November

Montag 1ten November
Üble Nacht mit Fidi. Allerheiligen oder die armen Männer, wie Loldi mir sagt, nachdem ich ihr erklärt habe, was Allerheiligen ist. - R. kommt wehmütig an mein Bett und sagt, er habe die ganze Nacht Gesänge zu Klosterbekleidung und Gelübde gehört. Ich war auch traurig, ich wandre den schweren Pfad nochmals, den ich im vorigen Jahre um diese Zeit gewandert! Sonnenaufgang mit der Mondsichel betrachtet - stets erneuerte Erhebung von solchem Anblick. - Beim Frühstück spricht R.: »Wie seltsam ist es doch mit den Völkern, man sieht, wie lange Zeit es braucht, um zu großen Blüten zu kommen; die Italiener waren zu etwas bestimmt, wovon man im Alt-Italien keine Ahnung hatte, freilich, kann man sagen, waren die Mischungen des Blutes groß, allein ich halte weit weniger hiervon als von den lokalen Gegebenheiten. Von diesem früher ziemlich unproduktiv dünkenden Volk entstehen auf einmal nach allen Richtungen hin Wesen, wovon jedes groß, eigentümlich, genial erscheint.« - Weiter: »Das Christentum und die Musik sind die zwei großen Bereicherungen der Welt gewesen seit dem Untergang der antiken Kultur.« - Dann sagt R., er habe sich entschlossen, dem König zu schreiben, er könne ihm nicht schreiben. Er liest mir den Brief, den ich noch strenger gewünscht hätte. Am Tage großen Kummer über Lou-lou und Boni; sie haben sich über meine Strenge beklagt. Bis im tiefsten Herz bin ich davon erschüttert, sollten die Kinder wirklich mir so fremd sein, daß sie meine Liebe mit Unwillen lohnen? - Trübe Nacht; »wer nie die kummervollen Nächte«.[1] Die himmlischen Mächte sind dann auch zu mir gekommen, ich weiß, daß ich alles tragen muß, denn mein Leben ist eine Schuld.
Dienstag 2ten
Allerseelen, ich laß die Kinder für die Toten beten, dann spreche ich ernst und feierlich zu ihnen. - R. traurig, will nicht einen Ton mehr an den Nibelungen schreiben, in der Zeitung steht, die Walküre würde in München vorbereitet. Viel Wehmut, dazu Siegfried unwohl. Zur Stadt mit R., bereits Weihnachts-Nachfragen. Schöner Abend, die Berge herrlich, doch bekommt uns der Spaziergang nicht gut. Siegfried krank, Furcht vor Bräune; den Arzt gerufen in der Nacht, verzweifelte Stimmung. O Kinder, greift nicht in das Schicksal mit kühnen Händen, auch nicht zur Hilfe andrer. Ist dies getan, so wenden sich Götter, Geister und Menschen unwillig von dem Armen ab, die Sorge, wie der Geyer des Prometheus, frißt ihm das Herz, und nur der Tod - kein Herkules - kann ihn befreien. Duldet, duldet, Kinder, sucht nichts zu erleichtern, sucht kein Glück für euch, sucht es aber nicht für andre und tragt, was euch zu tragen gegeben ist, ohne kühn noch andere Bürden erflehn zu wollen. Begnügt euch, das zu erfüllen, was die Götter euch aufgeben, verlangt nicht das Schicksal selbst zu erkennen und zu deuten; o Kinder, dann flieht auf ewig der Friede! - Siegfried wohler, keine Gefahr, der Verzweiflungsjammer war verfrüht. - An Hans gedacht, an unsre traurigen letzten Tage zusammen, wie willig vergesse ich nimmer sein Leid.
Mittwoch 3ten
Das Leben ist ein Traum, in welchem wir einander ein Übles antun sollten! Siegfried etwas besser, mit den Kindern gearbeitet und ihn gepflegt. Nachmittag zur Gräfin Bassenheim mit Lusch. Abends sehr müde. R. hat seinen Aufsatz über das Dirigieren beendigt und abgeschickt.
