ostens dagegen hatten nichts gegen männliche Homosexualität einzuwenden. Im Gegenteil, sie wurde als natürliche Art des sexuellen und emotionalen Lebens der Männer betrachtet. (In modernen islamischen Ländern dagegen scheint sich, wie das Beispiel Iran deutlich zeigt, auch in Bezug auf männliche Homosexualität eine Doppelmoral durchzusetzen: Zwar ist es ein offenes Geheimnis, daß die Homosexualität unter Männern weit verbreitet ist, wird sie jedoch ehrlich ausgelebt, wird sie mit der Todesstrafe geahndet.) Die Tatsache, daß weibliche Homosexualität nicht nur verurteilt, sondern von denselben Regierungen mit den härtesten Strafen belegt wird, ist eine andere Sache. Sie hängt zusammen mit einem ausgeprägten männlichen Chauvinismus, der von der Frau eine vollständige Unterwerfung verlangt. Dem orientalischen Mann ist durchaus bewußt, daß die Lesbierin die wahrhaft befreite Frau ist, die nicht nur seine Machtbesessenheit, sondern auch seinen sexuellen Absolutismus bedroht.
In der westlichen Welt hatte die Diskriminierung sowohl weiblicher und männlicher Homosexueller einen Höhepunkt erreicht, während gleichzeitig die Fesseln anderer Restriktionen auf die Bevölkerung von »toleranten« Regierungen gelockert wurden. Nur wer finanziell unabhängig oder gesellschaftlich anerkannt war, konnte es sich leisten, seine psychosexuelle Abweichung vom gängigen Stereotyp offen zu zeigen.

Jetzt wurde mir klar, daß lesbische Frauen in dieser Gesellschaft sich zusammenfinden mußten, um eine Subkultur zu bilden, in der sie frei atmen und sie selbst sein konnten. Eine Gesellschaft, die das Individuum stärker als je zuvor mißachtete, war blind gegenüber einer wirklichen Toleranz, blind gegenüber sexuellen Variationen, während sie gleichzeitig Schutz und Gleichbehandlung von Minoritäten proklamierte. Ganz sicher mußte diese Forderung nach Gleichbehandlung durch kollektive Repräsentanten gestellt werden. Der Albany Trust, die Campaign for Homosexual Equality (C.H.E.) und die Gay Liberation Front (G.L.F.) waren die wichtigsten Organisationen, die sich um homo- und bisexuelle Menschen kümmerten. Sie waren von Männern gegründet worden, und auch die meisten ihrer Mitglieder waren Männer. Die Bildung lesbischer Gruppen wurde notwendig, um ein Gleichgewicht herzustellen und einen eigenen Weg zu kollektiver Identität zu finden. Doch sie blieben kleiner und weniger mächtig als die Männergruppen. Die Law Reform Society, der Albany Trust und die C. H. E. leisteten einen wichtigen Beitrag zur Veränderung des Gesetzes gegen männliche Homosexuelle. Und sie hatten einigen Erfolg darin, bestimmte Berufsgruppen in Richtung auf ein besseres Verständnis jeder Art von ungewöhnlichem sexuellen Verhalten zu beeinflussen. Lesbische Gruppen, besonders Sappho, haben sich den Verdienst erworben, sich in den Medien ein gewisses - wenn auch meist nur widerstrebend gewährtes - Gehör zu verschaffen.
1968 trat ich Kenric bei; Sappho unterstützte ich seit ihren Anfängen. Als Sappho mich bat, die Patronin ihrer Zeitschrift zu werden, stimmte ich freudig zu. Einige Jahre später brauchte die Gruppe meine Schirmherrschaft offenbar nicht mehr, da viele Mitglieder Psychiatern gegenüber feindselig eingestellt waren. Diese Haltung enttäuschte mich, weil man bei Sappho um meine eigene Lebensführung und meine Einstellung zur Homosexualität, wußte, doch ich unterstützte die Gruppe weiterhin. Anders Kenric: Sie verlieh mir die Ehrenmitgliedschaft.
