Studienzeit

Im Mai 1920 fuhr ich mit dem Zug nach Berlin, um dort in einen Anschlußzug nach Freiburg im Breisgau umzusteigen. Denn ich wollte mein erstes Studienjahr in Freiburg verbringen. In demselben Jahr wurde Danzig zur Freien Stadt erklärt. Der Vertrag von Versailles hatte den Polnischen Korridor geschaffen, der Westpreußen in zwei Teile trennte. In seiner isolierten Lage ähnelte Danzig damals dem heutigen Berlin, mit einer deutlichen Ausnahme: Seine Einwohner konnten sich auf Antrag einen Paß der Freien Stadt Danzig ausstellen lassen. Man ließ ihnen die Wahl, entweder Danziger oder deutsche Staatsbürger zu werden. Ich hatte einen deutschen Paß beantragt, denn mein Leben würde sich größtenteils außerhalb des schönen »Gefängnisses« Danzig abspielen. Meine Wahl war eine rein praktische, ohne politische Hintergedanken. Ich hatte mehr oder weniger die Ereignisse verschlafen, die die deutsche Geschichte verändert hatten. Es hört sich heute unglaublich an, daß Ereignisse wie die folgenden auf mich so wenig Eindruck gemacht hatten: die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg, die sozialistische Revolution und der kommunistische Putsch, als Kurt Eisner in München kurzfristig das Kommando übernahm. Sogar die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts bewegten weder meine Familie noch mich selbst besonders tief. Hintergründe und Bedeutung dieses sozialen Aufruhrs wurden von uns gedanklich nicht erfaßt. Schon der Erfolg der bolschewistischen Revolution 1917 war für uns kein wichtiges Ereignis. Wir waren nicht die einzigen, deren Sensibilität für politische Geschehnisse derart abgestumpft war. Viele Menschen, gleichgültig ob Juden oder Christen, auch wesentlich ältere Leute, waren nicht in der Lage, die Tragweite der historischen Aufstände in Deutschland und Rußland zu begreifen. Nur mein Onkel Josef hatte die Zeichen der Zeit erkannt und bereitete sich darauf vor, Danzig und Deutschland zu verlassen. Doch meine Eltern schlugen seine Warnungen leichtfertig in den Wind.
Im Juni 1922 wurde Walther Rathenau, deutscher Außenminister und Jude, durch Offiziere des faschistischen deutschen Freikorps ermordet. Doch nicht einmal die deutschen Juden, meine Eltern eingeschlossen, wurden dadurch aus ihrer Lethargie aufgeschreckt. Und mich interessierten mit 19 Jahren nichts anderes als mein Studium und meine Gedichte.
Trotz der faschistischen Wolke am Horizont, war das Deutschland der 20er Jahre eine demokratische Republik, in der Juden nicht diskriminiert wurden. Es gab an keiner Universität einen Numerus Clausus. Der Staat mischte sich nicht in die universitäre Ausbildung ein. Studieren war eine Privatangelegenheit. Die Eltern bezahlten alles, und wir waren vom Geld und dem guten Willen unserer Familien abhängig. Dafür konnten wir unser Studium so frei gestalten, wie wir wollten. Wir waren für uns selbst verantwortlich und mußten unser Wissen erst im Examen unter Beweis stellen. Die Studenten profitierten von dieser Freiheit, indem sie lernten, auf eigenen Füßen zu stehen und Selbstvertrauen und Selbstsicherheit zu gewinnen. In meinen Augen war diese Situation den heutigen universitären Gepflogenheiten, die die Studenten zu Rädchen im Getriebe machen, überlegen. Wir konnten nicht nur unser Studium selbst gestalten, sondern uns auch, wenn wir wollten, gleichzeitig in zwei Hauptfächern einschreiben. Ich nahm diese Möglichkeit wahr. Mein Wunsch war es, Philosophie zu studieren, aber ich hatte mich aus Vernunftgründen entschieden, die Medizin zu meinem Beruf zu machen. Also belegte ich in Freiburg Vorlesungen in beiden Fakultäten.
Freiburg galt damals als Eldorado für Philosophiestudenten. Die alte deutsche Universität wurde zu einem Anziehungspunkt durch den wachsenden Ruhm von Edmund Husserl, dem Gründungsvater der Phänomenologie. Er war der Vorläufer existenzialistischer Philosophen. Zwar hat sein Schüler und Assistent Martin Heidegger sich diesen Ruf erworben, doch seine Philosophie verdankt Husserl so viel, daß er eher als Botschafter denn als Begründer existenzialistischen Denkens gelten kann. Husserl verlor seinen Lehrstuhl in Freiburg während der 30er Jahre aufgrund seiner jüdischen Abstammung. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich schon damals ahnte, welches Glück ich hatte, bei den beiden bedeutendsten Philosophen der Zeit studieren zu können, aber später wurde mir dieses Privileg bewußt. Ich belegte außerdem Veranstaltungen in Physiologie und Chemie, die für Medizinstudenten Pflicht waren.
Freiburgs Attraktivität beschränkte sich jedoch nicht auf die Universität. Aus aller Welt kamen Touristen, die diese hübsche Stadt am Fuße des Schwarzwaldes besuchen wollten. Kein Wunder, daß ich Schwierigkeiten hatte, bei meiner Ankunft ein Hotelzimmer zu bekommen, und ich stellte fest, daß ich möglicherweise kein möbliertes Zimmer in Freiburg bekommen würde. Die Stadt platzte buchstäblich aus allen Nähten. Während ich ein Anschlagbrett mit Wohnungsanzeigen studierte, tippte mir jemand auf die Schulter: Es war Sonja Lubowski, eine schöne Russin, die ich vor einigen Jahren bei Lisa getroffen hatte. Sie studierte jetzt im zweiten Jahr Medizin und hatte sich zusammen mit ihrem Bruder Walter in dem nahegelegenen Dorf Günterstal ein Zimmer genommen. Sie bot mir an, ihre Vermieterin zu fragen, ob sie auch ein Zimmer für mich hätte. Noch am selben Tag wurde ich ihre und ihres Bruders Zimmernachbarin. Als eines Tages ein junger Perser in ihrem Zimmer auftauchte, während wir drei zu Abend aßen, wurde mir schlagartig klar: Er war in Sonja verliebt, und er war glücklich darüber, daß ich dabei war, weil wir so den Anschein zweier Pärchen erwecken konnten. Er versuchte zu verbergen, daß er Sonja für sich allein haben wollte. Doch man mußte mich nicht dazu drängen, das Spiel mitzuspielen. Walter und ich mochten uns sofort, und wenig später verbrachten wir sowohl viele Stunden allein, als auch mit den beiden.
Die Anregungen durch Husserls Lehrveranstaltungen und die gemeinsamen Unternehmungen mit meinen neuen Freunden wurden zu den Polen meiner Existenz. Dagegen ließen mich meine medizinischen Vorkurse ziemlich kalt. Ich werde Husserls Erscheinung nie vergessen. Sein ergrauendes Haar und sein bleiches Gesicht wurden verschönt durch ein Ziegenbärtchen und einen sorgfältig gepflegten Schnurrbart. Seine Augen blickten freundlich auf die Studenten, doch in seinem sanften Auftreten lag Autorität. Er sprach mit leiser Stimme, wenn er demonstrierte, wie man ein Verständnis für Ideen und Objekte aus erster Hand gewinnen konnte. Ich höre ihn immer noch sagen: »Verlassen Sie sich nicht auf Autoritäten, betrachten Sie alles auf neue Art und Weise mit ihren eigenen Augen, mit Ihrem eigenen Verstand und Ihrer eigenen Intuition. Legen Sie die Scheuklappen des Lernens aus zweiter Hand ab.« Ich war eine aufmerksame und enthusiastische Schülerin. Und so durfte ich in meinem zweiten Semester zusammen mit insgesamt zehn Studenten auch an Heideggers Seminar teilnehmen. Die beiden Männer hätten kaum unterschiedlicher in Erscheinung und Temperament sein können. Husserl hatte etwas Ätherisches an sich; Heidegger dagegen sah aus wie ein Bauer, war eher mürrisch, und man konnte seine Einstellung zu uns nicht erahnen. Während Husserl seine Studenten anzusehen pflegte, betrachtete Heidegger seine Hände oder den Tisch. Dieser Tisch ist mir unvergeßlich. Er war aus massivem Holz, wahrscheinlich Eiche, und von ovaler Form. Wir Studenten saßen zusammen mit Heidegger um diesen Tisch herum. Heideggers Lehrveranstaltungen beeindruckten mich durch dessen sorgfältige Definitionen und scharfen Urteile. Ihm entging nicht das kleinste Detail unserer Diskussion. Er beleuchtete ein Thema bis ins Letzte, manchmal bis zum Überdruß. Ich bewunderte ihn, aber ich mochte ihn nicht wegen seiner erdrückenden Präsenz. Heideggers Seminar war eine elaborierte Version dessen, was wir von Husserl lernten, doch mit dem entscheidenden Unterschied unserer aktiven Teilnahme.
Heidegger konnte sich jedoch erst richtig entfalten, als er das Erbe Husserls in den 30er Jahren antrat. Dies mag der Grund sein, warum seine Arbeiten gerade zu einem Zeitpunkt erschienen, zu dem sie auf den entstehenden Existenzialismus Einfluß nehmen konnten. Wir wissen wenig über die Gesetzmäßigkeiten, denen zeitliche Planung und Synchronität von Ereignissen unterliegen, doch beide spielen unzweifelhaft eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wissenschaftliche und künstlerische Arbeiten entweder berühmt werden oder unentdeckt bleiben zu lassen.
Günterstal war eine gute Wahl und brachte mir Glück. Das Dorf schmiegte sich an einen Hügel am Fuße des Schwarzwaldes und war von Wiesen umgeben. Das dörfliche Leben wurde angenehm unterbrochen durch die Anwesenheit einer Reihe von Studenten, die wie ich in Freiburg selbst kein Zimmer bekommen hatten. Doch man war in 20 Minuten mit der Straßenbahn in der Stadt, und meine drei Freunde und ich fuhren jeden Tag in der Woche hin und zurück. Wir studierten an verschiedenen Fakultäten der Universität, und während Sonja und ihr persischer Poet unzertrennlich waren, gingen Walter und ich unsere eigenen Wege. Bald wurden wir Mitwisser einer bezaubernden Liebesgeschichte und spielten unsere Rolle mit lächelnder Diskretion.
Häufig unternahmen wir gemeinsam lange Wanderungen durch den Schwarzwald; manchmal waren es nur kurze Ausflüge, manchmal kamen wir bis zum Titisee. Die Luft der Kiefernwälder war die kräftigendste Medizin für mich, seit ich nicht mehr an der Ostseeküste lebte. Wir vier fühlten uns zusammen wohl und waren uns so vertraut, daß wir auch zusammen schweigen konnten, wenn uns danach zumute war. Unsere Freundschaft erreichte ihren Höhepunkt bei einem Kurzurlaub in Konstanz. Das Wetter war günstig: heiß und diesig, und wir genossen die architektonische Schönheit dieser alten Stadt, der das Konzil von Konstanz die historische Bedeutung verliehen hat. Wir gingen in den Parks und am Ufer spazieren, aber vor allem genossen wir die langen Bootsfahrten auf dem See. Die beiden Männer ruderten, Sonja und ich dösten oder gaben uns Tagträumen hin, atmeten die herrliche Luft und betrachteten das Ufer. Unser Boot, das im Sonnenschein glänzte, trug uns bis Meersburg und einmal sogar bis nach Lindau. Wir fühlten uns wie glückliche Kinder, unser Boot war unsere Wiege. Der persische Poet zitierte aus seinen Gedichten, deren Rhythmus mit den Bootsbewegungen eins wurde. Nachts schliefen wir in dem alten »Hotel Barbarossa«. Wir hatten zwei Zimmer gemietet, eines für die Männer, das andere für Sonja und mich. Eines Morgens wachte ich auf, und als ich nachsehen wollte, ob Sonja schon wach war, stellte ich fest, daß Walter neben mir lag. Mir blieb vor Verblüffung die Luft weg. Wir sahen uns beide an und mußten lachen. »Warum hat sie mir nicht gesagt, daß sie das Bett mit dir tauschen wollte?« »Sie kam in unser Zimmer und bat mich darum. Ich konnte ihr den Gefallen nicht abschlagen.« Ich fand es natürlich, daß die beiden Verliebten zusammen schlafen wollten und war den Lubowskis nicht böse, daß sie mich überrumpelt hatten. Doch ich bat sie, Walter ein eigenes Zimmer für den Rest unseres Aufenthaltes zu besorgen. Es hatte mir Spaß gemacht, dem Liebespaar zu helfen. Die Ausstrahlung dieser beiden glücklichen und dankbaren Menschen war eine Belohnung für sich. Der Perser mit seinen schwarzen Locken und der olivfarbenen Haut bewegte sich wie eine Katze. Sie war kräftiger, eine blonde Jüdin, deren graue Augen von ihren herabgezogenen Oberlidern halb bedeckt wurden. Ihre hoch angesetzten Augenbrauen und die griechische Nase paßten nicht recht zu ihrem großen Mund mit den blutroten, sinnlichen Lippen. Sie hielt sich immer sehr gerade, und ihr wohlgeformter Körper hatte mit den breiten Schultern und der schmalen Taille ein androgynes Aussehen. Sie beeindruckte mich als eine der wenigen Frauen, deren natürliche Autorität sich mit der Gabe, zuhören zu können, und mit menschlicher Wärme paart. Walter dagegen war von der Natur nicht gerade bevorzugt behandelt worden: Er war dick und schlaff und mußte seit frühester Kindheit eine Brille tragen. Das machte ihn zu einem Sklaven - nicht nur seine schöne Schwester, auch jeder andere konnte ihn beliebig ausnutzen. Doch ich mochte ihn sehr. Er war ausgesprochen intelligent und kannte sich nicht nur in seinem Metier - der Medizin - aus, sondern auch in politischen und sozialen Themen. Seine breit gestreuten Interessen machten ihn zu einem unterhaltsamen Gefährten.
