Fortsetzung 1 zur Situation der Hauptschule

5. Die Hauptschule - eine weiterführende Schule

War die Durchlässigkeit der Hauptschule aus der Einsicht in die Fragwürdigkeit eines einzigen und zu frühen Auslesezeitpunktes abzuleiten, so entstanden die nächsten Strukturveränderungen in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bildungszielen der Schularten. Zu Beginn dieser Reformen wurde die aus dem 19. Jahrhundert überkommene dreigliedrige Schulstruktur analog einem dreischichtigen Modell der Gesellschaft noch nicht in-frage gestellt. »Der Bayerische Kultusminister hat im März 1969 vor dem Bayerischen Landtag im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über das allgemeinbildende Schulwesen in Bayern die drei Schularten Hauptschule, Realschule und Gymnasium als grundsätzlich gleichwertig und gleichrangig erklärt. Daran zu erinnern ist notwendig, vor allem wenn von der neuen Hauptschule gesprochen wird, die in Verbindung mit den beruflichen Schulen ihre Möglichkeiten als weiterführende Schule entfalten wird.«[6]
Die Überlegungen zur Veränderung der Volksschule sprengten noch nicht dieses Drei-Typen-Modell der Schule. Es ging darum, dem von der Grundschule abgetrennten Teil der Volksschule den Charakter einer weiterführenden Schule zu geben, die sich von den beiden anderen weiterführenden Schulen — Realschule und Gymnasium - nach Lehrzielen, Lerninhalten unterschied. Dadurch, daß eine Schulart einen anderen Namen erhält, wird sie noch nicht zu einer neuen. Die Deklaration der Klassen 5-8 bzw. 5-9 bzw. 7-9 zu einer »weiterführenden Schule« entbehrt jeder Logik. »Weiterführend« ist ein Relationsbegriff, der eine nicht weiterführende Schule voraussetzt. Hinter dieser Umbenennung steht die konservative Haltung, das alte System zu erhalten, und der psychologische Zweck, Eltern leichter dazu zu bewegen, ihre Kinder auf dieser »Hauptschule« zu lassen und sie praktischen Berufen zuzuführen. Eine einheitliche Bezeichnung für die Klassen 5 bzw. 7 bis 9 der Hauptschule und der Klassen 5 bis 10 bzw. 7 bis 10 der Realschule und der Klassen 5 bis 10 des Gymnasiums als Sekundarstufe dürfte logisch und konsequent sein.
Die traditionelle Bildungskonzeption der Volksschule bleibt auch in der Hauptschule erhalten: die Schüler durch eine sogenannte Grundbildung auf die praktischen Tätigkeiten in der Produktion und Verwaltung der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes hinzulenken. Dieses Bildungsprinzip wurde mit der Auffassung der Bildungsart dieser Kinder als einer rein praktischen Begabung gerechtfertigt. Die Unterrichtsstoffe dienten einer konkretistischen, unmittelbar an das Erfassen von Fakten und Situationen ausgerichteten Bildungsidee. Dieses Ziel hatte auch die »volkstümliche« Bildung der alten Volksschule gehabt. Konkretismus und »volkstümliche Bildung« entsprechen einander. Durch sie wird die Volks- (Haupt-) Schule von den übrigen getrennt. Die Forderung nach Demokratisierung kann in ihr nicht erfüllt werden, denn diese setzt ein gleichwertiges Wissensangebot mit den anderen Schularten voraus. Da heute die Forderung nach einer Verwissenschaftlichung auch des Hauptschulunterrichts in allen Fächern erhoben wird, - in den Bildungsbericht der Bundesregierung wurde sie auch übernommen - so hätte daraus folgen müssen, die konkretistische, »volkstümliche« Bildungsidee zu verwerfen, was aber, wenn überhaupt, nur halbherzig geschah. »Die Volksschule sollte ihre Aufgabe darin sehen, unter straffer Konzentration und Stoffbeschneidung, im Willen zum Einfachen und Elementaren, eine gediegene Grundbildung zu vermitteln.«[7]
Auch bei dieser Diskussion, den Schulunterricht an den Fortschritt der Wissenschaften zu binden, zeigt sich die Isolierung der wissenschaftlichen Experten von den administrativen Beschlüssen, selbst dann, wenn sie an den Beratungen der von den Kultusministerien eingerichteten Kommissionen teilnehmen. »Wenn von einer Demokratisierung des Bildungswesens die Rede ist, dann auch in dem Sinne, daß einer großen Mehrzahl zu bewußter Existenz und Mitbestimmung in einer Weise verholfen werden muß, die eine Unterscheidung zwischen intellektueller und volkstümlicher Bildung nicht mehr zuläßt.«[8] Der Unterricht könnte zwar von der unmittelbaren Anschauung ausgehen, aber dürfte nicht bei ihr stehen bleiben, sondern müßte zu den in der Natur und in der Gesellschaft sich zeigenden »Gesetzmäßigkeiten« und Entwicklungen vorstoßen. Das Beharren auf dem konkretistischen Bildungsmodell geriet zuerst in den naturwissenschaftlichen Fächern mit den wissenschaftsimmanenten Anforderungen in einen offenen Konflikt. In den übrigen Fächern, namentlich in Geschichte, Erdkunde und in Sozialkunde wurde dieser Konflikt nicht offenkundig, weil dieser Unterricht bei einer Beschreibung von Personen, Ereignissen, Tatbeständen verharrt, auch wenn historische Prozesse dargestellt werden, was aus den Stoffverteilungsplänen zu entnehmen ist.