Donnerstag 4ten
Geträumt, daß ich von Hans Abschied nehme; große Wehmut. Am Morgen kommt R. zu mir, er ist besorgt um meine Gesundheit, dann sagt er: »Was geben wir denen, die uns zuerst zu unsrer Heirat gratulieren?« Ich frage, wer? Chaillous, meine Schneider aus Mailand! Wir lachen. Darauf meldet mir ein Brief Claire's, daß die Mutter die Anzeige meiner Heirat in der »Liberté« gelesen hat. Ich muß ihr schreiben, was mir sehr unangenehm ist. »Ja, deine Eltern«, sagt R. scherzhaft -, »dein Herr Papa, da zeigt sich's denn, daß es was andres ist, sich an's Klavier oder an's Leben setzen.« - Nach Tisch sagt mir R., er wolle mir einen Brief schreiben, er sei um mein Leben zu besorgt, dann zündet er zwei Lichter an und zeigt mir eine kolossale Flinte in der Ecke seiner Stube, er wolle sich mit dieser erschießen, wenn ich mich nicht pflegte. Viel Heiterkeit hierüber, Fragen, woher ihm nur die Flinte gekommen; ja dies sei geheimnisvoll. Abends »D. Quixote«. Abschied vom herz. Hof, »was das für ein vollendeter Mensch ist!« - Richard arbeitet.
Freitag 5ten
Die Denkstube eingerichtet. Nach Tisch mit Lulu zur Klavierstunde. Abends »D. Quixote«. Am Morgen Brief von Doris, daß mich die Frau in Leipzig prellen will. Abends Briefe von Judith und Catulle Mendes, sie ersuchen R. nach Paris zu kommen, um Konzerte zu dirigieren. Litolff[2] bietet ihm seine Gesellschaft an. - Eine Pariser Zeitung meldet unsre Heirat in sehr anständigen Ausdrücken, ein Herr Beckmann ist gegen häßliche Gerüchte aufgetreten. R. lacht, umarmt mich und sagt: »Ja ja, du kommst noch in das Gerede mit mir.« Dann nimmt er Siegfried auf den Arm und spielt eine lange Zeit mit ihm; er sagt mir, »wir werden Siegfried weggeben müssen, zur Zeit, wo er zum Mann wird, muß er unter Menschen kommen, da muß er die Adversität kennenlernen, sich herumbalgen, die Ungezogenheiten begehen, sonst wird er zum Phantasten, vielleicht zum Cretin, wie wir so etwas an dem König von Bayern sehen.« »Aber wo.« »Bei Nietzsche - da, wo Nietzsche Professor sein wird, wir werden von weitem zusehen, wie Wotan der Erziehung von Siegfried zusieht. Er wird bei Nietzsche zweimal die Woche Freitisch haben, und alle Sonnabende werden wir Berichte erwarten.«
Samstag 6ten
An Mama geschrieben und an Claire. R. an Catulle, ihm erklärt, daß er keiner Unternehmung irgend welcher Art günstig sei. Mit den Kindern. Nach Tisch Oberst Am Rhyn, auf R.'s Ratschlag nehme ich 20 Aktien der neuen Dampfschiffs-Gesellschaft. Sehr angegriffen davon, weil in Sorge, das Geld der Kinder zu verlieren. Nach Tisch die Stuben eingerichtet. Große Müdigkeit. R. unwohl, dazu sehr üble Nacht mit Siegfried.
7ten Sonntag
Große Mattigkeit, und R. leider sehr unwohl. Er spricht von der Sicherstellung Siegfried's im Fall eines plötzlichen Todes! Da er meine Bestürzung bemerkt, sagt er, ich glaube es nicht, und es ist mir nur immer geschehen, was ich im tiefsten geglaubt habe, wie z. B. mit dem König von Bayern, wo ich eigentlich alles erwartet habe. Kindertisch, alle wohl und munter. Nach Tisch Spaziergang beim Maler Zünd. Es tut sehr wohl. (Ich schreibe abends Doris Brockhaus und bitte sie, mir das Bild vom Onkel Adolph zu schicken.)
8ten Montag
Gute Nacht, heitere Stimmung, mit R. das Schicksal der Kinder besprochen, die Notwendigkeit, alle meine Interessen bei Seite für die ältesten Kinder zu tun. Hoffnung, für Siegfried ein Haus zu bauen, dabei aber bestimmen, daß die Mädchen immer darin eine Zuflucht haben. - Nachher die »Denkstube« eingerichtet. Nach Tisch mit R. ausgegangen, dann Kinderstudien. (Pr. Nietzsche meldet sich an.) -
9ten Dienstag
R. arbeitet; schönes Wetter, die Kinder im Garten, ich leidend trotz der guten Nacht. R. wird um einen Feuerwehrmänner-Gruß gebeten, welchen er gleich aufsetzt. »Wer dem Glück entsagt ist selig« - dieser Spruch, meint R., sei des jungen Goethe (dem Enkel!)[3] würdig und sei ihm als Brahmanen-Weisheit eingefallen.