Wir vier bildeten eine kleine Gemeinde, ohne je eine Gemeinschaft zu sein. Wir waren jung und gesund und lebten in der Weimarer Republik, die uns eine fast unbegrenzte Freiheit ermöglichte. Wir waren privilegiert, weil wir die Zeit und die Mittel hatten, ein Studentenleben ohne Beschränkungen zu genießen.
Nach einem Jahr in Freiburg reiste ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit ab. Das Schicksal hatte mir vergönnt, bei Husserl und Heidegger zu studieren, und zudem hatte ich die Erfahrungen konfliktloser Freundschaften machen können.
In der Zwischenzeit war meine russische Freundin Ida aus Schweden nach Deutschland zurückgekehrt, und die Familie hatte sich in Königsberg niedergelassen. Ida äußerte den Wunsch, unsere Freundschaft zu erneuern. Und so kam es, daß ich meine Studien an Kants Universität fortsetzte. Der Wechsel von der leichtlebigen
Stadt Freiburg zu dieser grimmigen Stadt in Ostpreußen war für mich nicht nur ein klimatischer Schock. Er veränderte meinen Lebens- und Studierstil, und er veränderte mich persönlich. Die Familie meiner Freundin hatte sich eine Wohnung am Stadtrand gemietet, und für mich mieteten sie ein Zimmer im Haus nebenan. Mir war, als kehrte ich nach Hause zurück. Ida und ich machten dort weiter, wo wir uns getrennt hatten und setzten unsere vertraute Intimität fort. Doch es stellte sich bald heraus, daß sie nur eine Ersatzfunktion hatte. Ida verbarg nicht, daß sie heiraten und Kinder bekommen wollte. Dennoch behauptete sie, mich immer noch zu lieben. Ich war mir nicht sicher, ob sie unsere gemeinsam verbrachte Zeit wirklich genoß oder nur so tat als ob. Einige Wochen lang trafen wir uns täglich, und dann wußte ich, daß es falsch gewesen war, eine Beziehung wieder aufzunehmen, die wir besser in guter Erinnerung behalten hätten. Daraufhin vermied ich es, mit ihr allein zu sein und zog die Gegenwart anderer vor. Ich wandte mich ihrem jüngeren Bruder zu, der Mitglied der Zionistischen Bewegung, die eine ihrer Hochburgen in Königsberg hatte, geworden war.
Ich wurde alsbald eine Musterstudentin, die regelmäßig die vorgeschriebenen Veranstaltungen in Zoologie, Biologie und Botanik besuchte. Ich wollte das Physikum mit fliegenden Fahnen bestehen - was mir in der vorgeschriebenen Zeit auch gelang.
Kant hatte dieser Universität seinen Namen gegeben, aber man fand keinen kongenialen Nachfolger, weder in der Philosophie noch in irgendeinem anderen Wissenschaftszweig. Doch die Erinnerung an ihn verlieh dieser Ausbildungsstätte immer noch Glanz. Ich hatte Kants Bücher im Alter von 14 oder 15 Jahren gelesen. Auf meinem Schreibtisch hatte ich die Arbeiten dreier philosophischer Giganten gestapelt: Kant aus Königsberg, Schopenhauer aus Danzig, Spinoza aus Amsterdam. Inzwischen war zu jedem von ihnen für mich eine fast persönliche Bindung gewachsen. Ich studierte an der Universität, die Kant berühmt gemacht hatte, war oft an Schopenhauers Geburtshaus in der Heilig-Geist-Gasse in Danzig vorbeigegangen und fühlte mich innerlich Spinoza stets verbunden, dem jüdischen Philosophen und Diamentenschneider. Mein Studium bei Husserl und Heidegger hatte meine persönliche Verbindung zu ihm vertieft. Diamanten sind von vortrefflicher Reinheit, und genau dies galt durchweg für Spinozas moralische Lehre.
Gleichzeitig interessierten mich in Königsberg aber auch andere Dinge. Ich fühlte mich der Familie meiner Freundin sehr nahe, die mich als eine der ihren behandelte. Sie waren Zionisten wie die meisten Juden, die Rußland während der Pogrome im Jahr 1905 verlassen hatten. Sie waren »gebrannte Kinder« und hatten gute Gründe, sich nach einem Heimatland zu sehnen - Palästina. Beide, die ältere und die jüngere Generation russischer Immigranten, bildeten das Zentrum der zionistischen Bewegung in Deutschland. Sie hatten sich hauptsächlich in Königsberg und Danzig niedergelassen. Unter den Angehörigen der älteren Generation gab es viele Kaufleute, und diese beiden Städte, Zentren des Handels mit Osteuropa und Rußland, hatten sie sich bewußt als neue Heimat ausgewählt. Aber ihre Kinder erlernten neue Berufe. Immer schon legten die Juden den größten Wert auf eine gute Ausbildung für ihre Kinder. So ist es nicht verwunderlich, daß eine beträchtliche Anzahl der Königsberger Studenten aus russisch-jüdischen Elternhäusern stammten. Andere Jugendliche wiederum wandten sich dem Bankwesen zu oder machten eine handwerkliche Lehre, um sich auf ihr neues Leben in Palästina vorzubereiten; und schließlich gab es junge Männer und Frauen, die aus eben diesem Grund auf dem Lande arbeiteten. Sie durchbrachen die Barrieren beruflicher Einschränkungen, unter denen die Juden jahrhundertelang gelitten hatten. Diese Barrieren fielen nicht zufällig in der Weimarer Republik; die jungen Zionisten der 20er Jahre brachen mit einem Tabu und bereiteten das Israel der 40er Jahre vor.
Die Zionistische Gruppe in Königsberg repräsentierte einen Querschnitt verschiedenster Berufe. Alle Juden waren bei den zionistischen Treffen willkommen, ob sie nun der Organisation angehörten oder nicht. Mich beeindruckte der Idealismus und das Sendungsbewußtsein dieser Zionisten. Sie durchlebten aufs Neue den Exodus der Juden aus ihrem Heimatland, der im Alten Testament so poetisch beschrieben wird: »An den Wassern von Babylon setzten wir uns nieder und weinten.« Ich bewunderte ihren Glauben an sich selbst und an eine bessere Zukunft, doch der Zionismus blieb für mich eine romantische Idee. Wie seltsam, daß es mir zu dieser Zeit überhaupt nicht in den Sinn kam, ich könnte in demselben Boot sitzen wie sie! Solch mangelndes Bewußtsein ist ein weiterer Beweis für den Selbstschutz, für die Scheuklappen, die Menschen daran hindern, ihre eigene, wenig schmeichelhafte Situation zu durchschauen. Heute wünsche ich mir oft, ich hätte diesen eingeengten Blickwinkel schon damals ablegen können. Das hätte mich von der falschen Vorstellung befreit, Deutschland sei mein Land. Ich konnte mich nicht als ein Außenseiter fühlen, wie es diese Zionisten taten. Obwohl ich gern bei ihnen war und ihre Begeisterung mich ansteckte, schloß ich mich ihnen nicht an, denn ich wähnte mich sicher. Niemandem, der sich diese jungen Zionisten ansah, konnte die Veränderung des jüdischen Typs entgehen. Männer und Frauen arbeiteten gleichberechtigt Hand in Hand. Ich kannte jüdische Mädchen, die sowohl studierten, als auch auf einem Bauernhof arbeiteten. Wie gesund und stark sie waren, wie wenig sie sich um die konventionellen jüdischen Vorstellungen von Weiblichkeit scherten! Sie waren die Avantgarde der Frauenbewegung. Diese jungen Zionisten können als revolutionäre Wegbereiter eines neuen Israels gelten, das die Wüste zum Blühen brachte und Wissenschaft und Menschlichkeit eine neue Heimat gab.
Obwohl ich mich nicht mit den Zionisten identifizieren konnte, hatte ich ihre Überzeugung wahrscheinlich unbewußt akzeptiert, denn ich erinnerte mich lebhaft an sie, als auch für mich die Zeit kam, mir ein neues Heimatland zu suchen. Die Art wie sie lebten, trug damals schon- lange vor den Juden der heutigen Generation- dazu bei, die karikaturhafte Vorstellung über »den Juden« zu ändern, eine Vorstellung, die für die Erniedrigung der Juden und einen Gutteil des Antisemitismus verantwortlich war.
Meine Eltern waren enttäuscht, als ich meinen Aufenthalt in Königsberg bereits nach zwei Semestern wieder beendete. Sie hatten sich gefreut, mich in der Nähe von Danzig zu wissen, doch ich versprach ihnen, sie regelmäßig während der Ferien zu besuchen. Ich war von einem Ende Deutschlands zum anderen gereist, um einem Ruf aus der Vergangenheit zu folgen, der mir das Wiederaufleben einer intimen Freundschaft und eine Umgebung versprach, die mir lieb und vertraut war - das Milieu russischer Juden. Doch meine Begeisterung verblaßte unter der verhaltenen Ablehnung meiner Freundin Ida, und jetzt wollte ich so weit fort wie möglich. Ich faßte den Plan, an eine andere Universität in Süddeutschland zu gehen, um mich auf mein Studium zu konzentrieren und vielleicht neue Freunde zu finden.
Bevor ich wieder gen Süden fuhr, stattete ich meinen Eltern einen längeren Besuch ab. Es war eine Zeit des Ausruhens und Nachdenkens. Mein alter Widerwille gegen den Beruf meines Vaters und das Temperament meiner Mutter kehrten wieder. Wie früher fühlte ich mich ihnen sehr fremd. Damals hatte ich mir sogar manchmal vorgestellt, ich wäre ein Findelkind, weil ich nicht glauben mochte, daß ich die Tochter dieser Menschen war, deren Interessen und Wertvorstellungen sich so fundamental von den meinen unterschieden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich auf die Suche gemacht nach einer neuen Familie in einer anderen Welt. Unerfüllte Bedürfnisse machen Menschen ruhelos, und sie kehren ihren morbiden Blick nach innen. Ich jagte den Schmetterlingen meiner Phantasie nach und gab mich viele Jahre lang Illusionen hin - was, wenn man es nur zeitweilig macht, keine schlechte Sache ist.
Meine Versenkung in philosophische Texte war während meiner Schulzeit zunächst hauptsächlich Flucht, wurde aber später lebensbestimmend. Das zwanghafte Bedürfnis, Gedichte zu schreiben, folgte demselben Muster, doch wurde es von einer anderen Quelle gespeist. Kreative Regungen sind in uns allen vielleicht angeboren, von mir ergriffen sie wie ein körperliches Bedürfnis Besitz. Wir wissen nichts darüber, welche Impulse den Geist zwingen, inneren Rhythmen zu lauschen und Bilder in Poesie umzusetzen. Dies war das wirkliche Leben für mich. Es verschaffte mir Befriedigung, obwohl ich unter dem Auf und Ab zwischen Euphorie und Depression litt, den notwendigen Begleitumständen kreativer Bemühungen. Doch der Geist muß auch von außen gespeist werden, und was kann erfüllender sein als gegenseitige Liebe? Die späteren Gedichte, die ich schrieb, waren ausnahmslos Liebesgedichte. Poesie ist naturgemäß oft schwärmerisch und das Ergebnis halb oder gar nicht erfüllter Sehnsüchte nach erfahrenen oder vergangenen Dingen. Meine Muttersprache war Deutsch. Die Bilder in meinem Geist wurden in mir geweckt durch deutsche Menschen, deutsche Bücher. Ich wußte damals noch nicht, daß es einen grundlegenden Unterschied gab zwischen deutschen Nicht-Juden und deutschen Juden. Ich wußte damals noch nicht, daß mir eines Tages der Boden, auf dem sich meine Begabung entwickelte, unter den Füßen weggezogen werden würde, daß ich eine Illusion lebte.
