Dezember

Donnerstag 1ten
Unwohlsein und Besorgnisse. - Der Klerus hetzt öffentlich zum Krieg in Frankreich, was R. freut, da das Spiel dadurch immer reiner wird. - Kindertisch. R. nicht wohl, das Wetter ist trübe. Ich korrigiere Schure's Übersetzung von der Walküre. Abends Plauderei mit R. - Spät am Abend spielt R. das Vorspiel zum dritten Akt der Meistersinger; mich in der Nebenstube ergreift es zu Tränen. (Fidi heute die erste Locke abgeschnitten, die ins Aug ihm fiel. R. bedauert es, »als ob die erste Unschuld fort wäre«.)
Freitag den 2ten
Heitrer Himmel, R. augenblicklich wohler, er braucht das Blau durchaus. Doch währt es leider nicht lang; wie er spät abends heim kommt, empfindet er Schmerzen im Rücken; er ist verstimmt darüber, seine Arbeit erfreut ihn nicht, der Blick auf die Welt erfüllt ihn mit Wehmut, auch scheinen ihm seine Augen schwächer zu werden. - Mit unsäglichem Kummer erfüllt mich dies; wiederum einmal lege ich mich mit Goethe's Vers, »wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte...«. Ich will die himmlischen Mächte gnädig mir erhalten, dadurch, daß ich durch Wohl und Weh emsig meine Aufgabe erfülle. Mit Angst beachte ich es manchmal, daß wir alle in der Luft, gänzlich besitz- und eigentlich auch aussichtslos sind, doch fasse ich das schlimmste Elend auch in's Auge, da sage ich mir, das schlimmste war doch, einem anderen etwas zu Leide tun, das übrige alles läßt sich ertragen; und nun wie Gott will; er wird weiterhelfen, wie der gute König Wilhelm telegraphiert!
Samstag 3ten
R. immer unwohl und ohne Lust zur Arbeit; das ist die schwerste Prüfung für mich, lasse der Himmel sie mich gut ertragen. Die Kinder wohl, Spaziergang mit ihnen nach der Arbeit, dann Musik mit Richter. - (Mein Kissen fertig, wiederum Gamaschen begonnen!). Abends David Strauß' Vorträge - gestern begonnen - weiter gelesen. Großes Mißfallen an dem Buch, dessen Stil studentisch nachlässig, und wieder höchst maniriert ist (Schnee).
Sonntag 4ten
Brief von M. Meysenbug, und besorge eine Schwangerschaft. R. ist erkältet und trübgemut; ein Gespräch, das uns vorgestern auf den König brachte, hat ihn tief verstimmt; der Gedanke, daß »seine Arbeit, sein höchstes Ideal, als Ideal in [den] Schmutz getreten, ihm sein Brot verschaffen soll«, drückt ihn nieder, auch solche Erscheinungen wie Strauß' »Voltaire« verstimmen ihn, die Mitwelt erscheint ihm fratzenhaft, wie er mir bekennt, daß er für das Narrenhausartige der Welt jetzt einen peinlichen Blick hat. Erzwingt sich zur Arbeit. Bei Tisch ruft er aus: »Was ist das Geschriebene gegen die Inspiration, was ist gegen das Phantasieren das Notieren; letztres tritt unter bestimmte Gesetze der Konvention, er-steres ist frei, grenzenlos; und das ist das Ungeheure an Beethoven, daß er in seinen letzten Quartetten das Phantasieren festzuhalten gewußt hat, was nur durch höchste höchste Kunst zu erreichen war. Bei mir ist [es] das Drama, das immer die Konvention bricht und neue Möglichkeiten bringt.« - Ich glaube ihn zu verstehen, denn wie das Geschriebene zum Improvisierten, verhält sich die Sprache zu den Gefühlen. Niemals vermöchte ich es auszusprechen, was mich in diesen Tagen bewegt, mir ist, als ob mein Herz in Stücken zerbrochen sei, und die Liebe, wie ein Käfig gewohnter Vogel, umherflatterte, eigentlich an alles sich stoßend, sich verwundend - ich will es jetzt ausdrücken und kann es eben nicht! - Loldi den Bärentanz, Eva die Pudelsprünge unter Richter's anleitender Fiedelei; Loldi amüsiert uns durch ihre gezierte Sprache, sie spricht, wie wenn sie eigentlich eine andere Sprache spräche und Deutsch ganz extra gelernt hätte. Pr. Nietzsche schickt das Burckhardt'sche Buch über Renaissance[1] und eine kleine Abhandlung über Schopenhauer's Farbentheorie durch Pr. Czermak; wir lesen sie am Abend, wobei der eigentümliche Dünkel der Naturforscher gegen die Philosophen R. unangenehm berührt. Er bemerkt: »Realist und Idealist, sie sind und bleiben himmelweit entfernt, übersehen kann aber nur der Idealist den Realisten, dieser jenen nie.« Und: »Der Naturforscher sagt gleichsam: Ich, das Individuum, bin nichts, aber meine Wissenschaft, die ist unfehlbar, und dadurch, daß ich an ihr Teilnehme, blicke ich auf die größten Philosophen von oben herab.« - Der gedruckte »Beethoven« ist angekommen. Versendung (das Gedicht an Hans gemacht).
Montag 5ten
Die Nacht stimmt mich zu Versen! Vier fünf kleine Gedichte fallen mir ein, sie sind aber wehmütig, wie meine ganze Stimmung. Onkel Liszt[2] schickt im Namen des Vaters 15000 frs. Auf R.'s Wunsch schicke ich sie zurück mit der Bemerkung, daß ich um die Regelung meines Verhältnisses zu Rothschild, nicht aber um Abhilfe einer Verlegenheit gebeten hatte. Die Sendung verdrießt R. sehr. - Brief der ehemaligen Köchin, die sehr gerührt ist. Weihnachtsbesorgungen. Abends weiter in Strauß.