10ten Mittwoch
Mit den Kindern gearbeitet, nachmittags zur Gr. B. mit Lusch, welche sich durch ihr gutes Gedächtnis auszeichnet, abends R. eingemummt, ich lese ihm den Schluß von »Don Quixote« vor. Dann bin ich so unwohl, daß ich zu Bett muß.
11ten Donnerstag
R. sehr froh, weil ich eine gute Nacht hatte, er hatte Siegfried entfernt und das Mädchen bei ihm wachen lassen. Beim Frühstück sagte ich ihm, es sei doch nicht recht, daß wir an Schiller's Geburtstag nicht gedacht hätten, es sei gestern gewesen, »nun«, sagt er, »gerade gestern, wie ich arbeitete, habe ich mich des Bildes Schiller's mir gegenüber innig gefreut und mir sein ganzes Wesen innig dargestellt«. Ich erinnerte mich dann, daß ich auch Lulu von Sch. erzählt habe. Wir hatten den gleichen Traum, R. und ich, daß wir uns umarmten. - Am Morgen Bücher in der Denkstube aufgestellt. Bei Tisch erzählt R.: »Ich habe an >D. Quixote< wieder gedacht, und bei dem Punkt der ironischen Weltanschauung es fassend, fiel mir ein Dialog von Platon ein; da ist sie auch, die Ironie, aber wie frei erscheint sie, wie sicher, kein Druck lastet auf ihr. Während auf diesem edlen Geist des Cervantes sieht man den abscheulichen Druck des Katholizismus; wie er es für nötig hält, den armen Moriskin die Inquisition loben zu lassen. Bei dem Griechen sieht man den Olympischen Kranz, bei dem Spanier den verhungerten, von der vornehmen Welt gleich D.Q. als Spielzeug behandelten Dichter, in einer geistfeindlichen Zeit. O dieses Elend, in diesem Jahrtausend geboren zu sein.« Dann über Luther: »Wie recht hat mein Onkel, ihn immer den göttlichen Mann zu nennen.« Abends liest R. den beiden ältesten Kindern den »Kampf mit dem Drachen« in seiner wunderbaren Weise vor, er sagt mir dann: »In der Jugend habe ich diese Schönheit, die männliche Vollendung dieses Gedichts gar nicht verstanden. Man muß von Zeit zu Zeit so etwas lesen, um zu wissen, was an solchen Menschen ist.« - Brief Catulle Mendes', der Brüsseler Direktor ist wortbrüchig - alles wie wir es erwartet haben.
Freitag 12ten
Wiederum das Gespräch über den Einfluß des Christentums. »Diese Lehre ist zu erhaben, um nicht den verderblichsten Einfluß gehabt zu haben; sie war nicht in die Welt hineinzuzwängen, sie konnte nur zur Wahrheit in den Gemütern werden, welche zur Thebaide[4] sich flüchteten. Wenn man sieht, wie riesige Geister wie Dante und Calderon dieser Lehre gedient haben, muß man sich sagen, daß nicht sie selbst, wohl aber ihre Werke darunter gelitten haben. Wie frei erscheinen Wesen wie Goethe und Schiller dagegen, die sicherlich keine größeren Geister als die erstgenannten waren.« - Eva krank, hoffentlich nichts von Bedeutung. Brief des Malers Lenbach. - Gestern machte über Adel und »von's« Richard vor den Kindern eine Bemerkung, die mich betrübte, weil ich es lieber hätte, daß gewisse Fragen vor den Kindern gar nicht berührt würden; ich saß ruhig nachdenklich da, da stand R. plötzlich vom Klavier auf, umarmte mich und sagte, ich sei das beste, edelste Weib der Welt! Ich erschrak bis zu Tränen. (Nachher spielte er von Bach ein Stück und sagte: »Gewisse Traits sind in Bach nur dadurch zu erklären, daß er ein großer Improvisator war und daß er das, was er leicht hin phantasierte, festhalten wollte; daher die vielen pedantischen Bezeichnungen, die sonderbaren Läufe etc.«) - An Franz Lenbach geschrieben. Der Augenarzt war da meinetwegen, meine Augen sind so schwach.