Die meisten meiner Gedichte waren Liebesgedichte für Frauen. Mein Gefühl, daß Liebe eine Sache ist, die sich nur zwischen Frauen abspielt, entsprach meiner festen Überzeugung, solange ich mich erinnern kann. Diese Sicherheit änderte sich nicht, obwohl ich klar erkannte, daß dies meine Art zu lieben war, und sie sich von der vieler anderer Menschen unterschied. Obwohl ich nie eine unkontrollierbare Sehnsucht nach irgend einem Mann empfand, hatte ich zu vielen eine platonische Beziehung, manche davon stark emotional gefärbt. Da war mein Gefühl für meinen Cousin Leo, den Musiker, mit dem ich mein Interesse für Poesie teilte und der ebenfalls Medizin studierte. Aber ich vergaß ihn sofort, als ich mich in eine Frau verliebte. Etiketts wie »lesbisch«, »hetero«- oder »homosexuell« hatten in meiner Welt keinen Platz. Selbst als ich die Arbeiten von Krafft-Ebing, Magnus Hirschfeld und anderen studiert hatte, wandte ich solche Begriffe niemals auf mich selbst an. Nachdem ich jetzt die letzten 15 Jahre über menschliche Sexualität geforscht habe, erkannte ich, wie richtig meine Ablehnung solcher Etiketts gewesen war. Ich konnte in meiner sexologischen Forschung nachweisen, daß alle gesellschaftlich definierten sexuellen Kategorien falsch und unsinnig sind.
Aber zurück zu meiner Studentenzeit. Nachdem ich mich entschlossen hatte, Königsberg zu verlassen, wählte ich Tübingen als nächste Station. In dieser Wahl lag mehr als eine geographische Vorliebe. Mein Cousin Leo hatte sein Medizinstudium in dem nicht allzu weit entfernten Heidelberg fast abgeschlossen. Er fühlte sich dort sehr wohl, weniger als Medizinstudent, als vielmehr in seinem Freundeskreis von Künstlern und Schriftstellern um Stefan George. Ich wollte das Leben meines Cousins nicht teilen, lehnte daher seinen Vorschlag, mein Studium in Heidelberg fortzusetzen, ab und ging stattdessen nach Tübingen. Aber Besuche zwischen den beiden Universitäten waren eingeplant, und das war mir sehr recht.
Ich brauchte das Alleinsein als Lebensform. Mit Tübingen verband ich den Namen Hölderlin, dessen Gedichte ich auswendig wußte. Seine Gedichtbände hatten zusammen mit denen von Rilke und Trakl neben den philosophischen Bänden zu Hause auf meinem Danziger Schreibtisch gelegen.
Hölderlin, Hegel und Schlegel hatten gleichzeitig im Augustiner Konvent in Tübingen studiert. Während sie sich am Seminar mit Theologie und Philosophie beschäftigten, wurden sie Freunde. Der kleinen Stadt war es gelungen, sich Architektur und Atmosphäre des Mittelalters zu bewahren. Man hatte den Eindruck, hier stünde wirklich die Zeit still. Der Neckar teilte den im Tal gelegenen Stadtteil von dem auf einem Hügel. Eine von Platanen umsäumte Straße führte am Fluß entlang, auf dem die Studenten ruderten. Die Schönheit und das milde Klima dieser Stadt waren Balsam für meine Nerven. Eine weitere Attraktion lag darin, daß ich von hier aus den württembergischen Teil des Schwarzwaldes erreichen konnte. Und häufig mietete auch ich mir ein Boot und ruderte den Neckar entlang, oder ich machte eine Wanderung mit Biwak und Zelt durch den Schwarzwald.
Tübingen war eine glückliche Wahl. Die medizinische Ausbildung in der alten Universität genoß einen guten Ruf. Professor Ernst Kretschmer, dessen Buch »Körperbau und Charakter« als Pionierwerk der psychosomatischen Typenlehre gilt, war der Direktor der psychiatrischen Abteilung. Professor von Möllendorf unterrichtete Embryologie, damals ein neuer Zweig der Medizin; auch er leistete wesentliche Beiträge zu seinem Fach. Er beeindruckte mich sehr. Von kleiner Statur und mit blassem Gesicht, traurigen, braunen Augen und weißem Haar, trug dieser junge Gelehrte doch den kreativen Funken in sich, der die großen Gelehrten auszeichnet. Er war ein ebenso hervorragender Lehrer wie unser Dozent in Anatomie, Professor Fischer. Wenn dieser Vorlesungen über den menschlichen Körper hielt, war das Auditorium Maximum zum Bersten gefüllt. Er ließ uns Studenten aktiv am Unterricht teilnehmen, indem er uns aufforderte, seine Zeichnungen an der Tafel zu kolorieren. Muskeln wurden blau eingezeichnet, innere Organe rot, Knochen gelb, usw. Auf diese Weise machten uns Studenten die Anatomievorlesungen Spaß. Diese
beiden Männer beherrschten die Kunst des Unterrichtens und gaben uns eine gute Grundlage für das Examen. In Tübingen hatte ich ebenso viel Glück wie in Freiburg: Jede Stadt bot mir verschiedene Möglichkeiten, beide erweiterten meinen Horizont und bereicherten mich um Freundschaften. Ich lebte in Freiheit, ohne kämpfen oder mich behaupten zu müssen. Doch ich werde niemals wissen, ob ich mein Glück den Menschen verdankte, mit denen ich mich umgab, oder den Lebensbedingungen in der Weimarer Republik. Wahrscheinlich war es eine Mischung von beidem.
Einmal ging ich mit zwei Kommilitonen, Lichtenstein und Mendersohn, im Schwarzwald wandern. Die beiden waren Wandervögel und kannten sich aus, wie man lange Marschtouren einteilt und angenehm macht. Wir trafen uns, mit Rucksäcken ausgerüstet, am Tübinger Bahnhof, und nach einer Stunde Zugfahrt befanden wir uns am Anfang unserer Tagestour. Dies war das erste Mal, daß ich einen ganzen Tag lang Hügel auf, Hügel ab in der Begleitung von zwei Studenten, die ich kaum kannte, wanderte. Wir hatten unser Tempo bald aufeinander eingestellt. Lichtenstein konnte es nicht lassen, eine Pfeife zu rauchen, doch lachend ließ er es geschehen, daß Mendersohn und ich sie ihm abnahmen. Die beiden Männer machten unterwegs ein Feuer, und nach einer Mahlzeit und einer kurzen Rast ging es wieder weiter, bis wir den hübschen Kurort Freudenstadt erreichten. Ich war totmüde, schlief im Hotel und überließ meine beiden Begleiter sich selbst. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Zug zurück nach Tübingen, während sie sich zu Fuß auf den Rückweg machten. Wir drei hatten mehr erlebt als einen Spaziergang durch den Schwarzwald: die Natürlichkeit einer Kameradschaft zwischen Frau und Mann. Keine Affektiertheit, kein falscher Ton hatte die gemeinsam verbrachte Zeit gestört. Es gab keinen Hinweis darauf, daß die Unterscheidung in ein »stärkeres« und ein »schwächeres« Geschlecht eine Rolle spielte. Ich hatte mich frei gefühlt. Es war, als hätte ich Wasser direkt aus der Quelle getrunken.
Erst am Ende des zweiten Tübinger Semesters wurde meine ausgeglichene Zufriedenheit gestört. Wir Studenten nahmen unsere Mahlzeiten in billigen, überfüllten Restaurants ein. Es gab zwei davon in unmittelbarer Nähe der Universität. Eines Tages saß ich mit anderen Studenten, die ich nicht kannte, an einem Tisch. Da kam eine rothaarige, abgehärmt aussehende Serviererin zu uns, nahm von allen die Bestellungen entgegen, doch bevor ich meine aufgeben konnte, funkelte sie mich an und schrie: »Sie bediene ich nicht«. »Wie bitte?«, fragte ich. Sie antwortete nicht. Die anderen Studenten starrten sie an, ebenfalls verwirrt. Einer sagte: »Sie ist neu, ich glaube sie ist verrückt«. Ich stand auf und ging in das andere Restaurant in der Straße. Doch dieses Erlebnis erschütterte mich. War dies meine erste Begegnung mit dem Antisemitismus? Vielleicht, aber ich war mir nicht sicher. Diese junge Frau konnte auch einen Groll gegen jemand anderen auf mich übertragen haben. Ich fand die Antwort nicht, stellte aber fest, daß mir dieses Ereignis einen Schlag versetzt hatte: Ich war abgelehnt worden, weil ich anders war. Die heitere Gelassenheit, die ich in Tübingen empfunden hatte, war dahin. Ich hatte ohnehin geplant, wieder die Universität zu wechseln, aber jetzt hatte ich es eilig abzureisen.
Berlin war die Stadt, die ich mir aussuchte, um mein Examen zu machen. Ein Berliner Abschluß war für die weitere Berufslaufbahn, nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland günstig. Abgesehen davon war Berlin damals der Mittelpunkt des kulturellen Lebens in Deutschland. Unzweifelhaft verdankte es sehr viel den Leistungen des Bauhauses in Dessau. Das Bauhaus war das Zentrum der progressiven Kunst. Abstrakte Bilder waren von Kandinsky und anderen bereits gemalt worden, lange bevor es seine Tore öffnete, und auch Experimente in der Kombination von Bewegung und Skulptur hatte es vorher schon gegeben. Doch in der Weimarer Republik erlebten die progressiven Künstler internationale Anerkennung. Das Bauhaus beherbergte eine internationale Gemeinde, die der Architektur und dem Kunsthandwerk ein neues Gesicht verleihen sollte. Doch Berlins magnetische Anziehungskraft als Metropole der neuen Republik spiegelte diese progressiven neuen Leistungen nicht nur wider; die Stadt hatte eine besondere Anziehungskraft durch ihre Toleranz, die progressiv-politische und auch sexuelle Außenseiter anlockte.
Die Inflation, die Deutschland zugrunde richten sollte, hatte ihre ruinösen Ausmaße noch nicht erreicht. Noch konnten mich meine Eltern finanziell unterstützen. Ich hatte immer die Gelegenheit wahrgenommen, die weitere Umgebung meiner Universitätsstädte zu erkunden und zögerte daher nicht, einer Einladung meines Cousins zu folgen und ihm vor meinem Weggang nach Berlin in Heidelberg einen Besuch abzustatten. Es war eine wunderschöne Zeit. Der Neckar fließt durch die hübsche Universitätsstadt, kurz bevor er in den Rhein mündet. In der Nähe von Heidelberg liegt Neckargemünd, ein Ausflugsort mit bewaldeten Hügeln, von denen man in ein breites grünes Tal hinabsehen kann, durch das der Neckar seinen gewundenen Kurs westwärts nimmt. Das kleine Städtchen war ein Feinschmeckertreffpunkt. Mein Cousin und ich gönnten uns hier köstliche Mahlzeiten, ohne uns darüber klar zu sein, daß diese glücklichen Tage nur eine kurze Gnadenfrist vor dem großen Desaster der Hyperinflation darstellten. Leo hatte vier Jahre an der Heidelberger Universität verbracht und sich bis zum Zeitpunkt meines Besuches in eine Art ästhetischen Eremiten verwandelt. Er stellte mich seinen Künstlerfreunden aus dem Kreis um Stefan George vor. Einer davon war der Dichter Weismann, ein junger Mann von beachtlicher Intelligenz, der mit Hölderlinähnlichen Reimen nur so um sich warf. Unglücklicherweise bewegte er sich auf dieselbe Krankheit zu, unter der Hölderlin gelitten hatte - Schizophrenie. Doch bei meinem Besuch war er immer noch wie ein Feuerwerk, er explodierte vor Liebe und Poesie, erfreute damit seine Freunde und beunruhigte sie gleichzeitig.