Dienstag 6ten
Ich melde R. meine Schwangerschaft; er lächelt und empfindet keine Sorge für sich darüber, ich will gern alle Mühsale tragen und ohne Furcht in die rätselhafte Zukunft blicken. R. sagt, daß die Worte des Egmont über die Fahrt des Lebens, wo man nur immer zu räumen, zu wehren, zu achten hat, ihm dieser Tage besonders in den Sinn gekommen sind. (Gestern Brief von Dr. Herrig über den Beethoven, seltsam und etwas unverständlich.) Abends Briefwechsel von Voltaire[3] und Friedrich. »Ein König darf nur König sein, nichts andres treiben, denn die Gefahr liegt zu nahe, Spandau u.s.w. in Freundschaftsverhältnissen spielen zu lassen«, sagt R. Viel Freude an beider Wesen in den Briefen, namentlich aber an des Königs Art. (Orleans ist eingenommen.)
Mittwoch 7ten
Ich habe R. in's Ohr zu raunen, daß ich mich geirrt habe, das ergreift ihn zu Tränen, er hatte sich gefreut und meinte, das Schicksal wolle noch, daß ich einmal ohne Bangigkeit und mit ganzer Liebesfreude ein Kindchen zur Welt brächte. - Zur Stadt, um Weihnachtseinkäufe zu besorgen. Spätes Mittagessen (5). Abends weiter in Strauß. Vorher treffe ich R. mit Richter im Gespräch über Weber; wie vor diesem man von dem Grauenhaften gewisser Instrumente (Oboe, Klarinette) keine Ahnung gehabt; so auch vor Beethoven man die Repetition nicht geahnt hat; das, was bei Rossini als sinnliche Wirkung sich vorfindet, ist hier eine Form der Melodie; alles wirkt dabei; die Instrumentation, die Tonart, alles. - Telegramme aus Leipzig, daß die Msinger großen Erfolg dort gehabt.
Donnerstag 8ten
Brief von Dr. Heigel, der mir sein Poem »Die Majorin« zuschickt. Meldung vom Verleger, daß der Beethoven so gut wie vergriffen sei. Neuer Brief von Dr. Herrig über den »Beethoven«. R. liest ihn langsam, er sagt: Er suche sich immer in eine solche Individualität zu versenken. Man ersehe, daß Dr. H. nur immer Eindrücke aus Büchern geschöpft habe, nie unmittelbare. Die Sorge vor dem Judentum schiene grenzenlos. Ein Brief von Herrn W. Marr, der berichtet, daß »Oper und Drama« ihn ganz eingenommen habe, bezeige dieselbe Sorge. Hübscher Brief des Verlegers Schott; daß im Beginn des Krieges es das Ansehen gehabt hätte, als ob man sich von Verdi[4] und Offenbach befreien wolle; daß aber in der deutschen Nation nicht so viel Kraft läge. Kindertisch. Schneegestöber, Grane krank, wir laufen, R. und ich, zur Stadt. Abends weiter in Strauß; die Analyse der philosophischen Schriften Voltaire's bringt uns zu der Bemerkung: Wie traurig es sei, einen solchen Geist wie V. sich in unentwirrbarer Konfusion abquälen zu sehen, weil er immer von außen die Erklärung suche, die nimmer von außen komme. Die Inder, sagt R. - die haben es verstanden; ihr Brahma-Mythus ist eine symbolische Erklärung der Welt; durch Übertreibung der Raumverhältnisse z. B. bringen sie den Begriff der Raumlosigkeit bei. Wie ich immer mehr und mehr über diese Weisheit staune, neben welcher wir uns wie Barbaren ausnehmen.
Freitag 9ten
Es ist die Rede von einer kirchlichen Bewegung[5] in Deutschland; eine freie deutsche Kirche, das wäre schön. - Die Loire-Armee ist nun geschlagen, aber Trochu will sich nicht übergeben, und Gam-betta lügt weiter von Siegen und Triumphen. - Fidi sagt deutlich: Hermine. - Gambetta und Bismarck umbuhlen nun den h. Vater; letzterer wünscht einen Befehl aus Rom, daß die katholische Bevölkerung der eroberten Provinzen sich der Macht zu fügen hätte (wie das seinerzeit in Polen geschah). Europa bewundert jetzt wieder Frankreich! Und R. sagt: »Es stehen entschieden zwei Prinzipien hier gegenüber; die romanischen Völker, [die,] durch die fr. große Revolution geblendet, die Erinnerungen der alten Welt wieder wach gerufen haben*,(* Durch Einfügungen (»Erinnerungen der«) verändert erwarten von der Republik die Glückseligkeit auf Erden; alles Üble schwindet mit der Republik, für diese auch die Anstrengung und Aufopferung. Der Deutsche dagegen macht sich kein WahngeBilde, besonnener erkennt er instinktiv, daß kein Schibboleth das Heil der Welt bringen kann; und in dem >wenn mein König befiehlt, gehorche ich< des preußischen Offiziers, das gewiß den Franzosen entsetzlich albern und beschränkt vorkommt, liegt ein tiefer Sinn und eine tiefe Erkenntnis, daß man über gewisse Punkte mit halb Wahnsinnigen nicht sprechen darf. Ich habe diese illusionen alle durchgemacht und bin nun so weit gekommen, den Sinn des beschränkten Pflichtgefühls zu verstehen.« - Abends, wie er ein wenig präludiert hat, ruft er aus: »O dieses Leid* (* Möglich auch: »Lied«) der Welt; dieses kindisch kreischende Greisen-Kinderlied; ich habe es in den Terzen der Nomen ausgesprochen, mir ist es, als ob ich es hörte, jetzt ist Frühjahr, jetzt ist Winter, jetzt ist Krieg, jetzt Frieden, alles gleich.« Wir lesen wieder in »Voltaire« von Strauß, auf Friedrich den Großen tadelnd zurückkommend sagt R.: »Ein König muß groß im Ertragen sein, er muß sein Herz darin zeigen, daß er von vielem unberührt bleibe. Hätte er Voltaire bei der Judengeschichte verbannt, so war es recht, er hat aber lieber einen erniedrigten als einen unabhängigen Freund geduldet. So sind die Könige, sie sind so gemacht worden durch ihre Sonderstellung. Ich weiß ganz genau, daß, wenn der König mich bei den Msingern in seine Loge berief, er es nur tat, um denen zu zeigen, welche meinten ihn zu beeinflussen, daß es nicht der Fall sei; was er sonst gegen mich übte, übte er diesmal gegen die andren.« »Mein Leben« ist nun gebunden; ich ersuche R., es nicht dem König zu schenken, damit nicht etwa durch eine Indiskretion Fidi um sein einziges Kapital (die Herausgabe nach unsrem Tode) komme. - Die Dampfschiff-Forderung, ca. 500 Fr., bringt uns auf ein trauriges Thema; R. meint, ich habe viel in der Sparkasse, und ich muß ihm erklären, daß ich nur 2000 Fr. dort habe (Quartett - Ampel haben das übrige verbraucht). Das gibt einen kleinen Kummer und läßt mich trübe Betrachtungen in die Zukunft der Kinder werfen. Ich verspreche - was ich mir übrigens vorgenommen habe -, keine Gabe mehr zu machen, nichts zu verbrauchen und meine Rente regelmäßig anzulegen. Aber werde ich dieselbe auch erhalten? Die Lage der Dinge ist nicht vertrauenerweckend. In Gottes Namen, mehr Glück habe ich gehabt gewiß als ich wert bin, ich vertraue auf Gott!