Meine Arbeit über lesbische Liebe führte mir vor Augen, welche falschen Vorstellungen über sie bestanden, etwa die, daß Lesbierinnen für die Gesellschaft akzeptabler seien als männliche Homosexuelle. Es stimmt, das Schwert des Gesetzes schwebt seit biblischen Zeiten über den Köpfen der Männer, während homosexuelle Frauen von drakonischen Strafen verschont blieben, ganz sicher seit Mitte des 19. Jahrhunderts, obwohl ihnen beispielsweise in Österreich und in einigen amerikanischen Bundesstaaten - jedenfalls nominell - bis vor kurzem noch Gefängnisstrafen drohten. Ich habe schon erwähnt, daß ich davon überzeugt bin, daß der Lesbianismus das Rückgrat des Feminismus ist. Die Befreiung der Frauen von dem Stigma des »anderen Geschlechts«, das den Männern in fast jeder Hinsicht unterlegen sei, ist undenkbar ohne emotionale Unabhängigkeit von Männern. Die erste Lektion weiblicher Befreiung kann nur von homo- und bisexuellen Frauen gelehrt werden, denn emotionale Freiheit vom Mann ist eine notwendige Bedingung der Freiheit aller Frauen. Es wurde mir klar, daß Männer es sich nicht erlauben können, lesbische Liebe zu tolerieren, denn durch sie würde jene Säule, auf der ihre Selbstachtung ruht, zerstört. Die heterosexuelle Feministin kann immer noch in das uralte Netz männlicher Dominanz geraten, denn ihre sexuelle und emotionale Präferenz macht sie verletzbar. Die Lesbierin ist die gefährlichste Widersacherin des Mannes. Sie bedroht ihn in jeder Hinsicht: emotional, sozial und sexuell. »Normale« Männer können es sich leisten, den homosexuellen Mann zu tolerieren, denn sie fühlen sich ihm überlegen, die homosexuelle Frau jedoch muß ihnen zwangsläufig unerträglich sein. Sie haben einen Horror vor ihr, auch wenn er oft hinter Arroganz oder falscher Toleranz versteckt wird; er ist so tödlich wie der Biß einer Giftschlange. Warum? Seit die jüdische und christliche Religion in den Köpfen und im Leben der Menschen regiert, wurde die Frau immer auf ein Podest gestellt. Der menschliche Geist nährt sich von Bildern. Das Bild der Frau, das der Mann von ihr entworfen hat, zeigt sie als ihn umsorgend und unterstützend - und vollständig von ihm abhängig. Jede Veränderung dieses Bildes würde die Frau von ihrem Podest herunterholen und den Mann zu hilfloser Verzweiflung bringen. Er würde sein Machtgefühl verlieren, das ihn beherrscht, dieses Kunstprodukt, das er über die Jahrhunderte durch das Diktat der Gesellschaft geworden ist.
Es gibt noch einen anderen schwerwiegenden Grund für die Feindseligkeit des Mannes gegenüber der befreiten Frau: Der Neid auf ihre reproduktive Fähigkeit, den er auf die lesbische Frau als ebenfalls potentielle Mutter überträgt. Männer können ihren Kindern nie so nahe sein wie Frauen, auch wenn sie eine vollständige Persönlichkeitsänderung durchmachen. Die Intimität des vorgeburtlichen Bandes zwischen Mutter und Kind kann durch eine Umkehrung des männlichen Selbstbildes und seiner Verhaltensmuster nicht überwunden werden. Er ist eine Art Außenseiter durch die höhere Gewalt der Natur, die ihn in einer Sackgasse gefangen hält. Seine einzige Chance besteht darin, selbst das Kind einer Frau zu werden, und das hat er jahrhundertelang versucht. Doch auch dies rettet ihn nicht vor dem Verlust der Selbstachtung und dem Mangel an instinktiver Intimität mit seinen Kindern. Das alles macht ihn der Frau unterlegen, eine Tatsache, die er immer versucht hat, durch Über-Kompensation zu leugnen, deren Gipfel die sogenannten »männlichen Tugenden« sind.
Die Frauenbewegung ist die Notwendigkeit unserer Zeit, doch die Befreiungsbewegung der Männer wird die Notwendigkeit der Zukunft sein. Der Mann muß sich ändern und das werden, was er von Natur aus ist - ein bisexueller Mensch. Die Rollen der Geschlechter, wie ich sie hier skizziert habe, veranlaßten mich während der vergangenen Jahre, über Bisexualität zu forschen.
Es hat immer Frauen gegeben, die sich ihres eigenen Wertes bewußt waren. Sie waren die ursprünglichen Feministinnen. Ich bin der Überzeugung, daß viele von ihnen bisexuell oder lesbisch waren, ob ihnen das nun bewußt gewesen ist oder nicht. Doch erst heutzutage hat sich das kollektive Bedürfnis der Frauen nach ihrer Befreiung zu einer internationalen Revolution ausgeweitet, die durch die männliche Feindseligkeit notwendigerweise noch verschärft wird.
Doch was ist mit den Frauen, die mit den ihnen zugeschriebenen Rollen zufrieden sind? Sie fürchten sich vor einer Freiheit, die ihren Bedürfnissen nicht entspricht, und haben vor allen Dingen Angst vor der lesbischen Frau - eine Angst, die auch viele Feministinnen teilen. Während der letzten Jahre fand allerdings allmählich eine geistige Veränderung bei den heterosexuellen Befreiungs-Verfechterinnen statt. Die Kenntnis psychologischer Bisexualität wurde immer verbreiteter, und immer mehr Frauen leben ihre Bisexualität auch aus. Dieser Trend verweist auf die Suche der Frau nach ihrer wahren Identität, sie sprengen die Zwangsjacke eines Stereotyps, das ihr von der Gesellschaft aufgezwungen wird.
Die Veröffentlichung meines Buches »Love between Women« im Februar 1971 war ein Meilenstein in meinem beruflichen Leben. Sie brachte viele Frauen, die Konflikte aufgrund ihrer Homosexualität hatten, in meine Sprechstunde. Sie kamen lieber zu mir, als zu einem praktischen Arzt oder einem konventionellen Psychiater zu gehen.