Eines Tages fuhren wir drei nach Mannheim, um einer der letzten Vorlesungen von Rudolf Steiner beizuwohnen. Er sprach wohl zwei Stunden lang über die Grundsätze seiner Lehre, aber ich kann mich nicht an ein einziges Wort von ihm erinnern. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihn, einen kleinen Mann mit bleichem Gesicht, sehr hohen Augenbrauen und leuchtenden Augen. In unserem Wortschatz fehlte damals noch der Begriff Charisma; Steiner hatte es in einem Ausmaß, wie es mir noch nie zuvor begegnet war. Die Halle war bis auf den letzten Platz besetzt, und man konnte körperlich fühlen, wie dieser Mann alle Anwesenden in Bann schlug. Wirklich, er hatte eine Aura, diese recht mysteriöse Ausstrahlung, die einige besondere Menschen auszeichnet. Der Abend regte mich dazu an, seine Bücher zu lesen, die jedoch weit hinter meinem persönlichen Eindruck von ihm zurückblieben. Seine Philosophie ist durchaus ernstzunehmen. Doch er war unfähig, sich schriftlich auszudrücken, und das minderte den Einfluß, den er hätte ausüben können. Seine Bücher sind nicht nur langweilig, sondern setzen ihn auch dem Verdacht der Scharlatanerie aus. Das bedeutendste Ereignis meines Besuches in Heidelberg war jedoch das Zusammentreffen mit Jula Cohen, einer engen Freundin meines Cousins. Sie war Bildhauerin und lebte in einer Atelierwohnung in der Nähe des Heidelberger Schlosses. Die zierliche Frau bewegte sich sanft und vorsichtig, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Durch ein Lorgnon mit einem langen Ebenholzgriff betrachtete sie ihre Umwelt. Auf Grund ihrer starken Kurzsichtigkeit hielt sie den Kopf immer leicht gebeugt, so daß man nie genau wußte, ob ihre Gedanken bei den Besuchern verweilten oder ganz woanders waren. Doch ihre kleinen, tiefliegenden Augen beobachteten jede Geste und jeden Ausdruck ihres Gegenübers genau. Ihr Kopf war zu groß für ihren kleinen Körper, so daß er alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Feinheit ihrer ganzen Persönlichkeit konnte man an ihrer zarten Haut, ihren Händen und ihrer edel geformten Nase erkennen. Ihre Mundwinkel bewegten sich, wenn sie mit einem sprach oder sich über etwas lustig machte, auf und ab und verrieten ihren Sinn für Humor und eine gute Portion Zynismus. Doch die Ehrfurcht, die man bei ihrem Anblick empfinden zu müssen glaubte, wurde gemildert durch die zahllosen Sommersprossen auf Gesicht und Händen, die ihr Aussehen dem von Normalsterblichen ähnlicher machte. Dieses körperliche Merkmal betonte ihr lustiges, clownhaftes Verhalten, das sie gern an den Tag legte, wenn die Unterhaltung intensiver wurde. Sie hatte schon als Kind ihre Eltern verloren, und ihr einziger Bruder war ihr Ausgleich für die Einsamkeit eines zerbrechlichen Mädchens gewesen. Die beiden liebten sich wie Zwillinge. Sie machte einen »hellwachen« Eindruck, mit dem sie Intellektuelle und Künstler anlockte. Kein Wunder, daß sie eine der »Auserwählten« war, die dem großen Stefan George und seinem Interpreten, Professor Friedrich Gundolf, nahegekommen war. Eine »Frau mit Eigenschaften«, nannte sie mein Cousin.
Das Wort Elite war damals noch nicht abgenutzt. An der Spitze der elitären Hierarchie standen Dichter und Philosophen, und ihre Bewunderer hatten ein Anrecht darauf, in ihren magischen Zirkel aufgenommen zu werden. Die Ungleichheit der Menschen kann nicht durch Wunschdenken weggefegt werden. Es überraschte mich nicht, daß die Angehörigen dieser Elite eine Art telepathischer Wahrnehmung füreinander hatten. So wußte ich damals noch nicht, wieviel Glück ich hatte, als Jula mir vorschlug, mich ihrem engen Freund, Walter Benjamin, vorzustellen. Dies bedeutete, daß ich von ihr und ihrem Kreis akzeptiert wurde. Benjamins Name hatte bereits den Klang des Auserlesenen, doch ich hatte keine Vorstellung von seiner Bedeutung, bevor ich ihn traf.
Zirka zwei Monate nach meinem Besuch in Heidelberg ging ich an die Berliner Universität. Die Inflation klopfte bereits laut an Deutschlands Tür, doch meine Eltern brachten es immer noch fertig, meine Studiengebühren und Unterhaltskosten aufzubringen. Sie warnten mich jedoch, sehr sparsam zu leben, da die Preise Woche für Woche immer steiler in die Höhe schnellten. Ich war keine Fremde in Berlin. Jedesmal, wenn ich Lisa besucht hatte, waren ihre Freunde immer mehr auch zu meinen Freunden geworden. Die Arinsteins, bei denen ich zunächst übernachtete, baten mich, ihr Gast zu sein, bis ich eine mir angenehme Bleibe gefunden hatte. Auf diese Weise kam ich in Lisas Bekanntenkreis zurück. Da war Willy Jaeckels Schülerin Hella A., die schon jahrelang in den Meister verliebt war, und die nie das Haus verlassen konnte, weil sie den ganzen Tag auf einen Telefonanruf von ihm wartete. Von ihr und ihrer Mutter erhielt ich die Einladung, sie jederzeit zu besuchen, eine Gelegenheit, die ich fast täglich wahrnahm, so daß ich bald schon Teil ihres Haushalts wurde.
Die aufregendste Zeit meines Studentenlebens begann. In der Atmosphäre der 20er Jahre atmete man die Luft von Freiheit und Toleranz. Welche sinnlichen und emotionalen Bedürfnisse man auch immer hatte, hier wurden sie befriedigt. Der verlorene Krieg und die jetzt auftretende Hyperinflation machten die Menschen ganz wild darauf, ihr Leben in vollen Zügen zu genießen. Es war der berühmte Tanz auf dem Vulkan. Zu keiner anderen Zeit hatte es ein solch kreatives Verlangen unter den deutschen Künstlern und Denkern gegeben. Die Kultur stand in voller Blüte, während das Land in den Abgrund taumelte. Es war die Zeit des Überschwanges erotischer Vergnügungen und intellektueller Spaße, mit denen Theaterstücke, Chansons und Cabarets gewürzt wurden. Das »intime« Theater mit seinen Musicals und Revuen erreichte eine Qualität, wie zu keiner Zeit vorher oder nachher. Und ich war dabei und konnte all das erleben! Der Himmel war nicht irgendwo über uns, sondern hier auf Erden, in der deutschen Hauptstadt. Was für die einen den Himmel bedeutet, ist für die anderen die Hölle, und die Kräfte der Zerstörung um uns herum machten uns nur noch hektischer. Die Weimarer Republik gab Künstlern und Intellektuellen eine Chance, aber sprach die Masse des Volkes nicht an. Die Deutschen wußten nicht, woran sie waren, und ihr Unmut gegen Fortschritt und Freiheit wuchs. Rathenau war ermordet worden, bald würde Hitler kommen... Einige Intellektuelle erkannten die Zeichen der Zeit, haßten es jedoch, durch die polternde Unzufriedenheit der »Spießbürger« gestört zu werden. Andere wiederum sahen entweder das sich nähernde Unheil nicht, oder wollten es nicht wahrhaben. Sie hatten alles, was sie sich nur wünschen konnten und hielten bis zum bitteren Ende daran fest. Ich nutzte meinen Vorteil und nahm die Angebote Berlins wahr. Was ich erleben und erfahren wollte, waren Liebe, Vergnügungen, Wissen und enge Freundschaften.
Als ich mit den Benjamins telefonierte, hatte ich noch keine Ahnung, daß ich die meisten dieser »Güter« durch sie finden würde. Walter und Dora empfingen mich warm und gastfreundlich. Sie brauchten zu diesem Zeitpunkt ihrer Ehe eine dritte Person und betrachteten mich als die rechte »Vermittlerin«. Es machte mir Freude, diesen Platz einzunehmen, und ich fühlte mich sofort zu ihnen hingezogen. Sie bewohnten ein schönes Haus in der Dellbrückstraße 23 im Grunewald. Es hatte Walters Eltern gehört und bot all die Annehmlichkeiten, die eine reiche Familie der Bourgeoisie sich leisten konnte. Walter und Dora führten jedoch alles andere als ein bourgeoises Leben, auch hatten sie gar kein Geld für einen solchen Luxus. Wir drei machten uns über den Widerspruch zwischen ihrem Lebensstil und ihrer Umgebung lustig. Walter war
derjenige, der sich über die finanzielle Unsicherheit am meisten Sorgen machte. Er tat alles in seiner Macht Stehende, um eine Dozentenstelle an der Universität Frankfurt zu bekommen, doch sie wurde ihm verweigert, weil er Jude war. Mit einem Grinsen erzählte er mir, er sei nichts weiter als ein Privatgelehrter.
Dora meisterte alles spielend leicht. Schon durch ihr auffälliges Aussehen war sie auf eine überwältigende Weise stets präsent. Doch mehr als das: Diese blonde Jüdin mit den leicht hervortretenden Augen, einem scharfgeschnittenen Mund und vollen roten Lippen, strahlte Vitalität und Lebensfreude aus. Dora mochte mich sehr und stellte mich ihren zahlreichen Freunden vor - zum größten Teil Männer, die in sie verliebt waren. Sie war eine begabte Journalistin und arbeitete als freie Mitarbeiterin für einen großen Verlag. Walter und Dora führten ihr Leben jeder für sich, denn sie hatten sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Zufällig teilte ich die Interessen beider, doch mit Walter hatte ich den engeren Kontakt. Dora war das offensichtlich sehr recht, denn meine häufigen Besuche boten ihr die Gelegenheit, eigene Wege zu gehen.
Walter und ich saßen uns meist an einem langen Eichentisch gegenüber, der mit seinen Manuskripten bedeckt war. Die Wände seines Zimmers verschwanden hinter Bücherregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Nur an der Rückwand war eine größere Stelle offengelassen: Dort befand sich Walters Lieblingsbild- der »Angelus novus« von Paul Klee. Er hatte eine persönliche Beziehung zu diesem Bild, als wäre es ein Teil von ihm. Ich fand es zunächst nicht besonders schön, schätzte jedoch die Sensibilität dieser scheinbar anspruchslosen Geometrie. Mit der Zeit aber begriff ich, daß es in seiner Komposition und seiner »Ansprache« eine solche Klarheit zum Ausdruck brachte, wie sie für den kreativen Prozeß kennzeichnend ist. Daraufhin verstand ich, warum Walter seinen »Angelus novus« liebte. Klee, der sensible Visionär, übte auf den Visionär Walter Benjamin einen besonderen Reiz aus.
Walter war der geborene Poet, und es war unvergleichlich aufregend, sich mit ihm zu unterhalten. Er entführte mich in die jungfräuliche Welt der Erfahrungen aus erster Hand. Sogar bekannte Dinge zeigten sich in neuem Licht, wenn er von ihnen sprach. Aber wir führten nicht nur intellektuelle Gespräche. Er liebte es, mich von meinen Abenteuern und Affären erzählen zu lassen, und erwiderte meine Bekenntnisse, indem er von seinen eigenen Emotionen sprach. Er war ein Romantiker und ein ausgeprägter Gefühlsmensch. Hinter seinen Arbeiten stand immer eine Person, die er liebte. Er hatte Gedichte geschrieben und übersetzte Baudelaires »Les Fleurs du Mal«. Im Jahr 1924 erschienen seine Übersetzungen Seite an Seite mit meinen in »Vers und Prosa«, einer im Rowohlt-Verlag herausgegebenen Monatszeitschrift. Die beiden Jahre, in denen ich Benjamin kennenlernte, gehören zu den wichtigsten meines Lebens. Gleich zu Beginn unserer Freundschaft erhielt ich einen Einblick in seine Originalität als Denker, als er mir ein Kapitel nach dem anderen seines Essays über die »Wahlverwandtschaften« vorlas. Inzwischen ist Walter Benjamin international anerkannt, und dieser Aufsatz gilt als ein Meisterwerk. Ich erfuhr von ihm, daß diese Arbeit durch eine Frau inspiriert wurde, die er liebte: die Bildhauerin Jula Cohen, die mich ihm vorgestellt hatte.
