Einleitung

»Die Frau an seiner Seite« Zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe

Max Beckmann hat seine Frau am Anfang ihrer Beziehung ganz klar vor die Alternative gestellt: entweder eine eigene Karriere als Geigerin zu machen oder aber ihn bei seiner Karriere als Maler zu unterstützen. Mathilde Beckmann berichtet darüber in ihren Erinnerungen:
»Ja also, Kind, ich will dir nicht im Wege stehen. Wenn du Karriere machen willst mit der Geige, dann laß' ich dich frei. Aber wir können dann nicht zusammen leben. Entweder du wirst Geigerin, oder du bleibst bei mir. Beides geht nicht. Ich brauche dich ganz oder gar nicht. - Ich habe dann nicht mehr öffentlich gespielt.«[1]

Mathilde Beckmann hat sich darauf eingelassen, obwohl aus ihren Tagebuchnotizen deutlich wird, daß ihr der Verzicht auf die Musik nicht leichtgefallen ist.
Ähnlich kategorisch hat auch Gustav Mahler die Position von Mann und Frau in der »Künstlerehe« festgelegt. In einem Brief an seine spätere Frau, die Komponistin war und deren Arbeit Mahler durchaus schätzte, schrieb er kurz vor der Hochzeit:

»Du hast von nun an nur einen Beruf - mich glücklich zu machen! Verstehst Du, was ich meine, Alma? Die Rolle des >Komponisten< fällt mir zu - Deine ist die der liebenden Gefährtin und verständnisvollen Partnerin.«[2]

Auf eine solche narzißtische Rücksichtslosigkeit sollte Alma Schindler, die spätere Frau von Mahler, Gropius und Werfel, noch häufiger treffen. Oskar Kokoschka beschrieb die weibliche Position ähnlich wie sein Vorgänger, trat aber noch fordernder auf:

»Du bist die Frau und ich der Künstler... Ich muß Dich bald zur Frau haben sonst geht meine große Begabung elend zugrunde. Du mußt mich in der Nacht wie ein Zaubertrank neu beleben ... Am Tage brauche ich Dich nicht von Deinen Kreisen wegzunehmen. Da sammelst Du! Ich begreife es vollkommen, daß es so gut und richtig ist. Und ich kann den ganzen Tag arbeiten und ausgeben, was ich in der Nacht eingesogen habe ... Ich habe es heute an der Arbeit am roten Bild gesehen, wie stark Du mich machst und was ich sein werde, wenn die Kraft stetig wirkt!«[3]

Alma Mahler hat für diese Art von künstlerischem Vampirismus Verständnis aufgebracht, auch wenn sie es vorgezogen hat, Kokoschka nicht zu heiraten.
»Die Frau wird neben einem bedeutenden Künstler immer zu kurz kommen. Er empfindet sich, wie auch sie, nur als Instrument, um seine Art von Herrschsucht durchzusetzen und auslebend zu gestalten, nämlich seine Kunst. Mit einem Wort: um besser arbeiten zu können.«[4]
In ihren Beziehungen zu Mahler, Kokoschka, Gropius und Werfel hat sie sich mit dem Bewußtsein zu entschädigen versucht, daß es sich um »bedeutende Männer« gehandelt hat, von denen sie »gebraucht« wurde. Aber auch bei ihr schlägt die Trauer über den Verlust der eigenen Produktivität immer wieder durch. Die grandiose Selbstinszenierung als »femme fatale«, die sich die Genies erbarmungslos krallt wie der Geier seine Beute,[5] fällt wie ein Kartenhaus zusammen, und es bleibt das schale Gefühl, ein »Gefühlsparasit« zu sein.[6] der vom eigenen Ich abgedrängt ist und Bedeutung nur aus fremdem Leben saugt: Nicht sie selbst wird ausgesaugt, sondern sie saugt die Männer aus. In einer solchen Version ist ihr die öffentliche Meinung nur zu gern gefolgt.
Für eine andere Künstler-Frau, Nina Kandinsky, war es anscheinend völlig unproblematisch, die eigene Rolle an der Seite ihres Mannes zu definieren. Sie wußte, wie die perfekte »Karrierebegleiterin« eines berühmten Mannes aussehen muß und hat sich danach gerichtet, wie folgende Passage aus ihren Erinnerungen zeigt:

»Wenn eine Frau einen Mann richtig liebt, dann muß sie ihm den Haushalt gewissenhaft führen und auch eine gute Köchin sein. Sie muß hinter dem Mann zurücktreten und vieles aufgeben, damit er sich entfalten und ohne Sorgen arbeiten kann. Ich habe das getan: Deshalb war unsere Ehe so glücklich deshalb sind wir auch nicht einen Tag unseres gemeinsamen Lebens voneinander getrennt gewesen. Ich habe versucht Kandinsky das Leben zu erleichtern.« [7]

Sie war klüger als ihre Vorgängerin, die Malerin Gabriele Münter, die sich zu einer solchen »Erleichterung« nicht bereit fand und auf ihrer eigenen künstlerischen Entwicklung an der Seite Kandinskys bestand.[8] Wie nicht anders zu erwarten, lastete Nina Kandinsky, die »erfolgreiche Gattin«, das Scheitern der Beziehung allein Gabriele Münter an, weil diese es nicht verstanden habe, sich aufzuopfern.
Ebenfalls keine Probleme mit ihrer Rolle als Frau an der Seite eines berühmten Mannes scheint Katia Mann gehabt zu haben, wenn man ihren »ungeschriebenen Memoiren« Glauben schenken darf Und doch findet sich darin der Satz:

»... ich habe in meinem Leben nie tun können, was ich hätte tun wollen.«[9]