6. Das 9. Schuljahr

An diesem Bildungsziel änderte auch die Einführung des 9. Schuljahres nichts, weil mit ihm keine Umstrukturierung der Lehrinhalte, Lernziele verbunden war, sondern lediglich eine Umverteilung des bisherigen Lehrstoffes vorgenommen, Betriebserkundigungen und Praktika hinzugefügt wurden. War die Einführung des 9. Schuljahres in Hamburg 1946 aus einer sozialpolitischen Notwendigkeit zu Zeiten der Arbeitslosigkeit und mangelnder Lehrstellen erfolgt, so erfolgte sie in den anderen Bundesländern später aus pädagogischen Erwägungen. Das 14. Lebensjahr erwies sich als zu früh, in eine Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit einzutreten.
Während eines fast zehnjährigen Streites um die Aufgabe des 9. Schuljahres wurden schließlich besondere Bildungspläne für dieses 9. Schuljahr erarbeitet, die nur wenige Jahre gültig, 1969 in eine allgemeine Umstrukturierung der Bildungsziele der Hauptschule in fast allen Bundesländern eingearbeitet wurden. Bayern hatte am längsten die Einführung des 9. Schuljahres (bis 1969) hinausgezögert und gleichzeitig mit der Einführung einen Bildungsplan vorgelegt, der schon ein Jahr später in die allgemeinen Richtlinien der Hauptschule aufgenommen wurde.