Walter war nicht nur einer der klügsten Köpfe des Jahrhunderts, er war auch ein wundervoller Freund. Und tatsächlich war Freundschaft für ihn das Wichtigste. Er war an meiner Seite, wann immer ich ihn brauchte. In den Jahren 1923/24 hatte die Inflation astronomische Ausmaße erreicht, und meine Eltern konnten nicht länger für mich sorgen. Mein Onkel Josef half noch eine gewisse Zeit aus, aber schließlich verlangten meine Eltern, ich solle mein Studium aufgeben und nach Hause zurückkehren. Ich hatte nicht die geringste Lust dazu und arbeitete hart, um Geld zu verdienen, indem ich ausländischen Studenten Deutschunterricht erteilte. Doch das reichte nicht aus, um mich über Wasser zu halten. Walter und Dora entschlossen sich, mir zu helfen. Walter schlug mir vor, mit mir nach Danzig zu fahren, um meine Eltern zu überzeugen, daß mein Studium nicht unterbrochen werden durfte. Walters Argumente waren so überzeugend, daß meine Eltern hilflos nachgaben, weil sie ohnehin nicht wußten, was sie sonst tun sollten. Er versicherte ihnen, daß er und seine Frau jeden Stein umdrehen würden, um mich das letzte Jahr an der Universität durchzubringen. Doch die Dea ex Machina war Dora Benjamin. Sie überredete einen holländischen Arzt, mich mit einem Stipendium in Gulden zu fördern. So konnte ich mein Studium fortsetzen, das ich durch den Zwang zum Geldverdienen hatte vernachlässigen müssen.
Ich lernte Walters Persönlichkeit in Danzig von einer neuen Seite kennen. Er überraschte mich nicht nur durch seine geschickte Argumentation meinen Eltern gegenüber, er war auch lebhafter als sonst und wollte die Schönheiten Danzigs kennenlernen, von denen ich ihm erzählt hatte. Außerdem brannte er darauf, das Kasino in Zoppot zu besuchen, um Roulette zu spielen. Ich war dort schon einige Male recht erfolgreich gewesen und hatte Lust dazu, es noch einmal zu wiederholen. Und so nahmen wir den Zug und fuhren nach Zoppot. Walter war glänzender Laune und sah aus wie ein Mensch, der bereit war, etwas aus dem Ärmel zu schütteln. Ein Gewinnsystem? Ich kann mich nicht daran erinnern, ob einer von uns etwas gewann, aber wir genossen die Atmosphäre innerhalb und außerhalb des Kasinos. Wir gingen auf Zoppots langem Pier spazieren, beobachteten die Fischer, die ihre Boote an Land brachten und sahen hinüber nach Gdingen am anderen Ende der Bucht. Gdingen, jetzt polnisches Territorium, war damals ein beliebtes Ausflugsziel. All das kannte ich seit Jahren, aber mit Walter sah ich es neu. Dieser linkische und gehemmte Mann, den man sich viel eher an einem Schreibtisch als an der frischen Luft vorstellen konnte, benahm sich, als hätte man ihm etwas Wundervolles geschenkt. Alle Dinge waren ihm »neu«, und zu keinem Zeitpunkt erinnerte er mehr an ein Kind als in Zoppot. Er gluckste vor Lachen, und seine Augen, hinter Brillengläsern versteckt, glitzerten vor Vergnügen. Walter war ein ewiger Student mit ungeheurer Entdeckerfreude. Sein Geist erinnerte mich immer an einen Maulwurf, der ständig gräbt und nach etwas sucht, das darunter liegen könnte.
In Danzig und Zoppot erlebte ich Walter Benjamin als einen Menschen ohne Alter, für den das Leben zu einer Schatzsuche wurde, wenn seine Stimmung und die Umstände es erlaubten. Seine Erscheinung war einzigartig; er zeigte nicht das typisch männliche Verhalten seiner Generation. Und es gab eine Reihe von Merkmalen an ihm, die nicht mit dem Rest seiner Persönlichkeit übereinstimmten. Die rosigen Apfelbäckchen eines Kindes, das schwarzgelockte Haar und die feinen Augenbrauen ließen ihn reizvoll aussehen, doch manchmal war da ein zynisches Glitzern in seinen Augen. Auch seine dicken, sinnlichen Lippen, unter einem Schnurrbart schlecht verborgen, waren unerwartete Merkmale, die nicht zu ihm zu passen schienen. Seine Haltung und Gestik waren nervös und wenig spontan, außer wenn er von Dingen sprach, die ihn gerade sehr beschäftigten, oder von Menschen, die er liebte. Wenn er aufgeregt war, pflegte er im Raum auf und ab zu laufen, eine Angewohnheit, die einen nervös machen konnte. Seine spindeldürren Beine erweckten den traurigen Eindruck unterentwickelter Muskeln. Er gestikulierte kaum, sondern hielt seine Arme dicht am Oberkörper.
Walters andere Seite störte viele Leute und ließ sie ihn unsympatisch finden. Aber wir fühlten uns emotional sehr wohl miteinander, denn auch er hatte eine homo-emotionale Seite. Die Art, wie er über seinen Freund, den Dichter Heinle sprach, ließ keinen Zweifel an seiner Liebe für ihn. Er führte mir die klare und absolute Geisteshaltung seines Freundes vor Augen, als er mir von dessen gemeinsamem Selbstmord mit der Frau, die er liebte, erzählte. Beide waren davon überzeugt, daß eine Liebe wie die ihrige den Anforderungen des täglichen Lebens nicht standhalten würde. Walter stimmte mit ihnen vollkommen überein. Liebe und Tod waren Benjamins wichtigste Themen, mit denen er sich ständig beschäftigte. Er erlebte nie das quälende Gefühl der Eifersucht, weder in Bezug auf seine Frau, noch bei seiner geliebten Jula, die seine Gefühle nicht erwiderte.
Tat Walter nur so, oder war er wirklich so viel überlegener als die meisten Menschen, daß er auf die besitzergreifende Liebe verzichten konnte? fragte ich mich. Dora liebte seinen besten Freund, der das genaue Gegenteil von ihm war - ein intellektueller Dandy und Weiberheld. Doch die Intimität zwischen seiner Frau und seinem Freund brachte sein inneres Gleichgewicht nicht ins Wanken. Im Gegenteil: Sie brachte die beiden Männer einander näher. Nicht einmal die Tatsache, daß Jula seine Liebe nicht erwiderte, sondern leidenschaftlich den Mann begehrte, den Dora liebte, störte seine Freundschaft zu ihm nicht. Die Nähe zwischen diesen vier Menschen wurde durch nichts beeinträchtigt, und man kann sich nur
wundern, wie sehr Walters Leben Goethes »Wahlverwandtschaften« widerspiegelte. Kein Wunder, daß eine seiner besten Arbeiten dadurch inspiriert wurde. Die vier Menschen in diesem Quartett waren in einer Art emotionalem Inzest aneinander gebunden. Ihre leidenschaftlichen Gefühle überkreuzten sich, aber ihrer gegenseitigen Zuneigung tat das keinen Abbruch. Walter erinnerte mich auch an Rainer Maria Rilke, für den die Sehnsucht nach der Geliebten erstrebenswerter war als ihre Anwesenheit, die für ihn allzu oft eher eine Belastung als eine Freude bedeutete. Mir wurde klar, daß Benjamin nicht der Mann war, der körperliche Liebe lange ertragen konnte, sondern daß er eher an mittelalterliche Minnesänger erinnerte, denen sehnsüchtig-nostalgische Liebe alles bedeutete. Nicht umsonst beschrieb er ihre »Minne« so überzeugend in seinem Essay über Surrealismus. Es ist leicht, ihn zu idealisieren, doch er wäre der letzte, der das erlauben würde. Seine pedantische und gehemmte Art machte ihn zu einem Menschen, mit dem zu leben schwierig war. Sein Zynismus befremdete viele Bewunderer, doch wer ihn verstand, wußte, daß er sich verteidigen mußte, indem er sich die Leute vom Leib hielt. Eng befreundet war er nur mit wenigen Menschen, die ihm ähnlich waren. Zwei Aufsätze sind mir in Erinnerung, die davon zeugen, welch intensives Verständnis und Gefühl er für seine Freunde aufbrachte. In »Die Wiederkehr des Flaneurs« schrieb er unvergeßliche Worte über den Romanschriftsteller Franz Hessel, der auch mein Freund war; in einem anderen Essay beschrieb er den Dichter Karl Wolfskehl mit großer emotionaler Intensität.
Wolfskehl hatte ihm und Hessel eines seiner Gedichte vorgelesen, und er schilderte in diesem Aufsatz, wie es nur ein Dichter kann, die staunende Freude, die er empfunden hatte. Es war für ihn die Erfahrung einer Art geistiger Liebe gewesen, eine Ekstase, die ihm für immer im Gedächtnis blieb. Das erinnerte mich an die Freude, die er empfand, als ich ihm während unseres Besuches bei meinen Eltern zwei Bücher schenkte. Ich hatte ihn zu einem Wahrzeichen Danzigs mitgenommen, dem alten Stockturm, in dessen unterem Teil sich Buchantiquariate befanden. Dort hatte ich Kinderbücher aus dem 19. Jahrhundert gesehen, die in atemberaubenden Farben illustriert waren. Walter sammelte solche Bücher.
Die Bewunderung über den Stockturm und seine verborgenen Schätze brachte er mit den Worten zum Ausdruck: »Dies ist ein Kramladen des Glücks.« 25 Jahre nach diesem Ereignis kam mein Entzücken dem seinigen damals gleich, als ich in seinem in der »Literarischen Welt« 1926 erschienenen Aufsatz »Aussicht ins Kinderbuch« folgendes las: »Reine Farbe ist das Medium der Phantasie, die Wolkenheimat des verspielten Kindes, nicht der strenge Kanon des bauenden Künstlers«. Und er zitierte Goethe in demselben Aufsatz: »Die durchsichtigen Farben sind in ihrer Erleuchtung wie in ihrer Dunkelheit grenzenlos, wie Feuer und Wasser als ihre Höhe und ihre Tiefe angesehen werden kann.«
Walters persönliches Leben blieb steril und von Sehnsüchten bestimmt. Sein Ich war in seiner Arbeit, es wurde genährt durch Menschen, die er unerwidert liebte. Er hätte es nicht anders haben wollen. Ich bin davon überzeugt, daß der Schlüssel zu seinem Werk in der Erkenntnis liegt, daß er ein Dichter war, der sich zufällig auch als ein brillanter Philosoph und einer der bemerkenswerten Interpreten unserer Zeit herausstellte. Ich habe mich oft gefragt, ob zwischen interpretativer und kreativer Kunst letztlich ein großer Unterschied besteht. Beide beschäftigten sich mit dem gleichen Thema. Man muß dabei mit seinem äußeren und inneren Ohr zuhören, mit seinem äußeren und inneren Auge hinsehen, und dem, was man »gehört« und »gesehen« hat, Ausdruck verleihen. Die Formgebung des Materials macht den Unterschied zwischen guter und schlechter Kunst aus. Kunst ist nichts weiter als die Fähigkeit, Material zu formen, gleichgültig, ob man dieses Material aus seiner eigenen Phantasie gewinnt oder aus der eines anderen Menschen. Möglicherweise sind Agonie und Ekstase da reichlicher vorhanden, wo man das künstlerische Material aus dem eigenen Inneren hervorholt, doch man kann sich dessen nie sicher sein.
Meine Gedichte bereicherten nicht nur mein Leben, sie ebneten auch den Weg zu meiner Freundschaft mit Franz Hessel. Hessel war der Herausgeber der Zeitschrift »Vers und Prosa«. Er lud mich eines Tages ein, mit mir über die Veröffentlichung einiger meiner Gedichte zu sprechen. Ich traf ihn in seinem kleinen Wohn- und Schlafzimmer, ehemals das Zimmer des Dienstmädchens. Er zog es den anderen Räumen seiner großen Apartmentwohnung vor. Hessel sah aus wie ein Buddha, er lächelte sanft, sein runder Kopf war kahl. In seinem großen Gesicht, den braunen Augen, den vollen Lippen und seinem heiteren Ausdruck verband sich die Verinnerlichung östlicher Meditation mit dem Wesen eines französischen Gourmets. Als wir uns eine gewisse Zeit kannten, nannte ich ihn »Hessel, der Feinschmecker«, denn er war ein exzellenter Koch. Bei ihm fühlte man sich behaglich und geborgen wie bei einer fürsorglichen Mutter - genau das Gegenteil zu der Atmosphäre in Walter Benjamins Haus. Dieser verschwand nach und nach aus meinem Leben, während Hessel und ich uns näher kamen.
Enge Freundschaften pflegen leider dann meist auseinanderzubrechen, wenn Liebesangelegenheiten über alle anderen Dinge Priorität erhalten. Genau das geschah in der Beziehung zwischen Walter Benjamin und mir. Walter wurde durch eine russische Frau, in die er sich leidenschaftlich verliebte, in ein neues Leben hineingetrieben. Ich war eine intime Beziehung zu einem deutschen Mädchen eingegangen. Danach trafen wir uns nur noch selten, bis wir uns schließlich aus den Augen verloren - ohne jeden ersichtlichen Grund. Walter und Franz Hessel, die ich miteinander bekannt gemacht hatte, wurden enge Freunde. Sie arbeiteten bei der Übersetzung von Proust und Balzac ins Deutsche zusammen, eine Arbeit, die ihre Verbindung stärkte.