Daß ihr dieser Verzicht nicht immer leichtgefallen ist, läßt sich nur indirekt aus anderen Zeugnissen erschließen. So warnte Katia Mann Anfang der dreißiger Jahre zum Beispiel Ninon Ausländer, deren Hochzeit mit Hermann Hesse unmittelbar bevorstand, eindringlich davor, ihre Eigenständigkeit in der Beziehung aufzugeben,[10] und ermunterte die Freundin, sich eigene Arbeitsbereiche in der Ehe zu schaffen. Mathilde Beckmann, Alma Mahler-Werfel, Nina Kandinsky, Katia Mann - sie alle sind Variationen des gleichen Typus: der »Karrierebegleiterin«![11] Sie haben diesen Typus in unterschiedlicher Weise verkörpert und in unterschiedlicher Intensität gelebt. Die Erfolge »ihrer« Männer scheinen ihnen nachträglich recht zu geben: Der Einsatz hat sich gelohnt, ein später Abglanz des männlichen Ruhms fällt auf sie als »treue Gattinnen« zurück und vergoldet die Erinnerung.
Wenn in diesem Buch nicht auf die Beispiele dieser Frauen zurückgegriffen wird, so geschieht das, weil ihre Entscheidung für die Karriere des Mannes ein eigenes Leben erst gar nicht hat entstehen lassen. Die Rekonstruktionsarbeit stößt ins Leere: Es ist nichts Eigenes da, über das sich berichten ließe.[12] Zugleich ist der Rechtfertigungsgestus der einmal getroffenen Entscheidung gegenüber in den Lebenserinnerungen der »Karrierebegleiterinnen« so stark, daß eine Reflexion über die eigene Rolle nicht mehr stattfindet. An die Stelle der offenen Auseinandersetzung treten die Verdrängung der eigenen Wünsche und die »Kosten« ihrer Unterordnung. [13] Katia Manns »ungeschriebene Memoiren« sind hierfür ein bedrückendes Beispiel. Nicht die »Verdrängungskünstlerinnen« also sind Gegenstand dieses Buches, sondern die Frauen, die ihre Rolle reflektiert haben, die in der Beziehung zu Männern um den Erhalt ihrer eigenen Identität gekämpft und nach eigenem Ausdruck gesucht haben, die die hierarchische Strukturierung von Beziehungen abgelehnt und eine »Parallelität«[14] des Lebens mit dem Partner angestrebt haben.
Der Titel dieses Buches, »Das Schicksal der begabten Frau«, spielt auf die besondere Identitätsproblematik von Frauen als Ehefrauen oder Geliebte in der Beziehung zu »berühmten Männern« an. Der Kampf zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung nimmt tatsächlich oft schicksalhafte Züge an, weil sie um des Mannes willen auf ihre eigene Karriere verzichten müssen. Er endet häufig in Krankheit, Wahnsinn, Selbstmord. Die Beispiele von Schwestern,[15] Töchtern [16] und Müttern [17] berühmter Männer beweisen dies zur Genüge.
Das Interesse in diesem Band liegt auf Beziehungen, in denen Frauen nicht bereits als Schwestern, Töchter, Mütter in hierarchische Strukturen eingefügt sind und den Kampf um die eigene Identität bereits verloren haben, bevor er eigentlich begonnen hat. Es liegt vielmehr auf Beziehungen, in denen sich Frauen von der Partnerkonstellation her erst einmal auf der gleichen Ebene bewegen.[18] Freilich treten sie auch in solche Konstellationen nicht unbelastet ein: Als Töchter und häufig auch als Schwestern sind sie bereits in ganz spezifischer Weise konditioniert.
Absichtlich habe ich solche Frauen ausgewählt, die ausgeprägte künstlerische oder wissenschaftliche Interessen in die Beziehung zu Männern einbrachten, ihnen als Musikerin, Malerin, Bildhauerin, Schriftstellerin, als Mathematikerin, Historikerin oder Theologin häufig gleichrangig, manchmal sogar überlegen waren. Ihre große Begabung war nicht zuletzt der Grund für ihre Attraktivität auf Männer. Die Frage, was aus dieser »Begabung« der Frau in der Beziehung geworden ist, ist eine zentrale Fragestellung, die sich in jedem Porträt neu stellt. Wenn der Anteil der »gebrochenen« Frauen überwiegt, so ist das nicht Absicht gewesen. Im Gegenteil: Ich habe mich bemüht, Beispiele für parallele und dialogische Strukturen zu finden, in denen sich die Begabungen von Frauen und Männern gleichermaßen produktiv weiterentwickelt haben. Gefunden habe ich etwas anderes: die Ausbeutung und die Zerstörung weiblicher Begabung durch die jeweiligen männlichen Partner und die Marginalisierung und Verdrängung der kreativen weiblichen Anteile an den Werken der Männer in der späteren historischen Wahrnehmung. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Männer »rechtzeitig« starben oder sich die Beziehung früh löste, blieb den Frauen die Chance, ihre schöpferischen Möglichkeiten wenigstens im Alter für sich selbst zu nutzen (Charlotte Berend-Corinth, Clara Westhoff-Rilke).
Ein solches deprimierendes Ergebnis hängt natürlich mit der Geniekonzeption zusammen, die sich auf den Mann als Künstler, Wissenschaftler und Politiker bezieht. Dieser Geniebegriff ist so grandios, daß er notwendig die vampiristische Ausbeutung anderer voraussetzt. Das »geniale Werk« ist denkbar nur als Synthese einer gewaltigen Kraftanstrengung. Es setzt sich zusammen aus der sichtbaren Arbeit des Künstlers und dem, was Renate Köbler in Anlehnung an Ivan Illich »Schattenarbeit« genannt hat.[19] Gemeint ist damit die Arbeit von Frauen. Sie reicht von Hausfrauen- und Sekretärinnentätigkeit über Liebes- und Beziehungsarbeit als Musen und Mitarbeiterinnen bis hin zur Beteiligung eines ganzen Familienclans am großen Werk, wie das Beispiel des Marx-Haushaltes zeigt, wo Ehefrau, Töchter und Haushälterin lebenslang in den Dienst des »Werkes« gestellt wurden.
Es bestätigt sich die These vom »Frauenopfer«[20] als notwendiger Voraussetzung jeglicher kultureller Produktion, die seit langem ein Gemeingut in der feministischen Forschung ist.[21] In Edgar Allan Poes Erzählung »Das ovale Porträt« findet sich für diese These ein einprägsamer Beleg. Poe erzählt die Geschichte eines Malers, dem die eigene Frau Modell sitzt. Während das Bild auf der Leinwand im Verlauf der wochenlangen Arbeit immer lebensähnlicher wird, verfällt die Frau immer mehr und verliert zusehends an Lebenskraft. Als das Bild schließlich fertig ist, ist die Frau tot:

»Und als dann viele Wochen vorübergestrichen waren und wenig mehr zu tun blieb, noch ein Pinselstrich am Munde - ein Tupfen am Aug', da flackerte der Geist des Mädchens noch einmal auf wie die Flamme in der Leuchterhülse. Und dann war der Pinselstrich getan und der Farbtupfer angebracht; und einen Augenblick lang stand der Maler versunken vor dem Werk, das er geschaffen; im nächsten aber, während er noch starrte, überfiel ein Zittern ihn und große Blässe, Entsetzen packt' ihn, und mit lauter Stimme rief er: Wahrlich, das ist das Leben selbst, und warf sich jählich herum, die Geliebte zu schaun: - Sie war tot!«[22]