Leider hat sich die Aufklärung über das Thema unkonventionelle Sexualität, wenn überhaupt, nur langsam im ärztlichen Berufsstand durchgesetzt. Mit Ausnahme des Royal Northern Hospital in London hat mich keine medizinische Ausbildungsstätte in Großbritannien eingeladen, über lesbische Liebe zu sprechen. Doch im November 1970 wurde der lesbische Film »The Important Thing is Love« (»Das Wichtigste ist die Liebe«), in dem ich die Rolle der Psychiaterin spielte, im Fernsehen gezeigt und fand große Resonanz in der Presse. Allerdings erwies sich jeder Gedanke, dies könne zu einer Verringerung der Vorurteile gegen homosexuelle Frauen führen, als Illusion. Die allgemeine Öffentlichkeit zeigte sich nicht berührt. Einige Männer hielten offenbar lesbische Liebe für eine  amüsante  Angelegenheit,  andere reagierten  entweder
zynisch oder gingen sogar so weit, lesbische Frauen körperlich anzugreifen. Etwa zur gleichen Zeit begann die Gruppe Sappho ihren langen Marsch gegen die Vorurteile in der Öffentlichkeit, an der Spitze feministischer Bewegung standen lesbische Frauen. Dieses offensive Vorgehen half ihrem Anliegen, denn progressive Frauen und Männer erkannten die Bedeutung dieser Kampagne. Es gelang Sappho, von einigen Zeitungen und Fernsehstationen ernst genommen zu werden, doch der Radiosender Radio Four weigerte sich konstant, über das Thema zu berichten.
Im Dezember 1971 bat mich der BBC-Regisseur Tony van den Bergh, bei einer einstündigen Radiosendung über lesbische Liebe, die auf meinem Buch basierte, als Beraterin mitzuarbeiten. Er hatte bereits Kontakt mit mehreren lesbischen Frauen aufgenommen, die über ihre Liebe, ihre Konflikte und die Masken, die sie in ihrer Umgebung tragen mußten, berichteten. Einige »Experten« kommentierten diese Berichte und legten ihre jeweiligen Theorien über weibliche Homosexualität dar. Und ich gab wiederum dazu meinen Kommentar ab. Allan Burgess produzierte das Programm, das als Dokumentar-Feature in Radio Four gesendet werden sollte. Es wurde im Januar 1972 aufgenommen, aber nie ausgestrahlt. Über männliche Homosexualität gab es jedoch vor einigen Jahren eine Sendung, und das bestätigt meinen Verdacht, daß weibliche Homosexualität nach wie vor ein Tabu-Thema ist.
Der erste Anreiz für meine Forschung über lesbische Liebe war jedoch weder deren Bedeutung für den Feminismus, noch das soziale Dilemma aller Homosexueller. Ich wollte vielmehr herausfinden, ob biologische Ursachen darin eine Rolle spielen. Professor von Möllendorf, Embryologe an der Universität Tübingen, war der »Vater« des biologischen Ansatzes. Ich kann mich noch gut an seine Vorlesungen und seine Kreidezeichnungen der Stadien fötaler Entwicklung erinnern. Die Tatsache, daß der Fötus über drei Monate sexuell undifferenziert ist, beweist, daß das Leben mit Bisexualität beginnt, und das nicht nur beim Menschen, sondern in der gesamten Natur. Homosexualität und Heterosexualität sind sekundäre Entwickungsstadien, wie Zweige, die aus einem Baum sprießen.
Ich befragte daher die lesbischen Frauen und die Kontrollgruppe in meiner Untersuchung über ihre Beziehungen zu beiden Geschlechtern, zum Beispiel:
1.    Fühlen Sie sich emotional hingezogen:
a) ausschließlich zu Frauen?
b) ausschließlich zu Männern?
c) zu Frauen und Männern?
2. Bevorzugen Sie männliche Freunde gegenüber Freundinnen?
3. Fühlen Sie sich körperlich zu Männern hingezogen?

Die Antworten der lesbischen Frauen bestätigten die unterschwellige Bisexualität bei der weiblichen Homosexualität. Die große Mehrheit der sich selbst als lesbisch bezeichnenden Frauen hatte sexuelle Beziehungen zu Männern (gehabt). Menschen werden wesentlich häufiger durch biografische Ereignisse hetero- oder homosexuell als durch ihre Konstitution; andere verleihen ihrer angeborenen Bisexualität in ihrer Lebensgestaltung Ausdruck. Diese Erkenntnis brachte mich auf den Weg, Bisexualität an sich zu untersuchen.

Die sozialen Probleme homosexueller Menschen in unserer Gesellschaft zwangen mich dazu, an dem Kampf für die Veränderung ihres Schicksals teilzunehmen. Von daher akzeptierte ich mit Freuden Antony Greys Einladung, im Jahre 1972 dem Komitee des Albany Trust beizutreten, der ersten Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, dem Spießrutenlaufen der Homosexuellen gegen gesellschaftliche Vorurteile ein Ende zu setzen. Sie hat zwei Aufgaben: Beratung und Öffentlichkeitsarbeit. Ich wollte nicht nur Kommissionsmitglied sein und freute mich daher über das Angebot, die Beratung einiger homosexueller Frauen, die den Albany Trust besuchten, zu übernehmen. Und Antony Grey arrangierte Seminare über Homosexualität für Sozialarbeiter und Bewährungshelfer, die mir eine weitere Möglichkeit der aktiven Teilnahme an der Arbeit des Albany Trust boten. Ich berichtete darin hauptsächlich von meinen Untersuchungen über lesbische Liebe. Die Seminare waren gut besucht und haben hoffentlich dazu beigetragen, den geistigen Horizont derer zu erweitern, die immer noch ambivalente Einstellungen auf diesem Gebiet hatten. Zumindest aber erkannten sie ihre Ignoranz gegenüber der Homosexualität, und das wirkte sich direkt auf ihre Arbeit aus. Der Plan, die Öffentlichkeit Schritt für Schritt aufzuklären, schien der rechte Weg zu sein. Ihr Einfluß auf die öffentliche Meinung hatte mehr Gewicht als die der homosexuellen Organisationen, denen man immer eine einseitige Sicht der Dinge unterstellt.