Samstag 10ten
Fidi sucht sich in seines Vaters Bibliothek den Platon aus!- Brief von Herrn Wesendonck, welchem R. seinen »Beethoven« zugeschickt hat. Arbeit mit den Kindern und dann Weihnachtsausgang. - In der Dunkelheit begegnet mir R., er will [mich] nicht zu Fuß heimgehen lassen; ist mir nachgewandert und hat einen Wagen bestellt (Grane ist krank)! Abends verfällt er in düsteren Ingrimm über seine Arbeit und die unglückseligen Vorfälle mit den ersten Teilen. Das ist für mich die große, größte Prüfung; hier kann ich nicht helfen! Traurig lege ich mich nieder - (Brief von der Großmama aus London, sie meldet den Tod von Hans' Stiefbruder Heinz von Bülow, gestorben bei Châteauneuf; ich mußte viel weinen, ich habe den Jüngling wohl gekannt!)
Sonntag 11ten
Unabsehbar ist die Dauer des Krieges - wer kann das Leben lieben, der solche Greuel erlebt, o Gott, das Leiden des einzelnen ist schon unerträglich, und diese Berge von Leiden. (Brief an Schure und Malwide mit Versendung der Tasse mit Loulou's Bild für Hans.) Weihnachtsangelegenheiten. Herr Fritzsch telegraphiert um die Zusätze, die R. für den Beethoven versprochen hatte, aber auf Bestellung arbeiten ist R. unmöglich; er schreibt an den Verleger, daß er nichts hat. Unterwegs frug er sich immer, was hatte ich denn zu sagen - obgleich er vorhin ganz erfüllt von den Zusätzen gewesen war. Abends »Voltaire« beendigt: »Der tiefe Quell hat da gefehlt, aber es ist die Blüte des franz. Geistes, bis wohin es dieser bringen kann; das übrige - in J. J. Rousseau[6] versucht - klingt bei ihnen unwahr.« R. erstaunt über die Roheit und Grobheit der Faktur des Gespräches (Boulainvilliers). (Brief von Karl Klindworth.)
Montag 12ten
Den ganzen Tag an einem Muff für Loldi gearbeitet. R. arbeitet auch; er sagt, ich solle der Gräfin Bismarck schreiben, der deutsche Kaiser sei prädestiniert, einen Kaiser brauchte er für das Kunstwerk der Zukunft. Ich werde tun, was er wünscht. - Loulou diktiert mir abends ihre Briefe an die Großmama und an Heinze's Mutter. - Am Morgen sagt mir R.: »Wie ich mich nach den Studien der Inder sehne! Das ist alles unmittelbare Wahrheit; ihre Allegorien sprechen das aus, was anders gar nicht auszudrücken ist. Bei uns ist alles durch eine Art von Konvention festgesetzt; z. B. der >Tasso< von Goethe beruht auf der Tragik der fürstlichen Herkunft, welche Ungemischtheit des Blutes fordert, woraus die edle Entsagung der Prinzessin entstammt; kommt aber der große Realist, der sagt: Ei was, ihr Fürsten, ihr seid Menschen wie wir. Bei den Indern dagegen beruht selbst ihr Kastenwissen auf einer tiefen Erkenntnis der Natur.«Ich erwähne seine, R.'s, Gedichte als solche, die auch uns aller Konvention befreiten, »das ist die Musik«, sagt er, ich bestreite es und behaupte, daß selbst ohne Musik seine Dichtungen einzig dastünden: »Das Rheingold«, sagt er, »hat diesen Vorzug, daß es wie ein Bauernprozeß klar uns Wotan's Schuld und Verhängnis darstellt und die zwingende Notwendigkeit seiner Weltentsagung.«
Dienstag 13ten
Richter sendet mir durch Loldi einen sehr anerkennenden Aufsatz über Beethoven; R. will ihn aber nicht vorlesen hören, er sagt: »Es ist mir recht, wenn ich höre, daß ich nicht in Staub getreten werde, und daß man nicht wie von einem Charlatan immer von mir redet, aber mein eigenes Lob so zu hören ist mir schrecklich.« - Er entsendet ein verlangtes Autograph für Verwundeten-Vereine; man hatte um Meistersingerileder gebeten, er setzt aus Lohengrin auf: »Nie soll der Feind aus seinem öden Osten«, verändert dies aber in: »windigen Westen«!, und fügt hinzu: »Zur Abwechslung mit >der Wacht am Rhein<.« Abends ist R. sehr matt; er klagt, daß ihm das Überlegen der Arbeit so viel Zeit raubt. - Ich sage ihm heute, wir wollen uns photographieren lassen, ich vor ihm kniend, denn das sei meine Stellung, das soll ein Familienstück werden, er sagt: Seitdem er mein Portrait habe, wünsche er nichts mehr zu besitzen. (Brief an Lenbach.) Abends »Chrysanthus und Daria« von Calderon; ein wenig Unmut über die Baldachine, die Smaragde u.s.w. (Fidi sehr unruhig; ich bin ängstlich, weil er gestern vom Stuhle gefallen ist). Loulou
 schreibt ihrer Großmutter.