An diese Szene habe ich im Verlaufe der Arbeit an den Frauenporträts immer wieder denken müssen. Natürlich vollzieht sich die »Tötung« im realen Leben anders als auf der fiktiven Ebene des Textes. Die Lebensgeschichten von Camille Claudel und Zelda Sayre-Fitzgerald zeigen jedoch, daß die Grenzen zwischen Fiktion und Realität fließend sind.
Das »Verschwinden« von Frauen im Werk des Mannes ist nicht auf den Bereich der Kunstproduktion beschränkt. Auch in den Wissenschaften läßt sich dieses »Verschwinden« beobachten. Als ungenannte Mitarbeiterinnen und Co-Autorinnen gehen Frauen in die Werke der Männer ein (vergleiche Mileva Maric Einstein und Charlotte von Kirschbaum), oder aber die Erinnerung an sie wird, wie im Fall von Hedwig Guggenheimer-Hintze, systematisch aus dem Gedächtnis der Nachwelt getilgt. Die verschiedenen Beispiele aus den unterschiedlichen Bereichen von Kunst, Wissenschaft und Politik zeigen, daß auch da, wo ursprünglich von beiden Seiten eine gleichberechtigte Beziehung angestrebt wurde, wie zum Beispiel im Falle von Schumann oder Einstein, die patriarchalischen Strukturen stärker waren als die individuellen Wünsche. Das gilt sicherlich nicht nur für die Generation unserer Großmütter und Urgroßmütter, sondern auch heute noch. Deshalb greift auch die Frage nach der Schuld zu kurz, auch wenn sie sich den Beteiligten immer wieder gestellt hat und sich uns auch heute beim Lesen der Lebensgeschichten aufdrängen mag. Zelda Sayre-Fitzgerald schrieb darüber an ihren Mann:

»Ich bin nicht bereit, die Schuld jetzt plötzlich auf mich zu nehmen, nachdem ich mich früher nicht schuldig gefühlt habe. Aber um Schuld geht es sowieso nicht ...«[23]

