Charlotte von Kirschbaums Leben (1899-1975) an der Seite von Karl Barth

»Wer aber sagt denn, daß die Stellung der Frau eine unselbständige, ja auch nur geringere sei?«

  • »Und nun möchte ich dieses Vorwort nicht schließen, ohne die Leser dieser nun schon sieben Bände einmal ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, was mit mir selbst auch sie der zwanzig jährigen Arbeit zu danken haben, die Charlotte von Kirschbaum in aller Stille an meiner Seite geleistet hat. Sie hat im Dienst der laufenden Entstehung dieses Werkes ihr Leben und ihre Kraft nicht weniger eingesetzt als ich selber. Ohne ihre Mitwirkung könnte es nicht Tag für Tag gefördert werden und wüßte ich nicht, wie ich mir die Zuhunft, die es noch haben mag, vorstellen sollte. Ich weiß, was es heißt, eine Hilfe zu haben.«

Mit diesen Worten dankte der Theologe Karl Barth im Vorwort seiner »Kirchlichen Dogmatik« im Jahre 1950 seiner Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum für die geleistete Unterstützung. Mit dieser Danksagung war er fairer als die meisten seiner späteren Biographen, die die Leistung Charlotte von Kirschbaums entweder nur kurz erwähnten oder aber ganz unter den Tisch fallen ließen.
Offensichtlich scheinen auch im Bereich der Theologie die Verdrängungsmechanismen mächtig zu sein, auf die wir im Bereich von Kunst, Wissenschaft und Politik immer wieder stoßen: Die Arbeit von Frauen wird marginalisiert, vergessen, umgedeutet, um die Leistung des jeweiligen Mannes um so strahlender hervortreten zu lassen. Das Wunschbild vom männlichen Genie, das auf sich allein gestellt und aus sich selbst heraus ein grandioses Lebenswerk schafft, duldet nur in Ausnahmefällen die Erwähnung von Anteilen, die andere an dem Werk haben. Dabei ist die Wahrnehmung geschlechtsspezifisch gefärbt: Die Arbeit von Männern wird eher erwähnt und als kongeniale Leistung gewürdigt als die von Frauen. Dafür stehen zum Beispiel Teams wie Brecht/Eisler, Horkheimer/Adorno und Negt/Kluge, die als Ausnahmen von der allgemeinen Regel aber nur das geflügelte Wort von Schiller bestätigen, daß der Starke am mächtigsten allein sei. Eine solche Auffassung von Stärke und Macht läuft tendenziell immer auf die Verdrängung der Anteile hinaus, die sich nicht unter dem Begriff der genialen Einzelleistung subsumieren lassen. Der Anteil von Frauen an der Arbeit von Männern wird so lange positiv vermerkt, wie er die »geniale Einzelleistung« nicht in Frage stellt. Als Ehefrauen, die den notwendigen organisatorischen und emotionalen Alltagsrahmen herstellen, in dem sich das männliche Genie ungestört entfalten kann, als Musen, die das männliche Genie intellektuell und/oder erotisch inspirieren, als perfekte Sekretärinnen, die entsagungsvoll immer neue Fassungen des Lebenswerkes herstellen, und als Heerschar namenloser Mitarbeiteiinnen die zum Gelingen des »großen Werkes« beitragen, haben Frauen durch die Jahrhunderte hindurch immer ihren angestammten Platz in der männlichen Produktion gehabt. Die obligatorischen Danksagungen an die »lieben Ehefrauen« und sonstigen Helferinnen, »Ohne die diese Arbeit nicht entstanden wäre«, die wir in Vorworten und Nachworten so häufig antreffen, sind verräterisch: Sie lassen den Anteil der Frauen zwar kurz aufscheinen, aber nur, um ihn sogleich wieder verschwinden zu lassen. Wenn aber der Anteil von Frauen zu groß ist, als daß er sich hinter einer konventionellen Formel einfach verbergen ließe, ändert sich die Strategie: An die Stelle generöser Danksagung tritt die Verdrängung, das Verschweigen und das Verheimlichen.
Im Falle von Charlotte von Kirschbaum wird diese Strategie unterstützt durch die Auffassung von der nachgeordneten Position, die der Frau in der christlichen Lehre traditionell zugewiesen wird. Gerade das Christentum ist eine extrem patriarchalische Ideologie, die auf dem männerbündlerischen Konsens zwischen »Gottvater Sohn & Co« beruht. Die radikal-feministische Kritik am Christentum, wie sie zum Beispiel Mary Daly vertritt, kann in der christlichen Trinitätsformel von Vater, Sohn und Heiligem Geist nur ein grandioses Symbol männlicher Vorherrschaft auf der Welt sehen. Tatsächlich ist der Ausschluß von Frauen für das Christentum konstitutiv. Der Marienkult ist nur ein prekärer Ersatz für die Ohnmacht der Frauen im christlichen Alltag.
Das Alte Testament ist ein Schlüsseltext für die Frühgeschichte des Patriarchats, aus dem nur noch mühsam ältere matriarchale Schichten entziffert werden können: Die alten Muttergottheiten werden durch das monotheistische Prinzip des alleinherrschenden Vatergottes ersetzt. Die aus der Rippe Adams geschaffene Eva ist eine doppelt Unterworfene: Sie ist abhängig von Gott, ihrem Schöpfer, und von Adam, ihrem Ehemann, der von Gott als Herrscher über sie eingesetzt wird. Im ersten Buch Mose 3,16 spricht Gott zum Weibe:

  • » ... und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.«

Im Neuen Testament setzt sich diese Unterwerfung der Frau unter den Mann konsequent fort. Bei Paulus heißt es im ersten Brief an die Korinther:

  • »Ich lasse euch aber wissen daß Christus ist eines jeglichen Mannes Haupt; der Mann aber ist des Weibes Haupt; Gott aber ist Christi Haupt.«

Die Begründung für die Unterwerfung der Frau liegt für Paulus in der Schöpfungsgeschichte, die ja ihrerseits bereits Ideologiegeschichte ist:

  • »Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib vom Manne. Und der Mann ist geschaffen nicht um des Weibes willen, sondern das Weib um des Mannes willen.«

Im Korintherbrief von Paulus finden sich auch jene Sätze, die immer wieder zitiert werden, wenn es um die Rechtfertigung des Ausschlusses von Frauen vom »Geistlichen Amt« geht:

  • »Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht der Frau übel an in der Gemeinde zu reden.«

Daß solche Auffassungen eine schwere Hypothek für die aktive Teilnahme von Frauen am theologischen Diskurs darstellen, zeigt der Lebensweg von Charlotte von Kirschbaum in eindrucksvoller Weise.
Charlotte von Kirschbaum wurde 1899 in Ingolstadt als einzige Tochter des Generalmajors Maximilian von Kirschbaum und seiner Frau Henriette, geborene Freiin von Brück geboren. Zusammen mit ihren beiden Brüdern, der eine war zwei Jahre älter, der andere drei Jahre jünger als sie, führte sie ein zwar wohlsituiertes, aber unstetes Leben, das durch die zahlreichen Versetzungen des Vaters bestimmt wurde. Trotz seiner starken beruflichen Anspannung als Offizier in einer Zeit, als der Erste Weltkrieg militärisch und politisch vorbereitet wurde, fand der Vater viel Zeit für die Tochter, von deren besonderer Begabung er früh überzeugt war. Auf die auffällige Bevorzugung der Tochter durch den Vater reagierte die Mutter, die sich den beiden Söhnen stark verbunden fühlte, mit Neid was zu einer lebenslangen Belastung des Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter führte.
Der Kriegsausbruch 1914 und der Tod des Vaters 1916, der als Kommandeur der 6. bayerischen Infanteriedivision in Frankreich fiel, waren ein besonders harter Schlag für die damals fünfzehn- beziehungsweise siebzehnjährige Charlotte von Kirschbaum. Zwar konnte sie 1915 die Höhere Töchterschule trotz der Kriegswirren erfolgreich beenden, aber die intellektuelle und emotionale Unterstützung durch den Vater muß bereits bei Kriegsbeginn auf ein Minimum zusammengeschrumpft sein, so daß sein Tod nur der Endpunkt eines längeren schmerzlichen Ablösungsprozesses darstellte. Ohne den Schutz und die Unterstützung des Vaters war die Tochter eine Frühwaise mit unklaren Zukunftsperspektiven. Der Schulabschluß berechtigte sie nicht zu einem Studium. Eine weitere schulische Ausbildung scheint nicht zur Debatte gestanden zu haben, und eine »angemessene Partie« scheint sich entweder nicht geboten zu haben oder aber - was wahrscheinlicher ist - von Charlotte von Kirschbaum nicht angestrebt worden zu sein.