Nach der Veröffentlichung von »Love between Women« lag meine wissenschaftliche Arbeit drei Jahre lang brach. Ich brauchte eine Ruhepause. Die Arbeit hatte mich ausgelaugt, und eine innere Stimme sagte mir, es sei höchste Zeit, den Kurs zu ändern. Ich hatte meine literarischen Ambitionen unterdrückt, aber nicht aufgegeben. Die Zeit war gekommen, meinen lang gehegten Plan, ein lesbisches Thema belletristisch zu bearbeiten, in die Tat umzusetzen, und so schrieb ich meinen ersten Roman, »An Older Love« (deutsch: Flickwerk), der 1976, mehr als zwei Jahre nach Fertigstellung des Manuskriptes, veröffentlicht wurde.
Die Rückkehr zu meiner ersten Liebe, der Literatur, hatte einen merkwürdigen Effekt auf mich: Meine wissenschaftliche Forschung, die einmal ein Ersatz für die Poesie gewesen war, hatte - so erkannte ich - jetzt deren Stelle eingenommen. Und so sah ich meiner neuen Studie, die mir seit den frühen 60er Jahren durch den Kopf gegangen war, voller Vorfreude entgegen.
Bei der Suche nach Versuchspersonen für meine Forschung über Bisexualität war mir wieder einmal Antony Grey behilflich. Die erste Ankündigung dieser Studie wurde im Nachrichtenblatt des Albany Trusts veröffentlicht. Darin wurden Männer und Frauen, die sich selbst für bisexuell hielten, gebeten, mit mir Kontakt aufzunehmen.
Während ich noch dabei war, bisexuelle Männer und Frauen zu interviewen und das bis dahin existierende Material über Bisexualität durchzusehen, hielt ich gleichzeitig Vorträge zu diesem Thema vor der Family Planning Association und Beratern der National Association of Youth Clubs. Das lebhafte Interesse und die vielen Nachfragen beider Zuhörergruppen überraschte mich. War Bisexualität für »normale« Menschen eher akzeptabel als lesbische Liebe? fragte ich mich. Ich bedauerte, daß der Albany Trust keine Vorträge für Ärzte über beide Themen plante, denn viele Mediziner betrachten heute noch sexuelle Variationen als unerwünscht, wenn nicht gar pathologisch. Sogar Psychiater sind nicht frei von einer gewissen Reserve und Verlegenheit im Umgang mit »solchen Menschen«, trotz der neuen offiziellen Sichtweisen einiger psychiatrischer Standesorganisationen, wie etwa des englischen Royal College of Psychiatrists. Und ich bezweifle, ob der Großteil der ärztlichen Standesvertreter jemals Bisexualität als eine natürliche Lebensform anerkennen wird.
Die psychologische Bisexualität wird allerdings inzwischen durchaus anerkannt. Kein denkender Mensch kann männliche und weibliche Charakteristika bei Personen beiderlei Geschlechts übersehen. Psychologische Bisexualität und »Liebesorientierung« sind zwei verschiedene Dinge. Biografische Ereignisse sind es im wesentlichen, die zur Homo-, Hetero- oder Bisexualität führen. Und es ist eine falsche Wertschätzung, die eine oder andere Art der Liebe als »besser« oder »richtig« zu erklären. Leider wird das von der Mehrheit nicht verstanden. Und wenn es darum geht, Bisexualität als Lebensform anzuerkennen, fühlen sich die meisten »gewöhnlichen« Menschen abgestoßen. Sie können nicht mit einer solchen, in ihren Augen paradoxen Situation zurande kommen. Warum trifft der Gedanke, Menschen beiderlei Geschlechts zu lieben, die meisten Leute bis ins Mark? Liebesbeziehungen sollten exklusiv sein. Nur jeweils zwei Personen gehen sie ein. Ein Dritter muß notwendigerweise Chaos und emotionale Verwirrung für alle Beteiligten mit sich bringen. So etwa denken die meisten. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Eine »dreisame« Liebe ist nicht per se unnatürlich, sondern ein jahrhundertealtes, im Kern kapitalistisches Denken lehnt sie aus ganz bestimmten Gründen ab. Die meisten Menschen sind in ihrer Vorstellungskraft so von Besitzdenken durchdrungen, daß sie eine Liebe zu Personen beiderlei Geschlechts nur als Ausgeburt des Teufels betrachten können. Durch sie werden angeblich die menschlichen Bande und das Glück der Beteiligten zerstört und der Kleinfamilie der Todesstoß versetzt. Homosexuelle Menschen sind noch am wenigsten an Zweierbeziehungen gebunden, und auch von diesem Blickwinkel aus kann man ihre Liebe verstehen. Intoleranz gegenüber der Bisexualität ist eines der vielen Zeichen dafür, wie eine Gesellschaft die in ihr lebenden Menschen ent-persönlichen und ihre Natürlichkeit zerstören kann.