In dem mörderischen Konkurrenzkampf, der zum Beispiel in den Ehen von Tolstoi und Fitzgerald getobt und der sich in abgeschwächter Form auch bei den Schumanns und Hesses abgespielt hat, ging es nur noch ums Überleben. Gerade an den extremen Beispielen zeigt sich, daß die Frauen nicht nur Opfer gewesen sind, sondern auch Täterinnen.[24] Ihr Versuch, über Männer »Bedeutung« zu erlangen und am »Genie« des Mannes zu partizipieren, führt zu Verkrüppelungen nicht nur bei ihnen selbst, sondern auch bei ihren Partnern. Dies verweist zurück auf die Ausgangsposition der Frauen als Töchter.
Alle Frauen, deren Lebensgeschichten in diesem Band rekonstruiert werden, waren »Vater-Töchter«, das heißt Töchter, die von ihren Vätern auffällig bevorzugt und entscheidend gefördert worden sind [25] und häufig ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren Müttern hatten.[26] Ihr großes Selbstwertgefühl und ihr hohes Anspruchsniveau, das sie der frühen väterlichen Förderung verdanken, erweist sich als ambivalente »Mitgift«. Die Identifizierung mit dem Vater und die Ablehnung der weiblichen Rolle befähigt die Töchter zwar zu erstaunlichen Leistungen, macht sie aber verführbar gegenüber den Verlockungen eines männlich besetzten Geniebegriffs. Bewußt oder unbewußt suchen sie sich solche Partner, die dem geliebten Vater ähnlich, wenn nicht sogar überlegen sind. Es entsteht ein unlösbarer Konflikt zwischen dem eigenen hohen Selbstanspruch und der Anfälligkeit »starken« Männern gegenüber. Erst dann, wenn die Frauen Bereiche finden, in denen sie sich dem abgelehnten, verdrängten »mütterlichen Erbe« annähern können - wie zum Beispiel Ninon Ausländer-Hesse in der Beschäftigung mit der Rolle des Weiblichen im Mythos und Charlotte von Kirschbaum in der Auseinandersetzung mit der Position der Frau in der christlichen Lehre - oder »neutrale«, nicht »männlich« besetzte, Felder finden, können sie diese Konfliktstrukturen auflösen und zu eigener Produktivität finden, wie die Beispiele von Clara Westhoff-Rilke und Charlotte Berend-Corinth zeigen.
Gerade um die Rekonstruktion der kreativen Potentiale von Frauen geht es in den vorliegenden Porträts. Sie sind nicht geschrieben worden, um erneut die These vom Opferstatus der Frau zu belegen, sondern sie sind verfaßt worden, um die verborgene Produktivität von Frauen freizulegen und Anteile sichtbar zu machen, die dem Vergessen und Verdrängen anheimgefallen sind. Die Porträts sollen die Frauen aus dem »Schatten« holen, in den sie sich selbst, ihre Männer oder die männliche Geschichtsschreibung sie gestellt haben. »Lernen« können wir nur dann aus diesen Geschichten, wenn wir keine »Heiligenlegenden« entwerfen, sondern uns den Strukturen und der Mittäterschaft von Frauen in diesen Strukturen offensiv stellen.
Die Balance zu halten zwischen positiver Rekonstruktionsarbeit einerseits und kritischer Analysetätigkeit andererseits erwies sich als nicht leicht. Das fängt schon bei den Namen an. Im Gegensatz zu Darstellungen, in denen eine Nähe zu Frauen durch die Benutzung ihres Vornamens gesucht wird, habe ich mich generell für die Benutzung des Vor- und Nachnamens entschieden. Nur wenn ich von den Frauen als Mädchen spreche, habe ich den Vornamen verwendet. Eine Ausnahme stellen die Porträts von Clara Wieck-Schumann und Zelda Sayre-Fitzgerald dar. Ferner werden beide Partner zumeist bei ihren Vornamen genannt, weil diese gleichsam zu Markenzeichen in der Legendenbildung vom »Traumpaar«, »Clara & Robert« und »Zelda & Scott« geworden sind. Einen Ausnahmestatus hat auch das Porträt von Sofja Andrejewna Tolstoya. Hier bin ich der im Russischen üblichen Form der Feminisierung von Familiennamen gefolgt und habe auf die umständliche Schreibweise »Sofja Andrejewna Behrs-Tolstoi« verzichtet, weil sie im Russischen kein Pendant hat. Ebenfalls im Gegensatz zu sonst üblichen Verfahrensweisen habe ich mich dafür entschieden, die Frauen jeweils zuerst mit ihrem »Vaternamen« und wenn sie verheiratet sind, zusätzlich mit dem Namen ihres Mannes zu nennen, auch wenn die Frauen diese Reihenfolge häufig umgedreht oder ihren »Mädchennamen« ganz fallengelassen haben. Gerade der »Doppelname« verweist auf die Identitätsproblematik von Frauen zwischen Vätern und Männern und macht deutlich, wie schwierig es ist, sich eine eigene Position dazwischen beziehungsweise unabhängig davon zu erobern.