Hessel, einer der besten Romanschriftsteller in den 20er und frühen 30er Jahren, wurde ins literarische Exil gezwungen, als die Nazis an die Macht kamen. Seine Romane »Heimliches Berlin« und »Spaziergang durch Berlin« haben mehr als nur nostalgischen Charme, sie sind auch Dokumente der kulturellen Geschichte der Stadt. Sie wurden in den 60er Jahren neu verlegt, fanden aber wenig Echo in der deutschen Öffentlichkeit. Heute kennt man ihn hauptsächlich aufgrund seiner gemeinsam mit Benjamin erarbeiteten Übersetzung der Arbeiten von Proust und Balzac.
Anders Walter Benjamin. Seine Arbeiten waren zu seinen Lebzeiten wenig bekannt, erhielten jedoch im Laufe der letzten drei Jahrzehnte internationale Anerkennung; inzwischen ist Benjamin in Deutschland eine legendäre Figur. Er hat nicht nur die Philosophie unserer Zeit beeinflußt, sondern auch Geisteswissenschaften und Künste. Nach und nach wurden immer mehr seiner Arbeiten ausgegraben und in Deutschland oder im Ausland publiziert, und es sind bereits mehrere Biographien über ihn erschienen. In den frühen 50er Jahren wurden einige seiner Bücher ins Französische und Englische übersetzt.
Es ist fast unmöglich, der Aufgabe, gleichzeitig abgelaufene Ereignisse zu beschreiben, gerecht zu werden. Man wünscht sich, die Palette eines Malers zur Verfügung zu haben, um nebeneinander darzustellen, was beim Schreiben unglücklicherweise nacheinander geschildert werden muß. Während ich noch Walter und Dora Benjamin häufig besuchte, hatte bereits eine ganz andere Welt mein Interesse, meinen Abenteuersinn und meine Sinnlichkeit geweckt. Berlin mit seinem Ruf, die »toleranteste« Stadt Europas zu sein, war zu einem Paradies für Homosexuelle geworden. Sie kamen von überall auf der Welt dorthin, besonders aber aus England, um hier eine Freiheit zu genießen, die Ihnen in ihren Heimatländern verwehrt wurde.
In diesen Jahren hatte Magnus Hirschfeld, Pionier einer neuen wissenschaftlichen Forschung über sexuelle Varianten, sich bereits einen internationalen Ruf erworben. Seine Bücher und sein Institut für Sexualwissenschaften in Berlin waren über die Grenzen Deutschlands hinaus, besonders aber in Großbritannien und Amerika bekannt. Er erfreute sich der Anerkennung vieler bedeutender Psychiater, unter anderem Auguste Forel und Iwan Bloch, die mit ihm zusammenarbeiteten. Bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts hielt er Vorträge über Sexologie zum Beispiel im Norden Berlins vor Arbeitern sowie an der Humboldt-Hochschule. 1908 gründete er die erste »Zeitschrift für Sexualwissenschaften«, die leider nach einem Jahr vermutlich aus finanziellen Gründen eingestellt wurde. Autoren waren unter anderem: Alfred Adler, Sigmund Freud, Auguste Forel, Karl Abraham, Iwan Bloch, Cesare Lombroso, Wilhelm Stekel und als einzige Frau: Helene Stöcker. Es war das erste Periodikum dieser Art. Doch Hirschfeld war immer noch so gehemmt, daß er seine eigenen Neigungen hinter der Maske eines »normalen« jüdisch-deutschen Arztes verbarg. Über ihn als Menschen wurde erst kürzlich einiges ans Licht gebracht. Die Tatsache, selbst ein homosexueller Mensch zu sein, muß sein Verständnis für eine breitere Sicht menschlicher Sexualität vertieft haben. Seine Bedeutung als Pionier der Sexualwissenschaften wird sehr hoch eingeschätzt, doch sein Ruf geht nicht weit genug. Zu leicht wurde er der sexualpsychologischen Geschichte zugeordnet, während Vieles von dem, was er schrieb, tatsächlich heute noch bemerkenswert ist. War es sein Einfluß, der das Deutschland der 20er Jahre zum ersten europäischen Land werden ließ, in dem sexuelle Freiheit proklamiert und praktiziert wurde, oder machte die Weimarer Republik einen Sexualwissenschaftler wie Magnus Hirschfeld erst möglich? Wie dem auch sei, die Zeit muß für beide reif gewesen sein. Bars für Schwule und Nightclubs schössen nicht nur im modischen Westberlin, sondern auch in ärmeren Stadtteilen aus dem Boden. Man konnte Mercedeswagen genausogut vor homosexuellen Bars wie vor schicken lesbischen Nightclubs parken sehen. Auch Männer und Frauen, deren eigene Neigung eher heterosexuell waren, betrachteten begierlich die Vorgänge in dieser »Untergrund-Welt«, der man inzwischen den scheußlichen Namen »Subkultur« gegeben hat. Einige von denen, die nur als Beobachter gekommen waren, machten sich einen Spaß daraus, mit gleichgeschlechtlichen Partnern zu tanzen.
Daß ich Frauen liebte, erschien mir als natürliche Neigung, solange ich mich erinnern kann. Ich betrachtete mich nicht als ausgegrenzt, weil mich nie jemand über meine erotische Vorliebe befragt hatte. Sie wurde von meinen Eltern, Verwandten und dem Kreis, in dem ich mich bewegte, als etwas Selbstverständliches angesehen. Ich brauchte mich nicht zu verstellen, zu verstecken oder nach Ausflüchten zu suchen. Die jüdische Mittelklasse verhielt sich in der Regel intolerant gegenüber unorthodoxem Sexualverhalten, doch meine Eltern und Verwandten waren da anders. Ich kann mich daran erinnern, daß ich einmal angenehm überrascht war, als meine Tante Bertha feststellte: »Ich glaube, du bist in Frau X. verliebt.« Ich antwortete: »Nicht verliebt, aber ich fühle mich sehr zu ihr hingezogen.« Sie lächelte.
Mein Onkel hatte mich immer als einen Jungen betrachtet und erwartete dementsprechend gar nicht, daß ich mich nach konventionellem Muster verhalten würde. Die gesellschaftlich vorhandenen Vorurteile berührten mich nicht, denn ich war mir ihrer nicht bewußt. Man akzeptierte mich privat und beruflich so, wie ich war, und ich war vermutlich so naiv anzunehmen, daß die ganze Welt sich genauso verhalten würde. Jedenfalls wirkt es sehr überzeugend, wenn man sich so verhält, wie man ist, und diese Haltung ist die beste Waffe gegen jede Art von Verfolgung. Ich näherte mich anderen selbstbewußt, gleichgültig ab Männern oder Frauen, denn ich bekam bei meinen emotionalen und erotischen Annäherungsversuchen nie einen Dämpfer. Nur das Ende der Affäre mit meiner Freundin in Königsberg bedeutete einen Riß in meiner emotionalen Verfassung. Eine Zeitlang hatte ich Angst, daß im Zweifelsfalle immer ein Mann der Gewinner bleiben würde, und nagende Zweifel über meine Art zu lieben befielen mich. Doch meine Jugend half mir, Groll und Furcht zu unterdrücken. Es ist eine weitverbreitete Annahme, daß man sich instinktiv solche Ideen und Menschen auswählt, die das eigene innere Wachstum fördern, und solche zurückweist, die den eigenen Vorstellungen zuwiderhandeln. Diese »Binsenweisheit« ist jedoch anzuzweifeln.
Auf jeden Fall aber war Berlin der beste Ort, an dem man Enttäuschungen und Selbstzweifel überwinden konnte - wenigstens an der Oberfläche. Die Stadt sorgte für alles und jedes. Menschen, die nicht in Stereotype passen, haben eine unheimliche Fähigkeit, sich untereinander zu erkennen. Gegenseitige Anziehung und unkonventionelle Bedürfnisse veranlassen sie, ihre eigenen, exklusiven Zirkel zu bilden. In Minoritätengruppen werden sie immer nur dann hineingezwungen, wenn die Gesellschaft sie als minderwertig behandelt. Bürger zweiter Klasse brauchen eine kollektive Identität, um ihre Individualität aufrechtzuerhalten. In einer toleranten Gesellschaft haben »Außenseiter« es nicht nötig, entweder ein starkes Selbstbewußtsein zu entwickeln oder mit der ständigen Angst vor Verfolgung zu leben; und wenn sie sich zusammenschließen, dann aus geistiger Verwandtschaft und nicht aufgrund von sozialen Pressionen. Soweit ich mich erinnere, gab die Weimarer Republik jedem die Möglichkeit, sein Leben ungestört zu leben. Ganz sicher bewies sie ihre Absicht, sexuelle Freizügigkeit zu garantieren, indem sie den Paragraphen 175 (das Gesetz gegen männliche Homosexualität) erheblich milderte.
Die frühen 20er Jahre waren Deutschlands ökonomischer Ruin. Die Ereignisse dieser Zeit versetzten ganz Europa einen Schock. In der Weimarer Republik, die durch immer stärkere Inflation zugrunde gerichtet wurde, verloren die Bürger jedes Gefühl für Sicherheit. Sie wußten nie, was als Nächstes auf sie zukommen würde. Die Tragödie dieses Niederganges war jedoch nur eine Seite der Medaille. Die andere beinhaltete kulturellen Fortschritt, persönliche Freiheit und kollektive Toleranz.
Über das Berlin dieser Jahre ist so viel geschrieben worden, daß ich nichts weiter als meine persönlichen Erfahrungen hinzufügen möchte. Mich erregte Berlins erotisches Klima, es gab mir das Gefühl, mit jeder Faser meines Körpers zu leben, und das brauchte ich dringend nach meinem emotionalen Trauma. Ich schien wieder Zeit und Kraft zu haben, mein Medizinstudium fortzusetzen, nachts in Nightclubs zu tanzen und Freundschaften zu pflegen. Das holländische Stipendium versorgte mich mit genügend Geld für das Allernötigste, doch um mir Extras leisten zu können, brauchte ich mehr; deshalb gab ich weiterhin Deutschstunden für russische Studenten. Ich hatte eine Vorliebe für ihren Lebensstil, eine Mischung aus Gastfreundlichkeit und einer erfrischenden Unbekümmertheit, was die Zukunft betraf. Meine Schüler behandelten mich wie eine Freundin, luden mich zum Essen ein und überraschten mich mit kleinen Geschenken als Beweis ihrer Dankbarkeit.
In jenen Tagen bedeutete Liebe keineswegs, daß man ständig mit irgend jemand ins Bett ging. Affären, die nur eine Nacht dauerten, waren nicht in Mode. Zwar galt in den Kreisen, in denen ich mich bewegte, Sex nicht gerade als etwas Unanständiges, doch wir hatten wohl bemerkt, daß Sex als Selbstzweck eine tote Sache ist, die durch keinerlei technische Kunststücke lebendiger wird. Sex hat seine Bedeutung nur als Ausdruck erotischer Imagination. Damals glaubte ich (und glaube es auch heute noch), daß Sex seinen angemessenen Stellenwert zurückerhalten muß - innerhalb der Skala sinnlicher Gefühle und Betätigungen, die zwar einen Anfang, aber kein Ende haben. Tag und Nacht unter erotischer Spannung zu stehen, hält Körper und Geist unter dem Zwang ständigen Verlangens und die eigene Sinnlichkeit in permanentem Aufruhr. Das Gehirn wird überschwemmt mit erotischen Bildern und regt Liebe, Verlangen und Sehnsucht an, die auch Substanz der Poesie sind... Man braucht nur an die Verse von Georg Trakl, die Dichtung Bertolt Brechts und Alfred Lichtensteins zu denken, um sich bewußt zu werden, daß Sex an sich für Vorstellungskraft und Emotionen ein Todesurteil darstellt, während die Erotik sie immer wieder neu entstehen läßt. Meine eigenen Erfahrungen bestätigen diese Tatsache. Ich schrieb ein Gedicht nach dem anderen, angefeuert durch Emotionen und Empfindungen erotischer Liebe.