In meinem Buch »Bisexuality: A Study« (deutsch: Bisexualität) habe ich die Ansicht vertreten, daß uns nur eine bisexuelle Gesellschaft von Sexismus und der ganzen Skala psychosexueller und sozialer Unterdrückung befreien kann. Damit ist aber der bisexuellen Lebensweise keineswegs eine besondere »Wert-Stellung« gegeben. Unter »bisexueller Gesellschaft« verstehe ich eine solche, die keine Wertunterschiede bei der einen oder anderen »Liebesorientierung« macht. Die Gleichsetzung von Heterosexualität mit Reife und beim Mann mit körperlicher und geistiger Überlegenheit führt zur Zerstörung der menschlichen Rasse. Wer die Vorstellung vertritt, daß die Zeugungsfähigkeit die Menschheit noch lange am Leben erhalten wird, übersieht die politischen Machtspiele. Bisexuelle befinden sich in einer isolierten Position. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen, unerwünscht sowohl bei homo- wie bei heterosexuellen Menschen. Sie tragen das Stigma, keine eigene Identität zu besitzen. Doch sie haben anderen gegenüber einen besonderen Vorteil: Eine mehr entspannte Beziehung zwischen den Geschlechtern erweitert ihren Horizont und ermöglicht es ihnen, andersartige Menschen und deren Bedürfnisse besser zu verstehen. Hetero- und Homosexuelle sind aufgrund ihrer polarisierten Position darin im Nachteil, weil hemmende Einflüsse einerseits oder Isolation andererseits unvermeidlich sind. Bisexuelle sind keine Gruppen-Gründer, und viele vermissen die kollektive Einheit homosexueller Organisationen. Trotz ausdrücklicher Einladungen, doch diesen Organisationen beizutreten, werden sie unweigerlich als Mitläufer oder Schmarotzer betrachtet. Und doch sind Versuche, eigene Gruppen zu gründen, gescheitert. Ressentiments gegen die bisexuelle Lebensform kommen von beiden Enden des sexuellen Spektrums. Heterosexuelle beneiden sie darum, »den Kuchen zu haben und ihn auch noch zu essen«, Homosexuelle verachten sie als Abtrünnige.
Die bisexuellen Frauen meiner Untersuchung beeindruckten mich besonders, weil sie emotional in jeder Hinsicht unabhängiger waren als die Männer. Doch die größere Freiheit der Frauen machte bei den wesentlichen Reaktionen und Interessen der Geschlechter keinen Unterschied. Beide Geschlechter fühlten sich emotional stärker zu Frauen als zu Männern hingezogen, beide hatten das gleiche Bedürfnis, von hetero- und homosexuellen Menschen akzeptiert zu werden. Die bisexuellen Männer und Frauen fühlten sich miteinander wohl, denn die Männer waren weniger oder gar nicht phallus-fixiert, im Gegensatz zu homo- und heterosexuellen Männern. Einige davon waren Mitglieder der Organisation »Männer gegen Sexismus«.
Die Versuche der Homosexuellen beiderlei Geschlechts, gemeinsame Gruppen zu bilden, scheiterten am männlichen Sexismus. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß eine natürliche Sympathie homosexuelle Männer und Frauen in Freundschaft eint; in Wirklichkeit ist dies eher die Ausnahme als die Regel. Das weibliche Ideal homosexueller Männer ist die mütterliche Frau, die im allgemeinen heterosexuell ist. Homosexuelle Liebe zwischen Männern ist phallus-fixiert, während die lesbische Liebe in erster Linie emotional bestimmt ist. Beide Gruppen haben unterschiedliche Positionen und sind sich nur bei ganz allgemeinen Themen einig. Mitglieder der G.L.F. haben tapfere Anstrengungen unternommen, die Arroganz falscher männlicher Überlegenheitsgefühle zu überwinden. Sie proklamierten den Kampf gegen den Sexismus und erklärten, in einer Reihe mit der Frauenbewegung zu stehen. Sie glauben - zumindest offiziell - an die Gleichheit der Geschlechter, die allein Männer und Frauen in einer harmonischen Gemeinsamkeit einen kann. Doch wie weit sie ihr Programm in ihrem Leben umsetzen, ist ein große Frage.
Transsexuelle Menschen sind extreme Beispiele für den Unterschied zwischen geschlechtlicher und sexueller Identität. Ihre Lebensbedingungen werfen ein besonderes Licht auf die psychogene Bisexualität. Zwölf transsexuelle Männer nahmen an meiner Untersuchung teil. Sie fühlten sich als Frauen, obwohl sie körperlich Männer waren. Viele waren verheiratet und hatten Kinder. Sie waren liebende Väter, obwohl sie es vorgezogen hätten, Mütter zu sein. Auf jeden Fall waren sie lebende Beweise dafür, daß man zwischen weiblichen und männlichen Qualitäten und Reaktionen keine definitive Grenze ziehen kann.