Samstag 13ten
Die letzte Hand an die Denkstube gelegt. R. etwas gearbeitet an dem zweiten Aufsatz über das Dirigieren. Er möchte dem König noch schreiben, um ihm alles vorzuhalten, was wir durchgemacht, dann ihm auch vorhalten, was er ihm ist, daß er ihm alles dankt, wie ohne ihn er gar nicht zum Arbeiten kommen könnte, und schließlich ihn bitten, vorläufig nichts aufzuführen, eine Zeitlang das Theater ganz unbeachtet zu lassen. Ich bitte R., damit noch zu warten. Nachmittags Besuch des Professor Nietzsche, welcher mir erzählt, daß es ganz unglaublich sei, was für Lügen über R. gedruckt und gesprochen in der Welt kursieren (wie z. B., daß er sich vor den Spiegel stellt, um ein Pendant zu Goethe und Schiller zu bilden - dann über seinen Luxus, über seinen Harem, über seine Intimität mit dem König von Bayern, dem er alle seine Verkehrtheiten angibt usw.). Wir fragen uns, wie sein Bild zur Nachwelt kommen wird? Abends liest mir R. seinen Aufsatz. Am Morgen hatte Lulu einen Brief des Vaters, welcher jetzt in der Villa d'Este wohnt.
Sonntag 14ten
Am Morgen Brief des Schneiders Chaillou aus Mailand, welcher uns eine Villa unter sehr günstigen Bedingungen am Comersee anbietet. Wir sind sehr dafür geneigt. »Aberglauben ist jetzt meine ganze Philosophie; Chaillous sind für mich eudämonische Wesen ihr Eingreifen in unser Leben ist immer freundlicher Art gewesen Freilich hat sich Wallenstein auf diese Weise mit Piccolomini getäuscht dafür war aber W. ein schlechter Kerl, und das bin ich nicht.« Kindertisch Dann Spaziergang, schöner Glanz des Rigi beim Sonnenuntergang. Abends sprechen R. und Pr. Nietzsche über die ersten Begriffe der Sprache was ersterer scherzhaft Urphilologie treiben nennt. Viel von der Villa »Capuana« gesprochen. - Fidi schläft nicht mehr bei mir, R. wollte, daß ich Ruhe habe. - R. sagt, halb Ernst halb Scherz: »Warte, wenn ich meine Abhandlung über Philosophie der Musik schreibe, wird Kirche und Staat supprimiert. Die Religion ist ganz anders Fleisch und Blut geworden als in diesen dogmatischen Formen - die Musik, das ist der unmittelbare Ausfluß des Christentums, und der Heilige, wie Franciscus von Assisi welcher die ganze Kirche wie die ganze Welt aufhebt.« (Gestern abend spielte uns R. den Anfang der Nornenscene vor).
Montag 15ten
Das Hauptgespräch bildet immer die Villa Capuana - R. schreibt an Frau Lucca und ich an Chaillou. Am Morgen Arbeit mit den Kindern. Viel Freude über eine aus Mailand angekommene Kiste, R hat es überaus gern, wenn ich neue Kleider anhabe. Wie ich gen Abend zu ihm hereintrete: »Die Freude«, sagt er, »wenn du so kommst! Wie ein Kind siehst du aus.« Zur Stadt mit ihm; zu Hause finde ich den Studenten und einen Brief von Pecht; da habe ich denn zu bereuen, ihm geschrieben zu haben, er hat mich gänzlich mißverstanden und glaubt, daß ich angenommen habe, daß er für uns auftreten würde! R. sagt mir, ihm ja nicht zu schreiben und selbst auch nicht zu bereuen, ihm geschrieben zu haben; sondern »es vergessen«. Abends in Platon gelesen. -
Dienstag 16ten
Nachricht, daß ich bloß 10 Aktien der Dampfschiff-Gesellschaft bekomme. Mit den Kindern in der Denkstube; R. arbeitet, klagt aber über seine Gesundheit und über die Aufgabe (»wenn man immer einen Weltuntergang in jeder Note geben soll«). Nach Tisch in Lessing's »Emilia Galotti« und Sch.'s »Fiesco«, in Folge eines Gespräches darüber mit R., gelesen. Abends liest mir R. den Menon[5] von Platon vor; wundervolle Stimmung entsteht uns daraus. - In meinen einsamen Stunden überdenke ich diese Tage des vorigen Jahres; mit schwerem Herzen durchwandere ich diese Via Crucis, möge Hans diese Zeit vergessen. Eine schöne Hoffnung ist mir der Gedanke, daß ihm Loulou einst Freude machen und das Leben schön mit ihm teilen wird. (R. sagt mir heute, ich habe den ganzen Zustand der Welt an mir selbst erkannt, es ist der Krampf; Krampf ist alles, jeder Gedanke, jede Freude, jeder Schmerz, und wenn es das nicht ist, ist es nicht viel wert.)