Gelegenheiten für erotische Vergnügungen gab es im Berlin dieser Zeit viele. Clubs und Bars für Lesbierinnen und homosexuelle Männer konnte man im Westen Berlins und auch im größeren Umkreis finden. Da gab es beispielsweise elegante Restaurants auf dem Kurfürstendamm und in seinen Seitenstraßen, die gleichzeitig Tanzlokale waren, in denen man »normale« und andere Bedürfnisse befriedigen konnte. Soldaten und Matrosen in Frauenkleidern hielten Ausschau nach starken Männern oder Lesbierinnen, um mit ihnen zu tanzen. Dora Benjamin, die mich zahlreichen ihrer männlichen Freunde vorgestellt hatte, besuchte gern die Verona Diele, einen beliebten lesbischen Club in Westberlin. Es war üblich, daß Männer die lesbischen Frauen zu ihrem Tummelplatz begleiteten. Doch kaum waren sie im Innern des Clubs, wurden sie zu Schattenfiguren, zu Mauerblümchen, die an kleinen Tischen sitzend das Geschehen verfolgten. Fasziniert beobachteten sie die Szenerie: lesbische Frauen, die miteinander tanzten. Die Intensität, mit der diese ihrem Vergnügen nachgingen, erreichten ein erotisches Ausmaß, das die Zuschauer ebenso wie die Tänzerinnen entzückte. Obwohl Dora immer eine femme ä komme gewesen war, hatte sie eine Vorliebe für die Verona Diele, denn, so sagte sie: »Diese Frauen sind authentisch«. Doras Freund Ernst S. begleitete häufig Dora und mich oder mich allein zu lesbischen Clubs. Er war elegant und zuvorkommend und schien jederzeit zur Verfügung zu stehen, um mit uns auszugehen. Er war ein Kunst-, Musik- und Frauenkenner. Ich genoß die Begleitung dieses charmanten »Flaneurs«, und es machte mir nichts aus, auch mit ihm in die Verona Diele zu gehen. Dieser Ort übte einen unvergeßlichen Zauber auf mich aus. Die Frauen, die dort vor vielen Männern zusammen tanzten und nur Augen für ihre Partnerin hatten, waren meist Prostituierte. Diese lesbischen Stammgäste verdienten sich ihren Lebensunterhalt auf der Straße, doch zu Hause liebten sie Frauen. Kein Zweifel, dies war ihr Leben, dachte ich, als ich sie aneinandergeschmiegt, Wange an Wange miteinander tanzen sah, als wären sie in Trance. Als häufige Besucherin lernte ich einige von ihnen persönlich kennen. In der Regel tanzten wir schweigend, aber manchmal unterhielten wir uns auch. Eine von ihnen besuchte mich einmal in meinem Zimmer. Sie war früher eine Zirkusartistin gewesen und wollte in ihren ehemaligen Beruf zurück. »Ich bin es leid, Prostituierte zu sein«, sagte sie und fügte hinzu: »Ich halte das nicht aus, immer die gleichen idiotischen Bewegungen zu machen«. Ich mochte sie sehr und wollte ihr helfen. Impulsiv wie ich war, schrieb ich an Lisas Bruder, der bei der russischen Handelsdelegation arbeitete und fragte ihn, ob er irgend eine Möglichkeit für sie sähe, sich einem russischen Zirkus anzuschließen. Meine gewagte Handlung war ihr Glück. Es gab einen russischen Zirkus, der gerade in Deutschland gastierte. Sie schloß sich ihm an und schrieb mir wenig später eine fröhliche Postkarte aus Düsseldorf. Sie bedauerte es nicht, die Straße verlassen und sich dem fahrenden Volk angeschlossen zu haben.
Trotz all der Freiheit - oder der Illusion von Freiheit - in der Weimarer Republik, wurden Lesbierinnen von der Polizei beobachtet, und von Zeit zu Zeit fand eine Razzia in lesbischen Clubs statt. Es war keineswegs klar, ob die Polizei eher gegen Prostituierte oder gegen Lesbierinnen vorgehen wollte, auf alle Fälle fürchteten sich sowohl die Besitzer als auch die Besucher dieser Clubs vor den Razzien. Die Mädchen dachten, sie würden aus beiden Gründen verfolgt. Jedenfalls verlangten die Inhaber der Lokale die Anwesenheit von Männern als Abschreckungsmittel. Die wahren Interessen der Polizei blieben uns allen ein Rätsel. Schließlich wurden Magnus Hirschfeld und sein Institut vom Staat in Ruhe gelassen. Behandelte man ihn vielleicht deshalb bevorzugt, weil sein Institut zur Touristenattraktion geworden war und ausländische Währung ins Land brachte? Es war alles in allem eine ambivalente Situation. Möglicherweise dachte die Polizei auch, auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen! Mir war die unangenehme Erfahrung erspart geblieben, bei einer dieser Razzien aufgegriffen zu werden. Die Drohung, die bei diesen geheimen Vergnügungen über unseren Häuptern schwebte, trug eher noch zu deren Attraktivität bei. Wir betrachteten die Razzien mehr als einen Witz und nicht als reale Bedrohung, denn es passierte ohnehin nicht viel. Die Polizei notierte sich die Namen der Anwesenden, verwarnte sie und verließ das Lokal.
Glücklicherweise kamen mir die ernsteren Bedrohungen meines Glücks und meiner Sicherheit nicht zum Bewußtsein. Dann und wann besuchte ich die Vorlesungen in den medizinischen Fächern; aufzuleben begann ich aber immer erst in meinen menschlichen Beziehungen außerhalb der Universität. Besonders fühlte ich mich zu Ruth hingezogen. Wir hatten viel gemeinsam und gingen häufig zusammen in die lesbischen Lokale und Nightclubs, um dort unsere Abenteuer zu erleben. Schon ihre mandelförmigen Augen und ihre olivfarbene Gesichtshaut machten sie zu einer auffallenden Schönheit. Sie war zwar kurzsichtig, doch nie entgingen ihr die bewundernden Blicke der Frauen und Männer - und sie flirtete hemmungslos mit beiden Geschlechtern. Sie entfloh so oft wie möglich ihrem bürgerlichen Elternhaus, um an der berühmten Kunstschule in der Hardenbergstraße zu studieren, und ihre Abenteuerlust verlockte sie dazu, ein Doppelleben zu führen. Recht überzeugend spielte sie sowohl die Rolle der pflichtbewußten Tochter als auch die ungehemmte junge Frau mit stark lesbischen Neigungen. Sie bezauberte die Menschen mit ihrer katzenartigen Anmut, ihren feingeschnittenen Zügen und dem eigenartigen Charme ihrer Persönlichkeit. Intelligent und wachsam wie sie war, verhielt sie sich als passive Zuhörerin bei Diskussionen oder wenn andere sie ins Vertrauen zogen, doch Menschen - vor allen Dingen Frauen -gegenüber, mit denen sie flirtete, wurde sie leicht aggressiv. Ihr Vorbild war Napoleon, und dieses Selbstbild eines Eroberers diktierte ihr erotisches Verhalten. Ihre Küsse waren eher Bisse als Zärtlichkeiten. Sie war immer diejenige, die führen mußte, ob beim Tanzen oder bei der Liebe. Wir waren Rivalinnen und Freundinnen, und manchmal ging die Freundschaft in Erotik über. Manchmal tanzten wir zusammen, aber häufiger suchten wir uns andere Frauen als Partnerinnen. Unglücklicherweise fühlten wir uns zu denselben Frauen hingezogen, was zu Eifersüchteleien und mehrfach auch zu körperlichen Auseinandersetzungen führte. Ich liebte das alles, schrieb Gedichte über sie, verlangte nach ihr und lehnte sie gleichzeitig ab. Unsere Freundschaft blieb ungebrochen, selbst als sie später heiratete und sich tausende von Kilometern entfernt ein neues Leben aufbaute.
Ruth war der Mensch, den ich während meines ersten Jahres in Berlin am häufigsten sah. Manchmal gingen wir zusammen mit Ernst S. zur Verona Diele, an manchen Nachmittagen in ein lesbisches Cafe und abends in den Top-Keller. Im Top-Keller galten Ruth und ich als »Paar«. Dieser lesbische Club in der Nähe des Nollendorf Platzes hatte nichts gemein mit dem Chic der Verona Diele, und das gleiche galt auch für seine Besucher. Er war irgendwie wirklicher, ein Ort, wo sich lesbische Frauen aller Klassen trafen, zusammen tanzten und sich nach seltsamen Ritualen vergnügten. Hier war die Furcht vor Razzien jederzeit präsent. Der Club hatte die Atmosphäre des Geheimen, und zu einer bestimmten Stunde wurden die Türen verriegelt. Dann fühlte man sich mehr eingesperrt als sicher. In einem Vorraum wurden die Namen der Besucherinnen sorgfältig notiert. Hier herrschten zwei liebenswürdige Lesbierinnen, die - dick und bärtig - jede hereinkommende Frau mit einem Kuß begrüßten. Sie rauchten Zigarren und strahlten Gemütlichkeit aus. Sie hatten die Zärtlichkeit, die man oft bei sehr korpulenten und lebenslustigen Frauen findet, und bewegten sich mit vollendeter Grazie. Eine ganze Reihe der Stammgäste auch des Top-Kellers verdienten sich ihren Lebensunterhalt durch Prostitution. Wahrscheinlich waren einige der Mädchen darunter, die in Männerkleidung und langen Stiefeln um den Nollendorf Platz herum ihre Kundschaft suchten; einige davon mit Peitschen in der Hand. Masochistische Männer kamen in den Top-Keller auf der Suche nach einer »Domina«, von der sie sich auspeitschen lassen wollten. Eines Tages näherte sich ein spröder Aristokrat unserem Tisch und forderte mich zum Tanzen auf. Als er mir ein Apartment anbot unter der Bedingung, daß ich ihn dort zweimal die Woche fesseln und auspeitschen sollte, mußte ich laut herauslachen und beendete damit abrupt seinen aussichtslosen Annäherungsversuch. Abgesehen von Prostituierten waren die Besucherinnen waschechte Lesbierinnen aus reichen und nicht so reichen Häusern: Lehrerinnen, Erzieherinnen, Studentinnen, Künstlerinnen und Fabrikarbeiterinnen. Während der Stunden, in denen sie zusammen waren, wurden sie eine intime Gruppe. Der Ort ähnelte eher einer Bierstube als einem Nightclub. Hier ging man sicherlich weiter als in der eleganten Verona Diele, trotz der Anwesenheit von Männern, die ohnehin meist irgendeiner sexuellen Variante frönten. Die Liebe, die ihr Antlitz nicht ganz offen zu zeigen wagte, benutzte Männer als Tarnung.
Der Höhepunkt des Abends war um elf Uhr eine Art ritueller Tanz, bekannt als die Schwarze Messe. Eine seltsame Gestalt- eine hochgewachsene Frau, die einen schwarzen Sombrero trug und aussah wie ein Mann - übernahm mit Adleraugen das Regiment über die Tanzenden. Sie war eine außerordentliche Schönheit; wir nannten sie Napoleon. Meiner Vermutung nach war sie die Eigentümerin des Clubs. Sie forderte uns auf, uns ihr auf der Tanzfläche anzuschließen und gruppierte uns nach ihrem Belieben um sich herum. Sie stand in der Mitte des Kreises und gab uns mit ihrer hypnotischen Stimme Befehle. Wir tanzten vor und zurück, hielten unseren Drink in der einen Hand und unsere Nachbarin an der anderen. So tanzten wir immer weiter und weiter, bis sie den Befehl erteilte, auszutrinken und das leere Glas über unsere Schulter zu werfen.
Ruth und ich wurden bei verschiedenen Gelegenheiten von verheirateten Paaren angesprochen, doch sie bekamen von uns nicht das, was sie wollten. Geschickt vermieden wir es, mit ihnen ins Bett zu gehen, indem wir sie dazu brachten, über sich selbst zu sprechen.
1923 war ein Schicksalsjahr für das deutsche Volk, als jedes Gefühl der Sicherheit durch eine Inflation verheerenden Ausmaßes verlorenging. Während das Land in die tiefste Krise stürzte, erlebte ich in meinem Privatleben einen enormen Aufschwung. Niemals zuvor war ich so voller bittersüßer Liebesgefühle und kreativem Schaffensdrang. Und dies aus vielerlei Gründen.