Mittwoch 14ten
R. bespricht mit mir die Reise nach Berlin im Frühjahr, ich frage ihn, ob ich mitgehen muß, er erwidert: »Unbedingt; ich bin nur etwas mit dir, zu zweien sind wir ein Ganzes; allein bin ich nichts mehr.« So sei es denn! Wir besprechen, daß wir das Hotelleben vermeiden wollen und womöglich in einer Familie absteigen wollen. - R. arbeitet; ich und die Kinder, wir widmen den Tag den Handarbeiten. Kurz nach Tisch spielt R. einiges aus der Erweckungsscene von Brünnhilde, das mich unsäglich rührt, diese Genesis der Liebe in einem Jüngling, der selbst nicht weiß, was ein Weib ist, und den dieses Weib, das schon an dem Webstuhl der Zeit gesponnen hat und ihm überlegen ist, hinreißt und verjüngt, dies scheint mir ganz einzig da, und die Musik! »Ja! ich kann es noch«, sagt R. lachend, »es ist gar nicht lange her, daß ich das gemacht habe, und nachher habe ich noch die gräßliche Geschichte gemacht« (I. Akt der Götterdäm.). - Sehr hübsch der sinnige Brief von Clemens Brockhaus über die Msinger in Leipzig und den »Beethoven«. Doris ist wieder verlobt, was die Mutter nicht gern meldet. - Mich freut der herzlich gemütliche Ton des Neffen sehr, ich denke an Fidi, daß er dort vielleicht eine freundliche Beziehung haben wird. Auch die mir ausgesprochen freundliche Gesinnung rührt mich: »Oh die wissen, woran sie sind«, sagt R., »alles was dich hat kennengelernt, kann über dich nicht im Zweifel sein. In den Sternen lag es geschrieben, daß du dich mir weihen sollst. Ja, ja«, - fügt er lachend, mein Bild betrachtend, [hinzu] -, »die kleine stolze Frau war entschlossen, ihr werdet euch wundern, denkt sie.« Spät zu Abend gespeist, weil R. gearbeitet. - Calderon's Chrysanth und Dana vollendet; über die Kälte des Stücks und Plattheiten und Fadheiten einzelner Scenen sehr verwundert.
Donnerstag 15ten
R. sagt mir am Morgen: ich sähe heute verklärt aus - die eingetretene milde Tauluft, die mich immer wie erlöst, mag daran schuld sein. Ich träumte, daß Voltaire und R. über Albrecht Dürer in Streit bei Tisch gerieten. Nochmals auf Calderon zurückkommend sagt R.: Seine Vollendung ist in seinen Lustspielen zu finden; die Trauerspiele fesseln durch die Themen, die sie behandeln. Weihnachtsarbeiten. Kindertisch. Brief von der Mutter mit den bekannten Ungerechtigkeiten gegen Preußen. - Ich gehe mit R. zur Stadt; dort finden wir einen Brief von Schure, der sehr verständig über »Beethoven« sich ausspricht, jedoch französisch schreibt, daher von R. gar nicht gelesen wird. - R. macht einen anderen Schluß an seinen »Beethoven«, »man muß den Deutschen nicht immer Wonne um's Maul schmieren«, sagt er. Abends Gibbon begonnen. - R. sagt, er möchte reich sein, mit mir eine italienische Villa beziehen und dann mit Muße und Ruhe studieren; »ich lese jetzt gar nichts mehr, doch dafür lebe ich, habe dich und die Kinder«. Loulou schreibt an Luise Bülow,[7] ich an Hedwig.
Freitag 16ten
Die Nachrichten aus Frankreich drücken uns nieder. Paris soll sich in den letzten Kämpfen verproviantiert haben, und sie behaupten, 400 000 Mann organisiert zu haben. Es ist unabsehbar, wie lange diese Metzelei noch dauern wird, und die Sorge um den rechten Abschluß für die Unsrigen überfällt mich. Was steht uns noch bevor? Wie wird es enden? Ich kann heute nichts vornehmen, die Angst benimmt mir den Atem. Briefe von den Schures, die nach Lyon gehen, sie zu den Verwundeten, er wahrscheinlich im Dienst. Brief von Pr. Nietzsche, ein Basler Pr. hat ihn gefragt, ob der »Beethoven« von Wagner gegen Beethoven geschrieben sei! Abends spielt uns Richter seine Musik zur »Kapitulation« und gibt uns dabei zu erkennen, daß es ihm peinlich sein würde, seinen Namen darunter zu setzen, erklärend, daß gewiß Betz ihm nicht antwortet, weil er meint, daß er gewiß Geld brauche und deshalb derlei zu komponieren beginne! - Wir lachen, und R. sagt, wie schwer man einen solchen Einfall büßen müsse. Es habe ihn selbst gekostet, das Ding auszuführen; er habe es getan, um sich nicht zu gewöhnen, eine Sache zu leicht aufzugeben. (Brief an die Mutter.)