Unglücklicherweise antwortete keine transsexuelle Frau auf meine Anzeige, und so kann ich meine Aussagen nur für den transsexuellen Mann treffen. Er lebt in seiner eigenen Welt und paßt nicht in Gruppen, die homo- und bisexuelle Menschen ansprechen. Anders als der Homosexuelle haßt er seine Genitalien und möchte sie am liebsten loswerden. Er identifiziert sich vollständig mit dem weiblichen Geschlecht, und seine Sehnsucht danach, eine Frau zu werden, ist stärker als alle anderen Überlegungen, einschließlich der über gesundheitliche Risiken. Transsexuelle sind sehr mutige Menschen, ich halte sie für beispielhaft in ihrer Suche nach psycho-sexueller Identität. Sie fühlen sich oft zu lesbischen Frauen hingezogen, und ich kenne zwei, die als Lesbierinnen ihr Leben verbringen wollten. Doch in der Regel versuchen sie aus einem konventionellen Grund, eine Geschlechtsumwandlung zu erreichen: Aus der Sehnsucht danach, mit einem Mann als »richtige Frau« zusammenzuleben. Von lesbischen Frauen werden sie meist zurückgewiesen, weil diese nicht wissen, wo sie bei ihnen dran sind. Einerseits unkonventionell, andererseits altmodisch, verhalten sich Transsexuelle so, daß homosexuelle Frauen ihnen kein Vertrauen entgegenbringen. Die Tatsache, daß die meisten von ihnen verheiratet sind und Kinder gezeugt haben, trägt zu der Konfusion über ihre Zugehörigkeit bei. Ich hörte von einem deutschen Transsexuellen, der Mitglied einer lesbischen Gruppe werden wollte, aber abgewiesen wurde.
Es ist offensichtlich, daß Verallgemeinerungen über sexuelle Minderheiten nicht mit Charakter und Verhalten der betreffenden Individuen übereinstimmen. Individualität ist jedoch der Prüfstein für charakteristisches Verhalten. Aus diesem Grund sollte man niemanden in eine Schublade einordnen, sei diese nun mit einem ethnischen, rassischen oder sexuellen Etikett versehen. Ein Lehrer, der nicht von seinen Schülern lernt, versagt in seinem Beruf. Ein Forscher, der nicht von seinen Versuchspersonen lernt, ist sein Geld nicht wert. Ich verließ mich nicht nur auf die Fragebogen, wie ausführlich sie auch immer beantwortet sein mochten. Sie dienten mir nur als Illustrationsmaterial, als eine Art Vogelperspektive über ein ausgedehntes Territorium. »Fleisch« gewann die Untersuchung erst durch die persönlichen Interviews und Autobiografien. Meine Studie konzentrierte sich auf den Schnittpunkt zwischen Individualität und Typ. Wie bewahrt man sich seine individuelle Einzigartigkeit und entwickelt gleichzeitig typische Merkmale? Zwingt der Ansturm sozialer Pressionen Nonkonformisten zusammen in ein gemeinsames Mimikry-Verhalten? Ich habe keinen Zweifel daran, daß es so ist, und daß darauf gewisse Ähnlichkeiten in ihrer Lebensführung, in ihrem expressiven Verhalten und in ihren sozialen Einstellungen zurückzuführen sind. Die Frage berührt den Kern psychologischer Forschung. Sie behandelt ein Paradoxon. Wir haben uns angewöhnt zu denken, daß zwei paradoxe Dinge sich gegenseitig ausschließen, doch das ist nicht der Fall. Menschliche Wesen sind paradox in ihren emotionalen Reaktionen, Impulsen und sogar Handlungen, und doch sind sie insgesamt verstehbar. Mädchen und Jungen, die sich zum ersten Mal verlieben, glauben, daß ihre Liebe keiner anderen gleicht, weil sie einzigartig ist. Sie haben recht. Natürlich kann man individuelle Wahrnehmungsfähigkeit und emotionale Intensität niemals messen; sie sind bei jedem Menschen verschieden. Doch die zugrundeliegende Natur der Liebe ist dieselbe, und die Arten, sie auszudrücken, ähnlich. Durch wissenschaftliche Forschung kann man bei einer besonderen Gruppe von Menschen aus Fragebogen- und Interview-Antworten Gemeinsamkeiten herausfinden. Es gibt feste Daten wie sozialer Hintergrund, Schichtzugehörigkeit, finanzielle Lebensbedingungen usw., doch die Feinheiten des menschlichen Charakters können nur durch Empathie und Intuition ganz verstanden werden, und das ist die subjektive Ausrüstung des Forschers. Die Subtilität individueller Unterschiede kann man nur durch Interviews und autobiografische Aussagen erfahren. Aus diesem Grund benutzte ich in meinen Untersuchungen über Bisexualität und lesbische Liebe jeweils drei verschiedene Methoden, um der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen.