Das größte Problem war jedoch die unterschiedliche Materiallage. Als »Frauen im Schatten« haben die meisten der vorgestellten Frauen kaum eigene Spuren hinterlassen, oder diese sind spätestens von der Nachwelt sorgfältig getilgt worden. Im Falle von Jenny Westphalen-Marx sind wir fast ausschließlich auf Briefe, im Falle von Sofja Tolstoya auf Tagebücher angewiesen. Für Mileva Maric-Einstein, Charlotte von Kirschbaum und Hedwig Guggenheimer-Hintze liegt nicht einmal solches Material vor. Die Verführung, auf die Werke der Männer zurückzugreifen, um Lücken zu füllen, ist groß. So findet sich zum Beispiel über Clara Westhoff-Rilke, deren persönlicher Nachlaß immer noch gesperrt ist, eine Fülle von Äußerungen in Rilkes Werken und Briefen. Ich habe aber soweit wie möglich darauf verzichtet, weil dadurch einmal mehr Rilke in den Vordergrund gerückt worden wäre. Bewußt habe ich in Kauf genommen, daß manches Porträt durch den Verzicht auf »männliche Sekundärzeugnisse« im Detail nicht immer ganz ausgeführt ist. Mir kam es darauf an, das Leben und die Leistung der jeweiligen Frauen auf der Grundlage ihres eigenen Materials zu rekonstruieren und nicht durch Äußerungen ihrer berühmten Gefährten erneut in den Schatten zu stellen. Nicht immer liegt ein »Werk« vor, aus dem sich, wenn nicht das Leben so doch wenigstens das künstlerische oder wissenschaftliche Profil der Frauen rekonstruieren läßt. Und wenn dieses existiert, ist es entweder nicht oder nur teilweise publiziert (wie im Falle von Clara Wieck-Schumann oder Ninon Ausländer-Hesse), nicht oder nur zum Teil katalogisiert (wie zum Beispiel im Falle von Clara Westhoff-Rilke, deren malerisches und zeichnerisches Werk noch gänzlich unaufgearbeitet ist), oder es ist von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen worden (wie zum Beispiel im Falle von Charlotte Berend-Corinth). Daß hier alles andere als Qualitätsgesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, zeigt das Beispiel von Camille Claudel, die trotz ihres genialen Werkes der Vergessenheit anheimgefallen ist.
Die Auswahl der zu porträtierenden Frauen war ebenfalls nicht leicht. Viele Recherchen führten nicht zum Erfolg und mußten angesichts der desolaten Materiallage abgebrochen werden. Auf einige Porträts, wie zum Beispiel das von Anna Grigojewna Dostojewskaja, habe ich - trotz ausreichender Materialbasis - deshalb verzichtet, weil sie nur eine Verdoppelung gebracht hätten. Der Umstand, daß fünf der porträtierten Frauen aus jüdischen Familien stammen (Ausländer, Berend Guggenheimer, Kirschbaum, Maric), ist sicher nicht zufällig. Das ist jedoch nicht Ergebnis einer gezielten Auswahl, sondern Ausdruck für den hervorragenden Anteil der jüdischen Intelligenz am kulturellen und wissenschaftlichen Leben. Von ihrem doppelten Außenseiterstatus her waren jüdische Frauen eher als andere Frauen in der Lage, sich aus Vorurteilsstrukturen zu lösen und unkonventionelle Wege zu beschreiten. Statt der ursprünglich geplanten zwölf Porträts sind es nur elf geworden.
Anna Freud, deren äußerlich erfolgreiches und langes Leben gegen die »Schatten-Frauen« so auffällig absticht, sollte als ermutigendes Beispiel dafür stehen, wie stark und leistungsfähig ursprüngliche »Vater-Töchter« werden können, wenn sie sich nicht in die späteren hierarchischen Strukturen einer heterosexuellen Partnerbeziehung einbinden. Die intensive Beschäftigung mit ihrem Leben und Werk [27] überzeugte mich jedoch, daß Anna Freud, stärker als alle anderen im Band vorgestellten Frauen, den Kampf um das Eigene verloren hat und daß die öffentliche Anerkennung, die sie fand, ihr als »schönste Umsetzung der väterlichen Psychoanalyse ins Weibliche«[28] galt, also nicht ihr selbst, sondern ihrem Vater. Das, was als ihre eigene Leistung gilt, die Kinderpsychoanalyse, ist in Wirklichkeit eine höchst problematische, weil gänzlich unreflektierte Übertragung der Freudschen Lehre auf den Bereich der pädagogischen Arbeit mit Kindern. Die Aufarbeitung dieser problematischen Übertragung hätte den Rahmen des Porträts gesprengt. Sie ist wohl nur zu leisten im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit den anderen Pionierinnen der Psychoanalyse, die, trotz ihres unbestreitbaren öffentlichen Erfolges, doch alle mehr oder minder im Status der Töchter gefangen geblieben sind. In ihrer absoluten Loyalität zum Vater hat Anna Freud, die legendäre »Miss Freud«, viele Gemeinsamkeiten mit den sogenannten »Karierebegleiterinnen«, nur daß diese sich nicht auf den Vater, sondern auf den Mann beziehen. Beide, die »ewige Tochter« Anna Freud und die aufopfernden »Gattinnen«, führen ein äußerlich zwar glänzendes und abgeschirmtes Leben, das aber doch ein Leben aus zweiter Hand ist.
Die jetzige Auswahl beruht auf dem Wunsch, Frauen aus möglichst unterschiedlichen Bereichen (Musik, Literatur, Malerei, Bildhauerei, Mathematik, Geschichte, Theologie, Politik) zu präsentieren, um über die Rekonstruktionsarbeit der jeweiligen Lebensgeschichte hinaus generelle Strukturen sichtbar zu machen. Die zeitliche Eingrenzung auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht es, Vergleiche und Verbindungslinien zu ziehen, die bei einem Gang durch die Jahrhunderte leicht verlorengehen. Der gemeinsame historische Bezugspunkt - nicht zuletzt auf den Kampf der ersten Frauenbewegung - läßt ein Beziehungsgeflecht entstehen in dem die historischen Bedingtheiten, aber auch die individuellen Besonderheiten klar hervortreten können.
Geschrieben werden konnte dieses Buch nur, weil zahlreiche Frauen (und einige Männer) entscheidende biographische und interpretatorische Vorarbeiten geleistet haben. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
Im März 1989  
Inge Stephan

Texttyp

Einleitung