Mittwoch 17ten
Schlaflose träumerische Nacht. Mit den Kindern gearbeitet. R. leider immer nicht wohl. Nachmittags zur Gr. Bassenheim. Abends »Menon« vollendet. Brief von Mama, sehr wehmütig, und von Claire; letztere erzählt mir, daß sie Aristophanes[6] läse, was denn R. veranlaßt, über ihn zu sprechen. (Der Konflikt zwischen Wille und Vorstellung bringt die ungeheuere Komik hervor.).
Donnerstag 18ten
Immer in Sorge um R., dessen Aussehen übel ist. Am Morgen schreibt er dem König; ich bitte ihn einiges, das vielleicht kränken möchte, zu verändern, was er denn auch tun will. Nachmittags werde ich vom Pfarramt aufgefordert, mich einzustellen. Erster Akt der Scheidung! Abends Euthyphron[7] von Platon.
Freitag 19ten
Üble Nacht; Sorgen um Lulu's Gesundheit, R. auch immer nicht wohl. Ich will gern leiden. Gestern abend spielte mir R. aus Tristan vor, wobei meine ganze Seele sich auflöste. Er wurde traurig, indem wir besprechen, wie unbeachtet ein solches Werk seitens der Musiker bleibt. Seinen Brief an den König will er nicht abschicken, weil es Freitag ist. Ich mache dagegen meine brieflichen Besorgungen für Weihnachten. Abends Brief an das Pfarramt, daß ich der Vorladung keine Folge leiste. Abends die Verteidigungsrede des Sokrates [8](ganz herrlich). R. hat heute vormittag noch an seinem Aufsatz über das Dirigieren geschrieben und mir ihn nach Tisch vorgelesen.
Samstag 20ten
Um sieben Uhr morgens wünscht mir R. Guten Morgen und sagt mir, er habe bereits viel über Sokrates nachgedacht. Es sei sehr auffallend, daß er durchaus negativ auftrete, weise sei er dadurch, kein Philosoph, er will immer und überall im Himmel und unter der Erde im Hades nachforschen, wo denn die Weisheit sei. Er ist durch diese Art mit Kant[9] in seiner »Kritik der reinen Vernunft« zu vergleichen, welcher sagt, dem Problem ist nicht beizukommen, und verhält sich zu Platon ungefähr wie das erste Buch Schopenhauer's zu dem zweiten. Insofern ist er auch der reinste Typus einer Entwickelungsstufe des menschlichen Geistes. Er konnte auch nur gütig und milde sein, da er überall den Irrtum [sah]. Er muß aber furchtbar aufgereizt haben, da er unter keine Kategorie zu bringen war, selbst nicht in die der Philosophen, und doch alles zu sich zog; hätte er nur Geld genommen, so wäre alles gut gewesen. Der erste Philosoph war Platon - Sokrates war nur sein Vorläufer, für ihn von der größten Wichtigkeit, da er alles Anerkannte bezweifelte. Die früheren wie Anaxagoras, Pythagoras etc. waren Praktiker, sie suchten die objektive Welt zu erklären. Platon ist der erste, welcher die Idealität der Welt erkannt hat; daß die Gattung alles, das Individuum nichts ist. - Viel Kummer über Lulu; nachdem ich sie über etwas ausgescholten hab, wartet sie, bis ich fort bin, und ergibt sich dann dem häßlichsten Unwillen. Sie darf heute nicht bei mir arbeiten. (Gestern las ich in der A.A.Z. eine kleine Biographie des Gelehrten Papin, dessen Schicksale und Tod mich furchtbar ergriffen. Ob absolute Weisheit - wie Sokrates - oder auffallende Bedeutendheit wie Papin - alles Große muß von dieser Welt ausgestoßen werden. Und alles - hier, durch das Mittagessen, weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte.) Abends griechische Geschichte mit Lusch. Da ein Halsleiden bei mir beginnt, sagt mir R., er wisse nicht, ob seine Liebe oder seine Sorge um mich größer sei. Ich lege mich zu Bett, und R. liest mir den Kriton vor. R. liest mir seinen Brief an den König und schickt ihn ab.