Forschung ist eine Sache ohne Ende. Ich beabsichtigte, nach einigen Jahren eine weitere Untersuchung über das Gesamtthema Sexualität anzuschließen. Doch während der ganzen Zeit meiner bisherigen Forschungen dachte ich darüber nach, wie man die Organisationen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, psychosexuell unorthodoxe Menschen zu unterstützen, effektiver gestalten kann. Diese Organisationen haben schon viel dazu beigetragen, die Homosexuellengesetze zu reformieren, doch es ist ihnen bisher nicht gelungen, festgefügte soziale Strukturen zu ändern. Allerdings sind sie vielen betroffenen Menschen eine große Hilfe gewesen.
Die kollektive Identität der Homosexuellen erreichte ihren Höhepunkt in der Proklamation eines jährlichen »stolzen Schwulentages« (Gay Pride Day). Dieser eher naive Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls hatte etwas Trotziges an sich und bewies mindestens ebensoviel Unsicherheit wie Selbstvertrauen. Doch immerhin haben homosexuelle Organisationen ihren Mitgliedern dieses Selbstvertrauen gegeben und viel dazu getan, ihnen das Gefühl der Isolation zu nehmen. Auch lesbische Gruppen, in England besonders Sappho, haben einen entscheidenden Schritt in die Richtung getan, die Gettosituation, in der weibliche Homosexuelle früher standen, aufzulösen.
Die homosexuelle Minorität geht - nicht nur in diesem Land - in die Millionen. Dies ist den staatlichen Organisationen und den jeweiligen Regierungen nicht entgangen, und in einigen wenigen Fällen haben sie etwas dafür getan, den »Hilfs«-Organisationen etwas von ihrer finanziellen Last zu nehmen. Ihre Entscheidung, dies zu tun, beruhte auf der Anerkennung wissenschaftlicher Meinungen, die sich in den frühen 70er Jahren im Ton geändert hatten. Damals akzeptierte das Royal College of Psychiatry - nicht ohne gewisse Zweifel - sexuelle Varianten als in der gesamten Menschheit gleichberechtigte Lebensform. Bestimmte politische Parteien haben die Unterstützung homo- und bisexueller Menschen zum Programm erhoben, an erster Stelle die Liberalen. Und auch die britischen Kommunisten versprachen, sich für die Rechte der Homosexuellen einzusetzen. Aus Überzeugung oder eher, um Wählerstimmen zu bekommen? Was würden sie tun, wenn sie an der Macht wären, fragt man sich! Die Kehrtwendung der Sowjetunion, in der Homosexualität zunächst gesetzlich erlaubt, dann aber unter Strafe gestellt wurde, ist eine schmerzliche Erinnerung an die Unzuverlässigkeit »offizieller« Versprechen und der Gesetzgebung. Gesetze können gemacht und geändert werden.
Die mangelnde Verläßlichkeit der staatlichen Institutionen ist nicht die einzige Bedrohung für die Integration sexueller Varianten in das gesellschaftliche Leben. Die bei weitem größte Gefahr besteht in dem resistenten Vorurteil der »Philister«. Es ist allgemein bekannt, daß die Menschen überall auf der Welt einen stahlharten Widerstand gegen die Aufhebung stereotyper Vorstellungen zeigen. Solange der männliche Chauvinismus die Gesellschaft beherrscht, werden Bisexuelle und Homosexuelle als Feinde des Volkes betrachtet werden, besonders in Europa. Demokratien werden sie subtil, faschistische Regierungen brutal bekämpfen. Jeder autoritäre Staat kann den Pöbel auf den Plan rufen, um mit dessen Hilfe die »Degenerierten« zu bekämpfen oder zu töten. Die Tatsache, daß der Feminismus eine internationale Revolution ist, die schwer niederzuschlagen sein wird, würde die Position der lesbischen Frau, besonders in einem totalitären Regime nicht ändern. In Rußland existiert immerhin noch eine Art Feminismus, lesbische Liebe aber wird mindestens verachtet. Die homosexuelle Bewegung war stark, als sie noch vom Gesetz bedroht war, und kündigte große gesellschaftliche Veränderungen an. Inzwischen hat die Wachsamkeit bei ihren Mitgliedern nachgelassen, und dies könnte das Vorspiel zu einer Niederlage sein, ausgelöst durch eine Veränderung der Haltung offizieller Stellen. Ich habe die permissive Ära der Weimarer Republik miterlebt, als Magnus Hirschfeld eine gefeierte Figur war. Viele Psychiater unterstützen damals die psychosexuelle Befreiung, die er mit eingeleitet hatte. Er und seine Mitarbeiter waren die fortschrittlichsten Sexualwissenschaftler der westlichen Welt. Sie konnten frei arbeiten und den Menschen helfen, die ihre sexuelle Andersartigkeit auslebten, und es war ihnen möglich, ihre »revolutionäre« Literatur zu veröffentlichen. Die Frauenbewegung und der Sozialismus blühten in Deutschland. Man hätte denken können, das Goldene Zeitalter sei zurückgekehrt. Statt dessen kam wenige Jahre später Hitler an die Macht und vernichtete beide - Homosexuelle und Feministinnen. Es ist eine historische Tatsache, daß etwa zwei Millionen homosexuelle Männer in Konzentrationslager verschleppt und viele dort getötet wurden. Wahrscheinlich erlitten lesbische Frauen ein ähnliches Schicksal. Unzweifelhaft waren viele dieser Menschen bisexuell, denn man hatte bis dahin keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen von »Degenerierten« gemacht. Das Schicksal der Homosexuellen unter den Nazis ist bis heute in zahlreichen Filmen und Theaterstücken nachgespielt worden, um sicherzustellen, daß diese Taten nie vergessen werden. Man wird sie nie vergessen, aber es könnte wieder dazu kommen - wenn ein anderer totalitärer Wahnsinn von einem Land Besitz ergreift. Wie war der Nationalsozialismus und die Vernichtung der Freiheit möglich? Die Antwort kann nur in der Ignoranz und der schweigenden oder brüllenden Zustimmung der Masse Mensch gefunden werden. Mit unterschiedlichen Schattierungen könnte dasselbe überall passieren. Und wenn es geschieht, liegt die wirkliche Verantwortung bei den Bürgern dieses Landes selbst.