Ihr Entschluß sich zur Krankenschwester beim Deutschen Roten Kreuz ausbilden zu lassen, ist unter diesen Umständen eine einleuchtende Entscheidung: Sie trägt der Kriegs- beziehungsweise Nachkriegssituation mit ihren zahlreichen Verwundeten und Kranken Rechnung, sie ist ein behutsamer Schritt in Richtung Selbständigkeit - immerhin ermöglicht ihr die Ausbildung das Verlassen des Elternhauses - und sie ist zugleich eine Anpassung an die konservative Auffassung von der besonderen Befähigung der Frau zum Dienen, Helfen und Pflegen. Spätestens seit dem spektakulären krankenpflegerischen Einsatz von Florence Nightingale im Krimkrieg war es für Frauen, auch aus adeligen Kreisen, schicklich, Krankenschwester zu werden.
Das Interesse an theologischen Fragestellungen erwachte bei Charlotte von Kirschbaum bereits als Schwesternschülerin. Durch eine Freundin, später durch einen Freund, den lutherischen Pfarrer Georg Merz, geriet sie in Kontakt mit der damals avantgardistischen »dialektischen Theologie« Karl Barths. Merz war durch eine positive Rezension von Barths Römerbrief zu seinem Anhänger und - trotz späterer politischer Differenzen während des Faschismus - zu seinem lebenslangen persönlichen Freund geworden. Als Redakteur der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« - einem Forum der neuen Theologie - war er mit den theologischen Debatten seiner Zeit bestens vertraut. Der persönliche Kontakt zwischen Charlotte von Kirschbaum und Karl Barth scheint durch Vermittlung von Georg Merz zustande gekommen zu sein. Zusammen mit Merz weilte sie 1924 das erste Mal auf dem »Bergli«, dem Sommerhaus, das Barths Freunde, das Ehepaar Pestalozzi, oberhalb von Zürich hatten bauen lassen und in das sich Barth regelmäßig im Sommer zur Arbeit und Erholung zurückzog.
Als die fünfundzwanzigjährige Charlotte von Kirschbaum und der achtunddreißigjährige Karl Barth sich dort zum ersten Mal begegneten, war Barth Professor für reformierte Theologie in Göttingen. Wenig später erhielt er einen ehrenhaften Ruf nach Münster. Charlotte von Kirschbaum war eine attraktive junge Frau, die sich als Krankenschwester intellektuell nicht ausgefüllt fühlte und nach Anregungen hungerte. Auf theologischem Gebiet war sie zwar Laiin, aber sie war doch mit gewissen Vorkenntnissen ausgestattet und besaß zudem eine unbändige Neugier an theologischen Fragestellungen. Unzufrieden mit ihrer intellektuellen Unterforderung als Krankenschwester, hielt sie nach anderen Aufgaben Ausschau. Eine Weiterqualifizierung zur Sekretärin erschien insbesondere den mit ihr befreundeten Männern als eine reizvolle Perspektive. Der Theologe Thurneysen auch er ein häufiger Besucher auf dem »Bergli« und gemeinsamer Freund von Barth und Merz - dachte dabei in erster Linie an die gemeinsame Zeitschrift »Zwischen den Zeiten«, für die Georg Merz als Schriftsteller fungierte. Im Sommer 1925 schrieb Thurneysen an Barth:

  • »Wir verlebten am Freitag noch einen guten Tag mit Merzens und Frl. von Kirschbaum auf dem Bergli, die noch bis Sonntag früh blieb. Georg ist wirklich unersetzlich als umsichtiger Dirigent unserer Mannschaft. Wenn er nur selber ein wenig mehr zur Arbeit käme; aber er hat einen vollgeladenen Karren. Eigentlich sollte ihm Lempp (= der Verleger der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten«) Frl. von Kirschbaum als Sekretärin zur Seite stellen; sie könnte ihm viel Korrespondenzen und Verhandlungen mit Autoren und dergleichen abnehmen und wäre sicher so gut an ihrem Platz wie als Krankenschwester.«

Tatsächlich begann Charlotte von Kirschbaum - finanziell unterstützt von Barths Freunden Pestalozzi - Ende des Jahres 1925 mit einer Weiterbildung an der sozialen Frauenschule in München, wo sie unter anderem mit allen anfallenden Sekretariatsaufgaben vertraut gemacht wurde. Nach der Ausbildung, die sie mit hervorragenden Zeugnissen abschloß, wurde sie jedoch nicht Sekretärin bei Merz, sondern Betriebsfürsorgerin bei den Siemens-Werken in Nürnberg, setzte also ihre alte dienende und helfende Tätigkeit in einem neuen Rahmen fort. Der Plan, als Sekretärin von Merz für die Zeitschrift »Zwischen den Zeiten« zu arbeiten, realisierte sich vielleicht auch deshalb nicht, weil Charlotte von Kirschbaum sich in der Zwischenzeit immer stärker an Karl Barth angeschlossen hatte. Als dieser Ende 1925 seine Professur in Münster antrat und seine Familie - die Ehefrau Nelly und fünf Kinder - erst später nachholte, besuchte Charlotte von Kirschbaum ihn an der neuen Stätte seines Wirkens.
Für beide war dies der Anfang einer Beziehung, die fast vierzig Jahre allen Krisen und Anfeindungen standhalten sollte. Dabei war es von vornherein klar - und von Barths familiärer und beruflicher Situation auch verständlich - daß die Beziehung die Ehe Barths in ihrem Bestand nicht gefährden durfte. Wie Charlotte von Kirschbaum über dieses Arrangement gedacht hat, wissen wir nicht. Jedenfalls begann sie seit diesem Zeitpunkt als Sekretärin für Barth zu arbeiten, zuerst in den Ferien. Ab 1929, als sie dann in das Haus der Barthschen Familie als Mitglied aufgenommen wurde, konzentrierte sie sich ausschließlich auf die Arbeit für Barth. Zuvor hatte sie sich durch einen erneuten Besuch einer sozialen Frauenschule, diesmal in Berlin, weiter qualifiziert. Sie holte auch das Abitur nach, das sie aber nicht für eine eigene berufliche Karriere nutzte, sondern als geistiges »Kapital« in die Beziehung zu Barth einbrachte. Barth war von seiner neuen Sekretärin begeistert, die ja nicht nur perfekt Schreibmaschine schrieb, sondern auch die Zettelkästen führte, Korrespondenzen selbständig erledigte, theologische Werke las und exzerpierte, Latein lernte, um die Kirchenväter im Urtext lesen zu können, und Barths Texte unermüdlich durch sachverständige Kritik und Zustimmung förderte. Im Mai 1929 schrieb Barth:

  • »Es ist... zu erzählen, daß besonders Lollo hinter ihrem Luther einen ganz unheimlichen Fleiß entwickelt und täglich einen ganzen Stoß wichtiger Notizen, uber die in den vielen Predigtbänden verborgenen Aussprüche ... dieses Mannes zu Tage fördert und in meine Scheunen führt.«

Das Bild von der Scheune, das Barth hier gebraucht, wirft ein bezeichnendes Licht auf die besondere Art der Arbeitsbeziehung, die von Freunden der Familie - und wohl auch von Charlotte von Kirschbaum selbst - nicht unter dem Aspekt der Ausbeutung gesehen sondern vielmehr als rührendes Beispiel kongenialer Verschmelzung gepriesen wurde. Eine Freundin schrieb:

  • »Da saßen sie am großen Fenster am Tisch Lollo vor der Schreibmaschine, wie sie ihm ein paar Blätter des Manuskripts, an dem sie grade arbeiteten, zur Begutachtung entgegenhielt. Ganz unvergeßlich und unaustauschbar die Kongenialität, in der sie mit ihm arbeitete. Und ich sehe z.B. noch das große Glück beider, als wir am Abend der Fertigstellung des Anselmbuches, das Karl ja immer als sein bedeutendstes ansah, bei Mozartmusik und... schönstem Wein im Läubli draußen bei Rittersporn und Phloxduft saßen. Eins der unauslöschlichsten Bilder vom völligen Einssein der Beiden im geistigen Austausch.«

Für Charlotte von Kirschbaum war diese »Verschmelzung« mit dem bewunderten und geliebten Mann, der ihr sicherlich wenigstens zum Teil den Vater ersetzte, mit großen Problemen verbunden. Ihre Familie war entsetzt von der ménage à trois im Barthschen Hause und brach den Kontakt zu ihr ab. Aber auch Barths Mutter und viele seiner Freunde und Bekannten konnten die Entscheidung Barths für ein Leben mit zwei Frauen nicht akzeptieren. Belastend kam natürlich der Klatsch der Spießer hinzu. Unabhängig von solchen äußeren Anfeindungen war die Dreierbeziehung aber auch von innen heraus extremen Belastungen ausgesetzt. Barths Frau wurde durch das Arrangement viel abverlangt. Als Hausfrau und Mutter von fünf Kindern erschöpfte sie sich in der zermürbenden alltäglichen Arbeit für die Familie, vom intellektuellen Leben ihres Mannes war sie weitgehend abgeschnitten. Charlotte von Kirschbaum teilte zwar die intellektuellen Abenteuer Barths, die in Wahrheit wohl eher eine Kette von asketischen Anstrengungen waren, blieb aber von dem intimen familiären Alltag weitgehend ausgeschlossen, auch wenn sie als »Tante Lollo« eine formal abgesicherte Position in der Barthschen Familie zugewiesen bekam.
Völlig ungesichert war sie jedoch in finanzieller Hinsicht. Sie lebte zwar im Barthschen Hause und ihr entstanden keine Lebenshaltungskosten, für ihre Arbeit erhielt sie jedoch kein Geld, und an den Tantiemen der Werke war sie nicht beteiligt. Von den hundert Mark Taschengeld hätte sie nie ein unabhängiges Leben führen können. Sie scheint dies auch nicht gewollt zu haben.
Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft schuf darüber hinaus eine Situation, in der sich die persönlichen Probleme durch die massive Verfolgung relativierten, der die Anhänger der »Bekennenden Kirche« ausgesetzt waren. In diesen Jahren, in denen Barth zur Leitfigur im Kirchenkampf gegen die Nationalsozialisten wurde, wuchsen Barth und Charlotte von Kirschbaum in der gemeinsamen Arbeit »für die Freiheit des Evangeliums« noch enger als zuvor zusammen. Als Barth 1935 seinen Bonner Lehrstuhl, den er seit 1930 innehatte, aufgeben mußte und einen rettenden Ruf nach Basel erhielt, war es klar, daß nicht nur seine Ehefrau und die Kinder, sondern auch Charlotte von Kirschbaum ihn begleiten würden. Hier in der Schweiz entstanden unter anderem die dreizehnbändige »Kirchliche Dogmatik« und eine Vielzahl von politisch-theologischen Texten, mit denen sich Barth und Charlotte von Kirschbaum in der Widerstandsbewegung, später dann im Schweizer Nationalkomitee »Freies Deutschland« engagierten.
In Zusammenhang mit dieser Arbeit trat Charlotte von Kirschbaum zum ersten Mal ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Sie wurde in die Landesleitung des Nationalkomitees »Freies Deutschland« gewählt und hielt im Juli 1945 eine mutige Rede, in der sie für eine offensive Haltung der Kirchen beim demokratischen Neuaufbau Deutschlands eintrat und sich in diesem Kontext für eine Zusammenarbeit auch mit Kommunisten erklärte:

»Ich werde gerade von Christen oft gefragt, wie ich es verantworten könne, auch mit Kommunisten zusammenzuarbeiten. Dazu hann ich nur sagen, daß sich gerade die Kommunisten in unserer Bewegung als sehr verantwortungsbewußte Menschen erweisen, denen Deutschlands Zukunft genauso wie uns am Herzen liegt. «

Wichtig erschien ihr vor allem eine wirkliche Umkehr:

»Man täusche sich nicht: Wenn Hitler wiederkäme und von neuem zu siegen anfinge und die Fleisch- und Brotrationen auf einen friedensmäßigen Standard brachte, unser armes, irres Volk würde ihm wieder zujubeln. Solange es um Hitlers Sache gut stand, also bis etwa um die Zeit von Stalingrad, da war dieses Volk für ihn zu haben und träumte mit ihm den Rausch künftiger Herrlichkeit und Weltmacht. Erst als das Blatt sich wendete und wir nicht mehr von den anderen Völkern ihren Gütern und Arbeitskräften lebten, sondern unsere Anliegen mehr oder weniger selber bestreiten mußten, begann das Abbröckeln, bis nun heute dieses Abbröckeln den Grad des Abscheues vor Hitler und seinen Komplizen erreicht hat. Aber diesem Abscheu fehlt das Erschrecken über das, was durch uns geschehen und wieder gutzumachen ist Es ist eigentlich mehr der Verdruß daruber, daß es schiefging, als eine innere Abkehr von den Methoden der Brutalität der Gewalt, der Rechtlosigkeit, der Mißachtung des Lebens und der menschlichen Freiheit, was das Gesicht unseres Volkes zeichnet.«

Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen der »Bekennenden Kirche« und dem Nationalkomitee »Freies Deutschland« lag für sie in der gemeinsamen Verantwortung für einen demokratischen Neuanfang, der das deutsche Volk wieder in die Verantwortung für sein Tun einsetzen sollte:

»Diesem Volk heute helfen heißt aber nicht einfach blindlings ihm Gutes tun wollen aus irgendeiner spontanen Warmherzigkeit heraus, sondern es heißt: dieses Volk selber wieder verantwortlich machen für sein eigenes Leben es langsam wieder aus der furchtbaren Entmündigung und Blindheit befreien, in das seine blinden Blindenleiter es geführt haben. Diesen Dienst will die Bewegung »Freies Deutschland« tun. Dürfen wir Christen uns diesem Dienst entziehen, dürfen wir sagen: das geht uns nichts an? Ich fürchte, wenn wir das sagen, dann haben wir vom Evangelium wenig verstanden und dann ist es darum auch mit unserem Bekennen schlecht bestellt.«