Samstag 17ten
Beethoven-Tag! Wie wäre dieser einzige Tag zu begehen? R. gesteht mir, daß er gerne, um mir eine Freude zu gewähren, an diesem Tage in Zürich eine Symphonie dirigiert hätte; wir besprechen, wie dies noch nachzuholen wäre. - Die Nachrichten aus Frankreich erfüllen uns mit Trauer, man sagt jetzt mit Bestimmtheit, daß selbst mit der Einnahme von Paris der Krieg nicht zu Ende ist. - Betz schickt die »Kapitulation« zurück, die Theater fürchten die Kosten. R. ist im Grunde froh, denn die Lage von Paris hat sich verändert, die Stimmung ist nicht mehr dieselbe, es ist Schicksalspruch. »Jedes Handausstrecken nach außen ist Krampf, jedes Zurückziehen der Hand und die Arme Kreuzen ist Weisheit und Ruhe.« - Fidi, Tribschens Gambetta, heulend! R. sagt, er sieht solch ein Wesen wie Gambetta »fieberhaft aufgeregt mit der Rose im Knopfloch«. - Unangenehme Erfahrung mit einem Berliner Kunstbuchhändler, der mir schändliche Weihnachtsbogen zuschickt. - Der Buchbindergehilfe sagt R., er habe den »Beethoven« gelesen, er sei sehr schön, worauf R.: »Es ist nicht so leicht zu lesen.« »Nein, man muß etwas nachdenken, ich habe es aber doch gelesen und finde es sehr schön.« - R. arbeitet an Siegfried. (Brief an Dr. Heigel.) Abends in Gibbon gelesen. (R. nicht wohl.)
Sonntag 18ten
Die Besprechung von Laube's Benehmen bringt R. auf die Bemerkung: »Es ist mir so traurig, wenn Leute, die sich in meinem    Leben gut eingeschrieben haben, plötzlich so schlecht sich benehmen, und zwar nicht bloß gegen mich, sondern überhaupt. Sehr viele Männer haben wie die jungen Mädchen ihre Beaute de diable, ihre Zeit, wo sie nach etwas sich ausnehmen, später ist man ganz erstaunt, daß nichts dahinter war.« Ich sagte, mir schien, ein jeder Mensch, Mann oder Weib, habe eine Phase in seinem Leben, wo er besser sei als im übrigen Leben. R. erwidert: »weil in jedem die Anlage zu allem da ist, wie in dem Zellengewebe das ganze Universum enthalten ist. Deshalb kann auch der Künstler auf seine allgemeine Wirkung rechnen; ich wage zu behaupten, daß der ärgste Philister mit Tristan und Isolde empfinden kann, weil es gewiß eine Stunde in seinem Leben gibt, wo er scheu der Verliebtheit aus dem Weg gegangen ist.« - Gestern bei Gelegenheit der Teilung des römischen Reiches in lateinische und griechische Provinzen sagt R.: »Da siehst du gleich, gewisse Völker wie die Griechen konnten ihre Sprache und ihre Kultur nicht aufgeben, die Germanen taten es auch nicht, die Gallier dagegen und andre wurden lateinisiert.« - Die jetzige Kriegsführung wird bitter getadelt; es heißt, Moltke befehlige nur die Cernierung von Paris. Die Verfolgung der Loire-Armee sei eine sehr matte gewesen, alle TruppenabTeilungen zu vereinzelt, so daß die Opfer furchtbar seien. Diese Vorstellungen beherrschen mich leider ganz; R. bemerkt es mit Unwillen. Ich hätte gewiß diese trübsinnige Regung unterdrücken sollen. Bei Tisch fragt R. Hermine, ob sie auch fromm zur Kirche gegangen sei, er tat es nur alle 30 Jahre zur Trauung! - »Was ist das Leben doch für ein flüchtiges nichtiges Ding«, ruft er aus, nachdem er für sich das Dritte-Mai-Lied[8] gesummt, »wenn ich an diese Polen denke, wohin sind die fröhlichen Gesichter, die halb ritterlich, halb pedantischen Attitudes dieses Festes, das ich dir erzählt habe, dieselben Menschen würden sich gar nicht mehr vorstellen können, alles war ein Zustand der Erscheinung der Idee Polen.« - Ich gehe zur Graf. B., R., der gerne mit mir spazieren wollte, was ich nicht verstanden hatte, eilt mir durch Wiesen und Sümpfe nach, und zu meiner größten Überraschung sehe ich ihn bei der Eisenbahn von der anderen Seite mit Rus mir voranschreiten; »du weißt eben nicht, wie ich an dir hänge«, sagt er. - Abends Gibbon.
Montag 19ten
Lusch rührt mich dadurch, daß sie mir mitteilt, sie habe von ihrem Vater geträumt, er sei in einer Ecke zwischen R. und Richter gewesen und habe von da nicht fortgekonnt. - Brief eines »Schopenhau-rianers« aus Pest an R., voller Enthusiasmus und Verehrung. R. arbeitet, ich immer weihnächtig beschäftigt. Die Lage unserer Truppen beängstigt uns, es scheint ein großer Fehler begangen worden zu sein. R. sagt, er möchte eine Konstitution für's deutsche Volk schreiben, »diese Freude für dich«, sagt er mir scherzend. Abends Gibbon. (2te Auflage von »Beethoven«.) Gräfin B. kommt und sagt, es ging das Gerücht, Trochu sei durchgebrochen. - Wie ich heute mein Haar auf verschiedene Arten flecht und R. sage, es mache mir Vergnügen, erwidert er: »Oh! Wie ich zuerst las von den Spartanern, die sich ihr Haar künstlich flechten und so geputzt zum Kampfe gingen, habe ich den ersten Eindruck erhalten von dem schönen Spiel des Lebens, wo man sich freudig opfert und sucht, den Göttern würdig geputzt zu nahen. Das ist die eine Welt, und die des Fran-ciscus von Assisi die andere.« In Gibbon weiter gelesen.