7. Die »innere« Reform

Die »innere« Veränderung der Hauptschule besteht in der Auflösung des starren, obligatorischen Fächersystems. Das Wissensangebot wird differenziert nach Mindestanforderungen - was gleichbedeutend ist mit »normalen Anforderungen« und höheren Leistungsanforderungen. Das sogenannte Streaming und Set-ting, in der Bundesrepublik zuerst in der Oberstufe des Gymnasiums eingeführt, wurde auch als ein Ausleseprinzip in den oberen Klassenverband der Hauptschule übernommen für die Fächer Deutsch, Mathematik und, nachdem Englisch in den »Fächerkanon« aufgenommen worden war, auch für dieses Fach. Gleichzeitig wurde der Rechenunterricht zu einem Mathematikunterricht erweitert und der Deutschunterricht um eine literarische Bildung ergänzt. »Untersuchungen zum Thema Leistungsdifferenzierung (streaming, setting) machen deutlich, daß der Effekt von Gruppierungsmaßnahmen mindestens ebenso sehr von den Unterrichtsmethoden und von der Einstellung der Lehrer zu Problemen der Auslese und Förderung wie von der Schulorganisation bestimmt wird.«[9] Diese Maßnahmen betreffen die Kinder, die nach der Auslese im 4. bzw. 6. Schuljahr in der Hauptschule verblieben; für sie wurden Leistungsanreize geschaffen, um neue Motivationen zu erzeugen, in die Realschule zu wechseln. Damit diese nicht nur sporadisch, sondern dauerhaft wirken, wurden für die Teilnehmer an höchstbewerteten Leistungskursen ein sogenannter »qualifizierter Hauptschulabschluß« geschaffen als Unterschied zum auch heute immer noch existierenden Abgangszeugnis oder Abschlußzeugnis. Für Berufe des öffentlichen Dienstes oder der Wirtschaft wird neuerdings das »Abschlußzeugnis der Volksschule« (im Unterschied zum bloßen Abgangszeugnis, das die Erfüllung der Schulpflicht bescheinigt), wenn auch nicht überall, gefordert. »Doch diese Art >Berechtigung< wird von der öffentlichen Meinung noch wenig beachtet: Der Volksschulabschluß zählt nicht zu den als >qualifiziert< geltenden Abschlüssen des Sekundarschulwesens. Auch der neue Hauptschulabschluß dürfte kaum aus dem Schatten des Realschulwesens heraustreten können...«[10]
Der qualifizierte Abschluß hat aber nicht den Charakter eines Berechtigungsscheines wie die mittlere Reife oder das Abitur; er berechtigt auch nicht zu einer verkürzten Lehrzeit und auch nicht zum Besuch qualifizierter Fachschulen. In einem Schultyp, in dem das Bildungsziel anschaulich, pragmatisch festgelegt ist und das Konkurrenzprinzip als Verhaltensmaxime dominiert, leistungsschwache und leistungsbehinderte Kinder den Sonderschulen überwiesen werden, entbehrt der zu nichts berechtigende qualifizierte Hauptschulabschluß als Leistungsnachweis jeglicher einleuchtender Funktion.
Eine zweite Veränderung innerhalb der Hauptschule besteht in der Aufteilung der Schulfächer in Pflichtfächer, Wahlpflichtfächer und Wahlfächer. Diese Einteilung erlaubt, über den begrenzten bisherigen »Fächerkanon« den Unterrichtsplan zu erweitern, den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Interessen zu sondieren und ihre unterschiedlichen Fähigkeiten in Kursen zu erproben, aber auch Leistungsschwerpunkte und Interessenschwerpunkte zu setzen. Dieser Differenzierungsversuch wird überlagert von einem System der Einteilung der Unterrichtsfächer in Kern- und Kursfächer. In den Kernfächern fällt die Wahlmöglichkeit der Schüler weg; es wird nur nach Leistung differenziert in A-, B- und C-Kursen. In den Kursfächern kann eine Differenzierung nach Leistungsgraden vorgenommen werden. Diese Leistungskurse gibt es aber nur in einer begrenzten Anzahl von Fächern, meistens in Deutsch, Mathematik und Englisch. Jedoch haben nicht alle Bundesländer dieses System schon eingeführt: Bremen z. B. nicht; Schleswig-Holstein hat nur Förderkurse entweder für leistungsschwache oder für leistungsstarke Kinder. Für Mathematik wurden in allen anderen Ländern Leistungskurse eingerichtet, für Deutsch nur in Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg. Mit Ausnahme des Saarlandes wird Englisch als erste Fremdsprache im Leistungsstreaming honoriert. Berlin hat als einziges Land dieses Kurssystem auch auf die naturwissenschaftlichen Fächer, auf Geschichte und Erdkunde ausgedehnt. Das setzt eine Graduierung von Lernzielen voraus, die sich in gestuften Lehrplänen nach Schwierigkeitsgraden niederschlagen sollen. In den übrigen Bundesländern ist der naturwissenschaftliche Unterricht offenbar durch Raum- und Lehrmangel so begrenzt, daß er nicht in Leistungskurse differenziert werden kann; Physik und Chemie werden trotz aller gegenteiligen Beteuerungen für Hauptschüler als ungeeignet gehalten; Naturlehre / Naturkunde dominiert Nur in der 8. bzw. 9. Klasse wird ein ein- bis zweistündiger Physik- und Chemie-Unterricht erteilt. Diese Vernachlässigung erklärt sich aus der (falschen) Auffassung von der Begabung der Volksschüler als »anschaulich-praktisch«, zu Abstraktionen nicht fähig. Sie können also - so wird noch unterstellt - auch keine physikalisch-chemischen Gesetze verstehen.