Sonntag 21ten
Am Morgen sprechen wir wiederum über Sokrates; »über diese Moral konnte es das Christentum nicht bringen - das Christentum erzeugte die Extase, die völlige Vernichtung der Welt, was aber inmitten der Welt hervorgebracht werden kann, kann niemals höher als Sokrates gehen. Der Heilige, durch sein großes Herz, sieht, kann nur in Sinnbildern sprechen, den Sinnbildern der Religion, wer aber das Bild selbst nicht so sieht wie er, kann die Symbole nicht verstehen«. - Besuch der Gräfin Bassenheim; die Kleine bleibt bei uns zu Mittag. R. arbeitet an seinem Aufsatze und schickt ihn ab. Abends im »Gorgias«[10] gelesen.
Montag 22ten
Das »besser unrecht leiden als unrecht tun« läßt mich viel an Hans denken, mit großer Wehmut; ich träume, ich hätte einen Brief von ihm mit folgender Aufschrift: »An die angenehme Verehrte, der arme Verbannte oder Kranke.« - Ich bin immer in Sorge um Lulu. - In Bezug auf seinen Aufsatz sagt mir R., er werde alles vornehmen, wessen er sich erinnere, »ich will wie Sokrates die Bremse sein, die immer aufstachelt. Es ist zu nichtswürdig, wie unsre ganze Kunst gehandhabt wird«. Mit den Kindern in der Denkstube gearbeitet. Loulou aber unwohl, was mich sehr ängstlich macht. Nachmittags Brief des Pfarrers, daß ich mich in der Pfarrei in Bezug auf die Ehescheidung einfinden soll. Ich entschließe mich dazu, um keinerlei Aufschub in dieser Angelegenheit hervorzurufen; abends Ordnen des Theaters für die Kinder.
Dienstag 23ten
Am Morgen mit R. zum Advokaten mit dem Brief des Pfarrers, es wird mir abgeredet, zum Pfarrer zu gehen, was ich denn mit Vergnügen lasse. Hernach mit R. Kinderspielzeug gesehen. Im übrigen Kindertag. R. und Lulu wieder wohler; schönes kaltes Wetter, Sonne und Schnee. Abends »Gorgias«.
Mittwoch 24ten
R. arbeitet bei mir, ich bei den Kindern. Freundlicher Brief des Professor Nietzsche, ihm geantwortet. Brief des Advokaten, daß ich doch werde vor dem Pfarrer erscheinen müssen. Nachmittags einigen Kummer, daß R. sich in seinen Neigungen nicht einschränken läßt. (Neulich sagte er à propos von Geburten oder von Erzeugungen, »es muß die rechte Stunde sein, der rechte Stand der Sterne, bei mir war es so; daß im übrigen alles nicht ausgezeichnet war, zeigt meine Unruhe, und daß aus dem Bruder Albert nichts geworden ist«). Abends wehmütiger Brief von Hans Richter, er dirigiert den Lohengrin in Brüssel, ist aber über französische musikalische Verhältnisse ganz deprimiert, möchte zurück nach Deutschland, der Arme. - Einige Freude daran, daß der K. von Bayern sich gut benimmt; z. B. der Dompropst Döllinger[11] war zum Konzil nicht geladen, jetzt kommt er doch hin und zwar an der Gesandtschaft attachiert.
Donnerstag 25ten
R. arbeitet nicht bei mir, großer Kummer, daß er nicht in die Stimmung kommt. Kindertisch, einige Unruhe im Haus. R. Pohl erwartet, er kommt nicht, in Mone's Heldensage[12] mit R. gelesen. Brief Claire's, ihr am andren Morgen beantwortet.
Freitag 26ten
Heitere Stimmung, R. wieder im Arbeitszug, »wenigstens ist jetzt das Nornenseil in Verwirrung gekommen«. - Brief von Judith, dann von Königsberg - die Meistersinger werden dort aufgeführt; ein neues Bild sehr unangenehm aus Berlin, - sieht Mendelssohn und Meyerbeer ähnlich! Ankunft R. Pohl's. Bei Gr. Bassenheim zum Besuch. - Unvergleichlicher Eindruck einer neuen Sammlung Dürer'scher Bilder.