Dienstag 20ten
R. ist nicht wohl. Der Föhn bekommt ihm nicht gut. Seine Adern sind geschwollen, und er hat eine üble Nacht gehabt! Seine gute Muse nennt er mich, doch seine ganze Liebe kann die Sorge über sein Übelbefinden nicht verscheuchen. - R. ist in Zürich. Ich zur Stadt, wo Graf B. mir erzählt, daß in der Nationalzeitung ein hübscher Aufsatz über »Beethoven« ist. Zugleich schickt Herr Fritzsch noch Geld für diese Schrift, was R. im höchsten Grade verwundert. Abends in Gibbon.
Mittwoch 21ten
Legationsrat Bucher schickt aus dem Generalquartierseine Photographie. Immer nichts Erfreuendes vor Paris, entschieden sind die Anstrengungen der Franzosen von den Unsrigen unterschätzt worden. R. hat wiederum keine gute Nacht gehabt. Wie wir im unteren Salon beim Kaffee sitzen, blickt er auf die Galerie und sagt, er habe jetzt die Empfindung von seiner Überraschung vom Geburtstag 69, wie er da dem Quartett lauschte und die bemalte Fensterscheibe zum ersten Male erblickte! »Solche Überraschungen«, sagte er, »mußt du nicht mehr machen, denn ich kann mir denken, wie die Zeit, in welcher du sie vorbereitest, auf dir drückt; das Verschweigen [von] irgendetwas von dem einen gegen den anderen ist bei unsrer Liebe gewiß beinahe unerträglich.« Ich gestehe ihm, daß, wie er, über meinen Briefwechsel mit Herrn Müller wegen des Quartetts mich befragend, meiner Antwort Glauben schenkte, ich tief beschämt war. -Ich rate ihm, wegen seines Unwohlseins in Basel oder Zürich einen Arzt zu konsultieren; »am liebsten wäre ich nach Straßburg - weil es mir fast unbekannt ist -, um nebenbei etwas zu sehen; waren schöne Bilder dort?« Ich nenne ihm einige, die mit der Bibliothek untergegangen sind. »Ja da muß man sich entscheiden, ob man all die Schätze unbedenklich dem Untergang weiht, oder ob man die übelsten Zustände erträgt, nur um alles zu konservieren.« »Und da wird es erst recht zerstört«, sagte ich. »Ja! wie die Barbaren es mit dem römischen Reich machten. Und was ist denn die Kunst? Sie gleicht den schönen blauen flackernden Flammen, die zuweilen über dem Herd sich erheben, alles übrige aber ist Zerstörung, Vernichtung. Daß sie Bildend leuchten soll während einer tatenreichen Zeit, das ist freilich der Traum.« - Ich antworte dem Freund in Versailles, schreibe an Gräfin B. mit der Versendung der Weihnachts-Sachen. Abends in Gibbon gelesen.
Donnerstag 22ten
Es heißt jetzt, Paris wäre bis im April verproviantiert, und an ein Bombardement wäre kaum zu denken, da die Geschütze nicht weit genug reichten. Das ist freilich schlimm; R. sagt: »Jetzt erst könnten die Deutschen zeigen, was sie sind; durch Geduld und Beharrlichkeit haben sie sich immer ausgezeichnet.« - Lateinischer Brief von Peter Cornelius, welcher die Geburt eines dritten Kindes meldet. Brief von Dr. Heigel an mich, er ist aufgefordert, einen Beitrag zu dem Werk »Die Mütter berühmter Männer« zu liefern und hat dazu R.'s Mutter sich ausgesucht. Mich entsetzt dieses Zeitungswesen, das alles, das Stillste, Intimste in seinen Bereich zieht; ich werde dem Dr. H. schreiben, daß ich die erbetenen Notizen nicht zu geben vermag. Richter bringt von Zürich einen Geiger, mit welchem unsre Hausquartette arrangiert werden. - Gestern sprach R. von unsrem Abgang von Tribschen und fügt dann hinzu: »Es hat immer in meinem Leben solche Perioden gegeben, in welchen ich wie gestorben war und da die Keime legte zu einem neuen Leben, so Paris (nach meiner Musikdirektorschaft), worauf die Kapellmeisterei in Dresden kam, so dann Zürich nach Dresden, so mein Tribschen.« Ich erzähle die Bemerkung, daß die Flucht ein bestimmter Faktor in seinem Leben Bildet; Flucht von Riga, Flucht von Dresden, Flucht von Zürich, Flucht von München, zweimal. Hoffentlich ist diese Cause zu Ende. - Wie ich ihm von meiner Freude an der Venusscene in Tannhäuser (in Paris nachkomponiert) [erzähle], sagt er: »Wie habe ich gefühlt in Dresden, daß diese Scene ungenügend war, wie bescheiden habe ich gezweifelt, solch ein Großer zu werden, der das kann, was er will. Ich freute mich nur, mit innerster Seele bei allem zu sein, was ich machte. Die Wiedererscheinung der Venus aber komponierte ich nach, und aus ihr habe ich die ganze Pariser Scene entwickelt.« - Das Gespräch bringt uns auf die großen Städte Frankreichs, »wie öde diese sind, z. B. Bordeaux, es ist ganz furchtbar, bei aller Pracht; doch habe ich dort einen Rektor des Konsistoriums kennen gelernt, der hielt eine Vorlesung über das germanische Wesen und behauptete, daß der Widerstand der Sachsen gegen Karl den Großen, d. h. der germanische gegen das Romanische - zu verfolgen sei bis zu Luther. Ich war ganz rot damals und unterhielt mich lebhaft mit dem intelligenten Menschen, und Mme Laussot, die damals keine blaue Brille trug! folgte mit Wonne.« Das Autograph R.'s wird in der A. A. Zeitung besprochen, man erwartet, daß es sehr hoch versteigert wird.