8. Das 10. Schuljahr

Die Bestrebungen, nunmehr ein 10. Schuljahr einzurichten, d.h. die Hauptschule um ein 6. Schuljahr zu verlängern, müssen entweder als eine Ubergangslösung aufgefaßt werden zu einer allgemein verpflichtenden zehnjährigen Schulzeit oder als Versuch, das dreigliedrige Schulsystem: Hauptschule, Realschule, Gymnasium, nebeneinander unverbunden mit unterschiedlichen Bildungszielen bestehen zu lassen. Über die Lehrpläne bestehen deshalb unterschiedliche Auffassungen. Nur in Berlin wurde bereits ein allgemein freiwilliges Schuljahr an der Hauptschule eingeführt, von dem 63% der Kinder eines Jahrganges Gebrauch machen. Im Saarland und in Bayern sind Versuche mit einem 10. Schuljahr geplant; in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und am längsten bereits in Hamburg bestehen - zum Teil schon ausgewertete - Modellversuche. In Schlewig-Holstein, Bremen und Baden-Württemberg sowie in Hessen wurden Modellversuche zurückgestellt, entweder weil der Lehrermangel so groß ist, daß in absehbarer Zeit nicht an eine Verwirklichung gedacht werden kann, oder weil - wie in Hessen - ein einheitliches Sekundar-schulsystem im Schulentwicklungsplan festgelegt ist, worin ein separates 10. Schuljahr an der Hauptschule überhaupt keinen Platz hat. Im Schulentwicklungsplan von Nordrhein-Westfalen ist entschieden, daß als 10. Schuljahr ein Berufsgrundschuljahr für alle Hauptschüler eingerichtet werden soll. Man rechnet, daß 80% der Hauptschüler daran teilnehmen; es berechtigt zu einer verkürzten Lehrzeit. Wenn gute Leistungen erbracht werden, gilt der Abschluß als mittlere Reife.
Die Bestrebungen, ein 10. Schuljahr an der Hauptschule einzuführen, konkurrieren mit Bestrebungen, als 10. Schuljahr generell ein Berufsgrundschuljahr zu etablieren, das nicht dem allgemeinbildenden Schulwesen zugerechnet wird, sondern in das berufsbildende Schulwesen entweder als Grundlage für eine spätere Lehre oder als Übergang in Fachschulen dienen soll. In Schleswig-Holstein ist die Entscheidung bereits für ein solches Berufsgrundschuljahr innerhalb des berufsbildenden Schulwesens gefallen. In den übrigen Ländern wurde durch die Modellversuche diese Entscheidung hinausgeschoben. Das Kultusministerium in Hessen hat den bisher geschlossensten Schulentwicklungsplan vorgelegt* danach soll die Berufsausbildung mit der Allgemeinbildung zu einem einheitlichen Schulsystem integriert werden.
Diese Veränderungen trafen den Schultyp: Volksschule — Hauptschule als ganzen. Um eine größere Garantie zu haben, daß die Schüler auch das Lernziel erreichen und wegen einer besseren Gliederung der Stoffpläne, aber auch um etappenweise neue Übergänge in andere Schultypen zu schaffen, wurden die Klassen der Hauptschule in sich noch einmal gegliedert. Die j. und 6. Klasse wurde zu einer Unterrichtseinheit zusammengeschlossen, welche in Schleswig-Holstein und im Saarland als Orientierungsstufe aufgefaßt wird, ähnlich denen in Realschulen und Gymnasien. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben diese Klassen nicht den Charakter der Orientierung, obwohl sie als Unterrichtseinheit bestehen. In Bremen und Berlin gehören die 5. und 6. Klasse noch zur Grundschule; die Sekundarstufe beginnt erst mit der 7. Klasse, in denen die Klassen 7 bis 9 bzw. 10 eine einheitliche Schulstufe bilden. In Bayern werden die Klassen 5 und 6 als Eingangsstufe für die Sekundarstufe betrachtet. In Niedersachsen bekommen diese Klassen den Charakter einer Förderstufe, um ebenfalls wie in Hessen überzuleiten in das differenzierte Leistungskurssystem der nächsten Klassenstufen.
Mit Ausnahme der Bezeichnung Förderstufe, die ein bestimmtes Lehrziel angibt, ist die Übernahme des Begriffs Orientierungsstufe von der Realschule und dem Gymnasium für die Hauptschule im Saarland, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz solange eine belanglose Vereinheitlichung der Terminologie, solange es nach der 6. Klasse keinen Übergang in die Realschulen und die Gymnasien gibt.