Samstag 27ten
Die Ultramontanen siegen in Bayern, sie reden davon, das Ministerium in Anklage-Zustand zu setzen und den König unter Kuratel zu bringen. R. arbeitet an seinem Nornengesang, ich mit den Kindern, Boni leider sehr unwohl, gegen Mittag bringt mir Jakob einen anonymen Brief, mit Schmähungen der gemeinsten Art übersendet mir einer eine Photographie Schopenhauer's, dieser gliche Richard! Wie der erste Schreck vorbei war, begrüßt ich beinahe dieses Büßen; ich bin den Tag in sehr guter Laune mit vielem Plaudern mit Pohl und spreche dann von dem sonderbaren Brief, endlich müssen wir darüber - lachen. R. liest uns seinen Aufsatz über das Dirigieren,
Sonntag 28ten
November Heute vor 6 Jahren[13] kam R. durch Berlin, und da fand es sich, daß wir uns liebten; damals glaubte ich, ich würde ihn niemals mehr sehen, wir wollten gemeinsam sterben. - R. denkt daran und wir trinken auf diesen Tag, Gr. Bassenheim besucht mich und nimmt Lulu mit zu Tisch. Nachmittags schreibt R. an seinem Aufsatz, ich lese mit Pohl Novellen von Turgeniew, sehr mittelmäßig. Abends liest R. aus seiner Biographie, wobei wir zuerst den großen Schrecken empfanden, sie sei verloren, R. fand sie nirgends, bis er sich entsann, daß er die Mappe, um ein Tapetenstück zu verbergen, hinter seine Bücher gestellt hatte. Ich lachte und sagte: >Das sähe ihm ganz ähnlich, die ganze Biographie zu vergessen und die Mappe bloß als Tapezierer zu gebrauchen< Abends dachte ich, die Liebe wirke auf uns wie so eine plutonische Eruption, sie bricht alles durch, wirft alle Schichten durcheinander, läßt Berge entstehen, und dann steht es da, höchste Umwälzung und höchstes Gesetz. Am Morgen sagte mir R., er habe immer zu mir gewollt, wenn er jetzt seine Brünnhilde ausführt, sei ich immer vor ihm.
Montag 29ten
Boni krank, nicht gefährlich, aber schwach. Der Föhn ist wieder da und wirkt sehr übel auf uns ein. R. angegriffen, arbeitet aber doch. Nach Tisch mit Pohl viel gesprochen, das Gespräch auf Hans geleitet, von welchem er nur Ungefähres wußte; ich merkte, er sei ihm gram, ich sprach denn viel und kam dadurch zu großer Wehmut! Gott gebe ihm die erhabene Stimmung, das Glück des Leidens zu erkennen, und gebe mir den Trost, daß sein Kind, meine Lulu, ihm dereinst Freude und Trost sei. Wenn du mir gesund wirst, mein Kind, ist dir eine schöne himmlische Aufgabe vielleicht zugewiesen - erfülle sie dann! - R. spielte dann Pohl und mir die erste Scene seines dritten Aktes. Mich erschüttert dies immer furchtbar. - Der Student Erdkunde mit Lulu (1). Ich hatte eine wahre Freude. Pohl meldete mir, daß Dohm seit drei Viertel Jahr nach Weimar wegen Schulden sich geflüchtet hat, so daß er nicht mehr den Kladderadatsch redigiert. Dies beweist mir, daß nicht er die Gemeinheiten über mich zugelassen hat; das tat wohl. Wenig liegt an einer Schmähung, viel lag mir aber daran, daß ein Mensch, den ich immer als anständig gerühmt und gekannt hatte, plötzlich elend geworden war. Abends kleine Verstimmung, weil zu viel geplaudert und R. lieber immer etwas vornimmt.
Dienstag 30ten
Depesche aus Weimar. Die Meistersinger sind in Weimar mit größtem Enthusiasmus aufgenommen worden. Richard nicht wohl, arbeitet nicht, schreibt dafür Briefe. Nachmittags Verlobungsanzeige Doris' Brockhaus mit Richard Wagner, [14]wir mußten viel lachen, dann einen anonymen Brief: Meister komponiere einen Faust. Ich lese Pohl den Entwurf zu Parzival vor, abends Biographie gelesen.