Freitag 23ten
Nichts zu berichten als Weihnachtsvorbereitungen. Ich fahre zur Stadt im Schlitten und kehre halb erfroren heim. Abends putze ich den Baum aus. Die Kinder arbeiten heimlich. Alles in großer Spannung.
Samstag 24ten
Mein Tag gehört der Aufstellung der Sachen, die ich mit Wehmut besorge; Bericht über unsre Leute, in Pau gefangen und verhungernd, beherrscht meine Stimmung, auch gedenke ich Hans'! Um fünf Uhr bringt R. Pr. Nietzsche von der Stadt mit, um 7 Uhr zünden wir an. Es ist das erste Weihnachten, an welchem ich R. nichts beschere und nichts von ihm erhalte - und so ist es recht. Eine Depesche von Dr. Sulzer meldet, daß er R.'s Einladung annimmt und morgen zu Mittag von Bern herüberkommt. Alles ist zufrieden und froh, unsere guten Stockers finden, daß wir zu viel für sie getan. - Die Kinder selig!
Sonntag 25ten
Von diesem Tag, meine Kinder, kann ich euch nichts sagen, nichts von meinen Empfindungen, nichts von meiner Stimmung,
 nichts, nichts. Dürr und trocken will ich euch nur sagen, was geschah: Wie ich aufwachte, vernahm mein Ohr einen Klang, immer voller schwoll er an, nicht mehr im Traum durfte ich mich wähnen, Musik erschallte, und welche Musik! Als sie verklungen, trat R. mit den fünf Kindern zu mir ein und überreichte mir die Partitur des »Symphonischen Geburtstagsgrußes« -,[9] in Tränen war ich, aber auch das ganze Haus; auf der Treppe hatte R. sein Orchester gestellt und so unser Tribschen auf ewig geweiht! Die »Tribscher Idylle« so heißt das Werk.    Um Mittag kam Dr. Sulzer, der bedeutendste wohl unter R.'s Freunden! Nach dem Frühstück stellte das Orchester [sich] wieder ein, und in der unteren Wohnung ertönte nun die Idylle wieder, zu unserer aller Erschütterung (Gräfin B. auch von mir dazu eingeladen); darauf Lohengrin's Brautzug, das Septett von Beethoven, und zum Schluß noch einmal die nie genug Gehörte! -Nun begriff ich R.'s heimliches Arbeiten, nun auch des guten Richter's Trompete (er schmetterte das Siegfried-Thema prachtvoll und hatte eigens dazu Trompete gelernt), die ihm viele Ermahnungen von mir zuge-zogenhat. »Laß mich sterben«, rief ich R. [zu]. »Es war leichter, für mich zu sterben als für mich zu leben«, erwiderte er mir. - Abends liest R. seine Meistersinger Dr. Sulzer vor, der sie nicht kennt; und ich habe daran solche Freude, als ob sie noch ganz neu wären. R. sagt von diesem letzteren: »Ich wollte die Ms. Sulzer vorlesen, und es wurde ein Dialog zwischen uns beiden.«
Montag 26ten
Tante »Isa« schickt den Kindern Kleinigkeiten und ermahnt sie, ihres Vaters zu gedenken! Wüßte die Gute, wie dieses Andenken bei den Kindern wach erhalten wird, sie würde dies unterlassen. Zugleich meldet Frl. von M.*,(* Meysenbug) daß die Tasse und das Gedicht angekommen sind und Hans übergeben werden. Den ganzen Tag bin ich wie im Traum, der Geist lauscht nach den verklungenen Klängen und gebärt sie sich wieder, das Herz, erdrückt von seinen Empfindungen, sucht Erlösung in der Musik; Dämmerungs-Traum entsteht, nichts mehr sehen, alles hören in tiefster Stille, Liebeswalten, Zerfließen der Schranken, Daseins Unbe-wußtheit - - »höchste Lust«. - - Abends liest uns R. im Manuskript, das mir Pr. Nietzsche als Geburtstagsgabe dargereicht hat, sie ist betitelt »Die Entstehung des tragischen Gedankens«[10] und ist von höchstem Wert; die Tiefe und Großartigkeit der in gedrängtester Kürze gegebenen Anschauung ist ganz merkwürdig; wir folgen seinem Gedankengang mit größtem und lebhaftestem Interesse. Besondere Freude gewährt es mir, daß R.'s Ideen auf diesem Gebiet ausgedehnt werden können. - Der h. Abend brachte uns einen Brief von Alex. Seroff, welcher von Petersburg aus offiziell nach Wien zur Beethoven-Feier gereist ist. Seine höchst originelle schilderung derselben zeigt, daß Judäa den größten unsrer Helden gefeiert hat. Alles muß dort absurd und lächerlich gewesen sein, für uns empörend. Gerne möchte man die Kaiserwerdung als würdige Feier B.'s begrüßen, allein die Regulierung des Elsasses durch Herrn v. Mühler läßt nicht viel Freude aufkommen! (Hermann Brockhaus ladet uns zur Hochzeitsfeier seiner Tochter ein.)
Dienstag 27ten
Mit den Kindern am Morgen gespielt (Fidi durch Musik und sonstige Weihnachtsfreuden sehr aufgeregt - hat die ganze Nacht nicht schlafen können und immer gelacht und gescherzt. Während der »Idylle« hat er alle Musiker gefreut und gefesselt durch sein leidenschaftlich bewegtes Wohlgefallen an der Musik). Brief von Frl. v. Meysenbug; sie behauptet, Hans schiene sie ganz zu ignorieren, das hat mir weh getan, allein es muß alles ertragen werden. Im Schlitten die Kinder abends bei Graf. Bassenheim abgeholt. Abends beginnen wir den »Goldenen Topf« von Hoff mann; viel Freude daran. R. mich beim Abschied umarmend, sagt: »Ich will keine Veränderung, ich will nur, daß es ewig so bleibe.« - Daß keine Nachricht vom König zu Weihnachten gekommen, macht uns besorgt; R. fürchtet, daß er böse sei, weil er den Siegfried nicht erhalten hat (Sachen für die Kinder von der Großmama).