Trotz der aufreibenden Arbeit für Barths Lebenswerk scheint es Charlotte von Kirschbaum mit zunehmendem Alter nicht mehr genügt zu haben, entsagungsvolle Zuarbeit zu leisten. Nachdem der äußere politische Druck nach dem Zusammenbruch des Faschismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieges nachgelassen hatte, begann sie - ermutigt sicherlich auch durch ihre Öffentlichkeitsarbeit für die Bewegung »Freies Deutschland« - systematisch eigene Bereiche zu entwickeln und ein von Barth unabhängiges Profil aufzubauen. Interessanterweise war es gerade die Stellung der Frau in der Schöpfung und in der Kirche, mit der sie sich beschäftigte. Damit setzte sie an ihrem eigenen Lebensproblem an.
In ihrem Buch »Die wirkliche Frau«, das 1949 erscheint, arbeitet sie ihre eigene Inferioritätserfahrung auf. In der Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoirs Thesen zur »femme libre« und dem Bild der »marianischen Frau«, wie es von der katholischen Kirche und insbesondere von Gertrud von Le Fort in ihrem Buch »Die ewige Frau«, auf deren Titel Charlotte von Kirschbaum polemisch anspielt, vertreten wird, versucht sie eine Standortbestimmung der Frau, die in vielen Passagen sehr konservativ anmutet, wenn sie die Frau als »nachgeordnet« und als »Hilfe« des Mannes definiert, die aber doch auch offensive Züge trägt, wenn sie auf der Gleichberechtigung von Frau und Mann besteht und die Frau als »Gegenüber« des Mannes begreift. Wenn ihre Überlegungen auch angesichts der heutigen radikalen feministischen Kritik am Christentum und an der Stellung der Frau im kirchlichen Leben sehr zahm wirken, so sind sie doch ein erster, wenn auch zaghafter und in sich widersprüchlicher Schritt auf dem Weg zu einer Befreiung aus alten Mustern. Sehr viel konkreter als in dem Buch »Die wirkliche Frau« führt Charlotte von Kirschbaum die Auseinandersetzung mit der Stellung der Frau in der Kirche in ihrer Studie »Der Dienst der Frau in der Wortverkündigung«, die 1951 veröffentlicht wurde. Anschließend an die Worte von Paulus, daß die Frau in der Gemeinde schweigen solle, stellt sie sich folgende Fragen:

  • »I. Kennt das Neue Testament einen autoritären Amtsbegriff, der als solcher die Mitarbeit der Frau ausschließt?
  • II. Verwehrt der paulinische Veweis auf die Stellung der Frau in der Unterordnung ihre Mitarbeit am Dienst der Wortverkündiung ?"

Mit großem Scharfsinn und unter Berufung auf eine Vielzahl von Quellen versucht sie einerseits, die paulinischen Worte so zu interpretieren, daß der autoritäre Gestus sich relativiert und in erster Linie seinen Auslegern angelastet wird. Andererseits stellt sie die Frage nach der Verbindlichkeit der paulinischen Auffassung für die Gegenwart unabhängig von solchen Relativierungen:

»Es wird das Zeugnis, es wird also die Gestalt des Gehorsams, den die Frau zu leisten hat, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen eine verschiedene sein: Wir werden darum nicht nur fragen dürfen, sondern fragen müssen, ob das damals in Korinth von Paulus geforderte Zeugnis auch heute noch in dieser Gestalt für uns verbindlich ist, ob also auch heute noch der Frau geboten ist, zu schweigen im Gottesdienst?«

Für Charlotte von Kirschbaum ist es keine Frage mehr, daß die Zeiten, da die Frauen in der Gemeinde schweigen mußten, vorbei sind. Statt der passiven Rolle, die die Gemeinde im ganzen - Männer und Frauen - in der modernen Liturgie spielt, schwebt ihr eine lebendige, am Urchristentum orientierte ökumenische Gemeinschaft aller Gläubigen vor:

»Angesichts dieser Situation erhebt sich die Frage, ob das Zeugnis der Frau im Gottesdienst der Gemeinde heute nicht vielleicht im Unterschied zu dem des Schweigens in der Gemeinde von Korinth das der Rede sein müßte, das heißt aber, ob die Frau heute nicht zur Mitarbeit im Dienst der Wortverkündigung berufen sein könnte? Es dürften doch kaum Zweifel darüber bestehen, daß sich angesichts der Pastoren- und Theologenkirche, die wir heute weithin haben, eine Neubesinnung auf das neutestamentliche Verständnis des Amtes als eines Dienstes in der Gemeinde aufdrängt. Könnte nicht vielleicht die Frau in diesem Dienst dazu einen Beitrag leisten, den der Mann nicht in gleicher Weise leisten kann?«

Die besondere Befähigung der Frau im »Dienst der Wortverkündigung« liegt für Charlotte von Kirschbaum in den spezifischen Qualitäten, die Frauen »natürlich« besitzen:

» ... es geht ja nicht einfach um eine Ergänzung des Pfarrerstandes durch einige weibliche Mitglieder, sondern es geht darum daß die Frau als Diener am Wort einen wesentlichen Beitrag leisten könnte, zu einer notwendigen Umgestaltung des >Amtes<. Die Frau ist durch ihre natürliche Stellung geschützter dagegen Autorität zu beanspruchen und wird also auch ... weniger versucht sein zu einer autoritären Gestaltung ihres Dienstes, das heißt aber, sie wird weniger als der Mann versucht sein, die Autorität des Wortes durch die Autoritat ihrer Person zu beschatten. Ihre natürliche Stellung entspricht der Stellung der Gemeinde, hörten wir, und so wird sie angewiesen sein, soll sie ihren Dienst im Gehorsam ausüben, auch als Dienerin im Wort nicht über, sondern in der Gemeinde zu stehen. Sie wird also in ihrer Person nicht distanzierend, sondern verbindend zwischen Amt und Gemeinde wirken, ohne damit die Autorität des ihr anvertrauten Dienstes im geringsten zu beeinträchtigen.«

Natürlich ist eine solche Hoffnung auf eine nicht-autotitäre Amtsführung von Frauen illusionär und der Rückbezug auf eine angebliche »Natur« der Frau naiv. Nichtsdestoweniger verbirgt sich darin der utopische Gedanke von einem befreiten Leben beider Geschlechter, in dem es keine Hierarchien mehr gibt. Gerade hiermit arbeitet Charlotte von Kirschbaum Gedanken vor, wie sie in der Gegenwart nicht nur von radikalen Feministinnen, sondern auch von Vertreterinnen und Vertretern der Befreiungstheologie formuliert werden.
Sie selbst hat ihre Gedanken nicht mehr konsequent weiterentwickeln und für ihr eigenes Leben nutzbar machen können. Anfang der sechziger Jahre traten die ersten Anzeichen einer schweren zerebralen Störung auf, die ihr jegliche intellektuelle Arbeit unmöglich machte. Bereits 1964 war ihr geistiger Verfall so weit vorangeschritten, daß sie in ein Pflegeheim in der Nähe von Basel eingeliefert werden mußte, in dem sie noch zehn Jahre - bis zu ihrem Tod 1975 - vor sich hindämmerte. Angesichts der fehlenden ärztlichen Unterlagen ist es müßig, darüber zu spekulieren, wodurch die Krankheit ausgelöst wurde und was sich in ihr wohl ausdrücken mochte. Charlotte von Kirschbaums Lieblingsbeschäftigung in der Klinik - das Puppenspiel - läßt jedoch aufhorchen. Regredierte sie damit in die frühe, vom Vater geschützte Kinderzeit, oder drückte sich darin ein Kinderwunsch aus, den sie in der Beziehung zu Barth unterdrucken mußte? Wie dem auch sei - das Dahindämmern hatte auch seine gnädigen Seiten: Weder ihre Ersetzung durch einen jungen leistungskräftigen Assistenten noch den Tod Barths im Jahre 1968 nahm sie mit Bewußtsein wahr.