Ich habe die Meinung vertreten, daß nur eine bisexuelle Gesellschaft die Verfolgung sexueller (und anderer) Minderheiten beenden würde. Aber wie kann solch eine Gesellschaft je zustande kommen? Nun, ein Spaziergang auf dem Mond war im 19. Jahrhundert utopisch, wurde aber im 20. Wirklichkeit. Die Frage ist, wie wir eine alternative Gesellschaft schaffen können. Die Antwort liegt in der Erziehung. Wir müssen allen Menschen klarmachen, daß die Zukunft der Menschheit von einer neuen Mentalität abhängt, die den Materialismus verachtet und statt dessen Kultur und Liebe zu den erstrebenswertesten Zielen erklärt. Erste Bedingung der Freiheit ist absolute Toleranz in kollektiven und individuellen Beziehungen. Toleranz und Empathie führen dazu, daß man sich um andere kümmert. Mitglieder der G.L.F. sind der Überzeugung, daß allein politischer Radikalismus die wahre Gleichheit für sexuelle Minderheiten schaffen wird. Sie empfehlen den Kampf für eine marxistische Gesellschaft. Ich glaube, daß sie auf dem falschen Weg sind, und daß sich ihr Einsatz als nutzlos erweisen wird. Keine politische Veränderung kann die »Philister« - die Dinosaurier der Geschichte - ändern. Die sich seit Tausenden von Jahren in stereotypen Formen bewegen. Nur eine kulturelle Revolution kann die Welt, in der wir leben, in eine neue und tolerante verwandeln. Die psychologische Bisexualität wird schon allgemein genug akzeptiert, um die Grundlage für ein Verständnis der vielen Facetten der Liebe zu bilden, das zu den Grundsätzen einer bisexuellen Gesellschaft gehört. Bisexuelle Beziehungen sind offenbar nicht für jeden die richtige Lebensform. Sie wären eine Wahlmöglichkeit, gleichwertig mit homo- und heterosexueller Liebe.
Aber wie kann man nur eine solch stürmische Veränderung der Gesellschaft herbeiführen? Die Menschen hängen an alten Gewohnheiten, die in stereotypen Vorstellungen symbolisiert sind. Sie leben gern von »toten« Bildern, die ihr uraltes Leben immer weiterführen. Doch ich glaube an eine kulturelle Revolution aufgrund der Notwendigkeit, die Menschheit zu erhalten. Es mag einige Generationen dauern, bevor diese Wahrheit sich durchsetzt. Doch immer mehr Menschen werden sich des Elends in ihrem Leben bewußt, und sie sind die Fermente, die eine Veränderung herbeiführen können. Bi- und homosexuelle Menschen, bei uns gesellschaftliche Außenseiter, haben ein unabdingbares Interesse an einer alternativen Gesellschaft. Die jüngere Generation meiner Studie ist ein Beispiel für eine neue Art zu leben, die sich diesem Ideal annähert. Und Veränderung wird nicht nur von den direkt Betroffenen ersehnt, sondern auch von vielen progressiven Denkern, die auf die condition humaine sensibel reagieren. Sie erkennen, daß eine alternative Gesellschaft für das Überleben der menschlichen Rasse unbedingt notwendig ist. Es liegt bei ihnen, die Massen über die Erforderlichkeit einer kulturellen Revolution aufzuklären. Gegenstand der ersten Lektion ist das Bedürfnis nach einer permanenten inneren Revolution, die uns davor bewahren wird, bei der Selbsterkenntnis und der Sorge für andere nachzulassen, da wir uns ja unter den Schirm einer alternativen Gesellschaft begeben haben. Gabriele Dietze, eine junge deutsche Feministin, hat ähnliche Vorstellungen zum Ausdruck gebracht, und ich möchte dieses Kapitel mit einem Zitat aus ihrem Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Buch »Die Überwindung der Sprachlosigkeit. Texte aus der neuen Frauenbewegung« (Darmstadt 1979) beenden:

»Keine Revolution in einem einzelnen Sektor - schon gar keine ökonomische allein - kann das komplizierte System der psychischen, sozialen und ökonomischen Konditionierung zur Unterdrückung sprengen. Alles bedarf der Veränderung: Wie gedacht wird - der Herrschaftskurs -, wie gelebt wird - die Familie -, wie gearbeitet wird - der technisch/industrielle Komplex -, ja wie gelacht, geliebt, geweint und geträumt wird, muß sich ändern.«