Mittwoch 28ten
Brief von der Mutter; immer dieselben unbewußten Lügen, die Schauderhaftigkeit der deutschen Kriegsführung betreffend! Morgenspiel mit den Kindern; R. bereitet mit Anstrengung seinen Anstands-Brief an den König. Nachricht des Sieges der Preußen im Norden; doch ist unsere Lage sehr ernst! Nachmittags Musik aus Tristan für mich und Pr. Nietzsche von Richter gespielt. Abends Schluß des »Goldenen Topfes« von H., wobei ich entschieden Hoffmann über Edgar Poe[11] stelle, obgleich letzterer mehr Kunst besitzt, weil H. Dichter ist. R. erklärt die Tiefe seines Gedankens, die reale Welt durchaus als gespenstisch zu betrachten, während die phantastische Welt ihm die wahre heimische ist, »freilich gelingt es ihm nicht, letztere anschaulich zu machen, denn das ist unmöglich. Cervantes hat sie bei Seite gelassen und in Don Quixote bloß den negativen Pol uns dargestellt, darum ist sein Werk vollendeter, aber verwandt in der Anschauung ist ihm Hoffmann«. - (Gestern Besuch des guten Studenten Schobinger, der von Basel kommt und mir versichert, er habe mehr Freude gehabt, mich wieder zu sehen, als alle seine Verwandten. Pr. N. hat ihm zu seinem Stipendium verholten.)
Donnerstag 29ten
Der Mutter geschrieben, was mich leider auf die jetzigen Ereignisse führt, ein Grund der tiefsten Trauer. Loulou schreibt dem Vater, R. verfertigt den sehr schönen Brief an den König. Kindertisch; nachher, während R. seinen Spaziergang ausführt, erster Akt von Tristan und Isolde von Richter gespielt. Abends liest R. die Dichtung uns vor; wir wecken aber damit Fidi auf und wandern durch das ganze Haus, um irgendwo den dritten Akt zu lesen, unten ist es kalt; in der Denkstube, jetzt Pr. Nietzsche eingeräumt, lassen wir uns nieder, allein R. findet es zu absurd, und er beschließt, den 3ten Akt mit gedämpfter Stimme zu lesen. Furchtbarer Eindruck des Ganzen auf mich. (Fidi sehr aufgeregt tanzend, lachend etc.)
Freitag 30
Brief des Lieutenant Herrn von Gersdorff, der von Mon-morency aus für die von R. ihm zugesendete Photographie dankt. Zusendung eines Aufsatzes über Beethoven, von Herrn H. Dorn, worin unter anderem R. Speichelleckerei gegen den König von Bayern vorgeworfen wird! Der Aufsatz wird dem pensionierten Pr. Kmeister zurückgesandt. Der Musikverleger bestellt einen Krönungsmarsch und bietet R. 1500 frcs. dafür; schade nur, daß R. gar nicht auf Bestellung schreiben kann, und namentlich keinen Krönungsmarsch. - Die Zeitungen melden die vollständige Auflösung der Loire-Armee, Gott gebe es. Das Bombardement eines Forts hat begonnen. R. schreibt seinen öffentlichen Brief an Herrn Stade.[12] Fidi sehr aufgeregt, findet den Schlaf nicht, wir verlassen die Orangeniederlassung und verbringen den Abend in R.'s Arbeitsstube, nachdem der Baum von den Kindern geplündert worden ist.
Samstag 31ten
Brief von Gräfin Krockow (daß in Sachsen große Sympathien für die Franzosen herrschen, meldet sie unter anderem). R. und ich, wir machen Neujahrsbesuche bei unserem Pfarrer Tschudi (welchem R. nicht ohne Rührung begegnet, da er so freundlich gegen uns war). Dann zu Bassenheims, die auch R. ehrwürdig und heilig sind, weil sie bei unsrer Trauung zugegen waren. Die Gräfin meldet uns, daß Mont Avron eingenommen ist. Im Wagen schaut mich R. lange an und sagt, nachdem er darüber gescherzt hat, daß ich zu viel Race habe, daß aus meinem Gesicht das Urverwandte ihn so traulich anblicke; er geht zur Vergangenheit über und sagt: »Ich kann meine Lage zu dir nur mit den Worten Tristan's im zweiten Akt schildern, dieses kaum Wagen zu gewahren, das Tristan zum völligen Verräter an Isolde macht; weil die Dichtung immer vorangeht und die Wirklichkeit nachträglich beweisen kann, wie recht der Dichter gesehen hat. Wie lange hab ich gelitten um Hans, bis ich erkannte, daß hier wie im Tristan etwas walte, gegen das alles übrige nicht Stand hält.« Die Lektüre von Tristan hat mich insofern wehmütig gestimmt, als ich Richard's einstiger Lage in Zürich gedachte und ich an solche TrugBilder, Täuschungen, flüchtige Wahnerzeugnisse nicht ohne Tränen denken kann; R. schilt mich ob dieser Stimmung und sagt, ich stellte mir die Dinge viel bedeutender [vor] als sie gewesen, ich sei allerdings an ihrem Gewahrwerden gereift. - Nachmittags die Quartettisten aus Zürich, R. studiert ihnen das F dur Quartett op. 59 ein (ein Lieblingswerk von mir, wenn man so über dieses Göttliche sprechen darf), dann das letzte (auch F dur).[13] Gegen elf Uhr entfernen sich die Musiker, wir bleiben auf, Pr. Nietzsche, der gute Richter und wir beide. Die Mitternacht kommt, wir wünschen uns das neue Jahr. Gott gebe uns allen Friede!