Ich hatte den Kontakt zu Lisas Bruder Grischa nicht abgebrochen, der hin und wieder Neuigkeiten von seiner Familie erzählen konnte. So erfuhr ich, daß Lisa geheiratet und ein Mädchen geboren hatte. Am Anfang dieses schicksalsträchtigen Jahres erhielt ich Briefe von Lisa an meine Adresse; es waren Liebesbriefe. Ihre Gefühle für mich hatten sich nicht durch Ehe und Mutterschaft geändert. Sie wollte mich wiedersehen und suchte nach Wegen, dies möglich zu machen. Das Unglaubliche geschah - sie brachte es tatsächlich fertig, den Eisernen Vorhang zu überwinden und ein Visum nach Deutschland zu erhalten. Im Sommer 1923 kam sie zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter Irina in Berlin an. Wie sich eine Stadt durch die Anwesenheit eines Menschen verändern kann! Bevor sie kam, waren Straßen nichts weiter als Straßen, mehr oder weniger eine wie die andere. Jetzt führten sie plötzlich ein Eigenleben. Die Straßen, die zu ihrem Haus führten, waren ganz heiß - man durfte sie nur mit den Zehenspitzen berühren, man mußte sie mit Höchstgeschwindigkeit überqueren. Ich sah Lisa jeden Abend. Tagsüber besuchte ich Vorlesungen und Seminare, während sie mit verschiedenen Dingen beschäftigt war, über die sie mir nichts erzählte. Ich stellte keine Fragen, war aber verwundert, als sie einige Wochen nach ihrer Ankunft am späten Abend noch einige Russen treffen mußte. Dies geschah immer häufiger. Sie bat mich dann immer darum, ihre Rückkehr zu erwarten und auf das Kind aufzupassen. Es hätte mich ohnehin nichts von dort weggebracht.
Ich war wie zuvor von ihr hypnotisiert. Meine Leidenschaft führte dazu, daß ich alles für sie tat. Manchmal wartete ich bis in die frühen Morgenstunden, wenn sie leichenblaß zurückkehrte, mich aber nicht gehen lassen wollte. War ich eifersüchtig auf diese unbekannten Männer, mit denen sie so viele Stunden verbringen mußte? Ich glaubte selbst nicht daran, denn ich war sicher, daß sie nicht freiwillig ging, sondern durch eine Art »höhere Gewalt« -irgendeine politische Verpflichtung, die sie eingegangen war - dazu gezwungen wurde. Es muß sich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod für sie und ihre Familie gehandelt haben, aber sie sah niemals ängstlich aus, wenn sie zurückkam. Sie schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit und umarmte mich stürmisch. Wir küßten uns in einem Zustand der Erschöpfung, doch das kühlte unsere emotionale Temperatur nicht ab. Sie hing an mir, als wäre ich die Brücke von ihrer Vergangenheit in eine unsichere Gegenwart, die ihr Leben erträglich machte.
Es erschien mir merkwürdig, daß Lisas Bruder sie nicht in der Pension besuchte, wo sie wohnte. Ich sah ihn nur einmal bei einer Dinnerparty, die von den Arinsteins Lisa zu Ehren gegeben wurde. Er hatte einen guten Posten bei der russischen Handelsdelegation. Seine Vorgesetzte war Madame Andrej ewa, die Frau Maxim Gor-kis, die Rußlands kulturellen Austausch mit Deutschland überwachte, der - seltsam genug - Bestandteil des Handels zwischen den beiden Ländern war. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Position ihres Bruders etwas mit Lisas Besuch in Berlin zu tun hatte, zumindest in seiner politischen Bedeutung.
Lisas Visum war auf sechs Monate begrenzt, doch nach vier Monaten traf überraschend ihr Mann ein. Sie hatte mir erzählt, daß sie ihn aus Dankbarkeit geheiratet hatte, denn er hatte ihren Vater vor einer drohenden Verurteilung gerettet. Nun kam er offenbar wütend nach Berlin, um sie und ihr Kind nach Charkow zurückzuholen. War auch er Teil einer politischen Mission? Wußte Lisa, daß er kommen würde? Sie erzählte mir nichts. Von einem Tag zum anderen wurde ich vom Glück in tiefste Verzweiflung gestürzt. Ich fühlte mich unfähig, unserer Trennung ins Auge zu sehen. Von dem Tag an, an dem ihr Mann angekommen war, änderte sich ihr Verhalten. Sie sprach zu mir über ihre Abreise in so gleichgültigem Ton, daß es mir wehtat. Heuchelte sie diese Kälte, fürchtete sie sich vor ihrem Mann? Wahrscheinlich war seine Eifersucht auf die Beziehung zwischen Lisa und mir der Grund dafür, daß er sie vorzeitig abholte, um mit ihr vor ihrer endgültigen Abreise nach Rußland noch gemeinsam zu einem Kurort zu fahren. Ich sah ihn nie. Hatte sie ein solches Treffen verhindert, weil sie eine emotionale Katastrophe fürchtete? Am Tag ihrer Abreise waren wir kaum zehn Minuten allein, da umarmte sie mich heftig und bat mich zu gehen. Ich sah sie vor ihrer Abreise nach Rußland nicht wieder. Der Schock machte mich krank.
Die letzten Wochen von Lisas Besuch waren mit den Semesterferien zusammengefallen. Doch das neue Semester hatte schon begonnen, bevor sie abreiste. Ich mußte meine Kurse und Vorlesungen besuchen, sonst würde ich durchs Examen fallen. Für zwei Wochen fuhr ich noch nach Hause, wo sich meine Familie rührend um mich kümmerte. Danach setzte ich mein Studium fort. Mein Entschluß, damit weiterzumachen und mich meiner Leere und Lethargie nicht hinzugeben, rettete mich vor einer schweren Depression. Pünktlich um acht Uhr morgens betrat ich die Charite, um Veranstaltungen in Pathologie oder Vorlesungen in Innerer Medizin und Psychiatrie zu besuchen. Ich zwang mich zur Konzentration auf meine Arbeit, und abends ging ich mit Kollegen und Freunden aus. Es gelang mir, mich tatsächlich in mein Medizinstudium zu vertiefen und in das akademische Milieu zu integrieren. Mein Eindruck über die Professoren, die mich unterrichteten, war so bleibend, daß ich mich noch an viele von ihnen und einige ihrer »Aphorismen« erinnern kann. Da war Professor Lubarsch, ein ausgezeichneter Pathologe, der mit kleinen, gehemmten Schritten um uns Studenten herumging, während wir Gewebeschnitte durch das Mikroskop betrachteten. Er war berühmt-berüchtigt für seine ätzenden Kommentare über unsere Arbeit. Er nahm nie ein Blatt vor den Mund und wies diejenigen, die nicht in der Lage waren, die Technik mikroskopischer Diagnose zu erlernen, mit abweisender Geste darauf hin, daß er vorhatte, sie beim Examen durchfallen zu lassen, wenn sie nicht »in die Hände spucken« würden. Tatsächlich aber war er als Prüfer so nett, wie in seinen Kursen unbeugsam.
Und dann gab es den überschwenglichen Professor Kraus, der hübschen Studentinnen gern schöne Augen machte. Bei seinen Vorlesungen war der Hörsaal bis auf den letzten Platz besetzt. Dieser extrovertierte und charmante Dozent der Inneren Medizin schrieb mehrere Standardwerke in seinem Fachgebiet. Jüdische Frauen schienen unter seiner besonderen Gunst zu stehen. Gelegentlich rief er eine von ihnen auf, zu ihm herunter aufs Podium zu kommen, um ihm bei seinen Demonstrationen zu helfen. Im Gegensatz zu der Überzeugung vieler NichtJuden, wurde jüdischen Mädchen von ihren Eltern keineswegs das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber Jungen anerzogen. Intelligente jüdische Mädchen stachen aus der gesamten weiblichen Studentenpopulation hervor, und bei Medizinstudenten war das ganz besonders der Fall.
Die beeindruckendsten Vorlesungen waren die von Professor Bernhard Zondek, dem Endokrinologen, dessen Name zu den bedeutendsten in der Geschichte dieses Zweiges der Medizin gehört. Er hatte ein ruhiges Temperament und war damit das genaue Gegenteil von Kraus; und er war einer der wenigen jüdischen Hochschullehrer. In einer seiner Vorlesungen machte er eine Bemerkung, die mir noch heute im Ohr ist: »Es ist die Hypophyse, die die Funktion des Schlafes regelt. Sie kann sich wie ein Schlafmittel auswirken. Ihre Sekretionen induzieren den Schlaf.« Er sagte dies im Jahre 1923, und es stimmt heute noch.
Der Pädiater Professor Czerny, von Geburt Ungar, hatte den Charme eines Osteuropäers. Auch in seinen Lehrveranstaltungen gab es unvergeßliche Momente. Ich erinnere mich noch an sein Diktum: »Erlauben Sie Kindern niemals, große Mengen an Flüssigkeit zu trinken. Bakterien vermehren sich am besten in Flüssigkeiten, ganz besonders, wenn die weißen Blutkörperchen des Kindes bereits vermehrt vorhanden sind.« Ich weiß nicht, ob dieses Ergebnis seiner Beobachtungen immer noch als richtig gelten kann, aber mir scheinen sie sehr plausibel.
Mein Dozent in Psychiatrie war Professor Karl Bonhoeffer. Er hatte bereits weiße Haare, einen sorgfältig gepflegten weißen Schnurrbart und die Haltung des gehobenen Beamten, steif und ordentlich wie viele im damaligen Deutschland. Man konnte aus ihm nicht schlau werden, und das einzige Fach, in dem ich beim Examen durchfiel, war Psychiatrie. Auf seine Frage: »Was würden sie mit einem gewalttätigen Patienten machen?« leistete ich mir die Antwort: »Ich würde ihn in eine Zwangsjacke stecken«. Er erwiderte: »Diese Zeiten sind vorbei. Sie würden ihm eine Injektion Skopolamin geben«. Und dieser eine Fehler genügte ihm anscheinend, mich durchfallen zu lassen. Bei meinem zweiten Anlauf war er allerdings freundlicher, doch ich kann mich nur an die eine falsche Antwort erinnern und nicht an die vielen richtigen, die schließlich bewirkten, daß ich bestand.
Vielleicht war es kein Zufall, daß viele meiner Hochschullehrer sich einen internationalen Ruf erwarben. Die freie Atmosphäre im Berlin der Weimarer Republik mag dazu beigetragen haben, eine fortschrittliche Forschung zu fördern. Sogar zu dem Zeitpunkt, als Deutschland durch die Inflation in der tiefsten ökonomischen Krise steckte, wurden die finanziellen Mittel bereitgestellt, um vielversprechende medizinische Experimente fortzusetzen, unbehindert von staatlicher Kontrolle. Merkwürdig war nur, daß mir nicht auffiel, daß trotz der neuen deutschen Toleranz ein Jude an der Universität nur Assistenzprofessor werden konnte, aber keinen Lehrstuhl bekam. Sogar einem Mann wie dem brillanten Bernhard Zondek hatte man diese Ehre nicht zuteil werden lassen.
Arbeit war für mich ein konstruktives Gegenmittel für den persönlichen Verlust; ein anderes war meine ständig zunehmende Beschäftigung mit Kunst und Literatur. Ruth und ich hatten unsere Besuche in lesbischen Clubs wieder aufgenommen, und ich verpaßte keine Kunstausstellung in der recht akademischen Berliner Sezession oder der ultramodernen Sturm-Galerie, deren Direktor Herwarth Waiden, Else Lasker-Schülers zweiter Mann, war. Wir nahmen mit offenen Augen und innerer Anteilnahme die expressionistischen Gemälde von Chagall oder Franz Marc und die abstrakten Arbeiten von Kandinsky, Gleize, Magritte und anderen in uns auf. Internationale Künstler hatten ihre ersten Förderer in Deutschland gefunden.
Schließlich war ich in der Lage, einen Teil des Lebens, das durch Lisas Anwesenheit in Berlin so abrupt unterbrochen worden war, für mich wiederzugewinnen. Alte Freundschaften wurden wieder aufgenommen und neue Kontakte geknüpft. Ich entwickelte auch ein neues Interesse an meinen Kommilitonen in der Charite. Wir diskutierten über die Lehrveranstaltungen und lernten gegenseitig voneinander.
Doch bei meinem Medizinstudium war ich nicht mit dem Herzen dabei. Ich sehnte mich nach der Welt der Phantasie, nach der Gemeinschaft von Künstlern und Schriftstellern. Und ich fand sie bei Franz Hessel und seiner Frau Helen, die als Modejournalistin in Paris arbeitete. Als die Semesterferien kamen, fehlte mir die tägliche Arbeitsdisziplin, und meine Verzweiflung kam zurück. Bereits zwei Monate waren vergangen, seit Lisa abgereist war, und ich hatte noch keinen Brief von ihr erhalten. In dieser Zeit größter innerer Unsicherheit traf ich Katherine in Ruths Haus. Ich war zu sehr mit meinen Gedanken mit Lisa beschäftigt, um zu bemerken, daß noch jemand im Zimmer war, als ich mit Ruth über mein unkontrollierbares Verlangen sprach, Lisa wiederzusehen, und schließlich meinte, ich würde in die Spree springen, wenn ich keinen Weg zu ihr fände. Zu meiner Überraschung meinte daraufhin eine Stimme hinter mir: »Du wirst schon einen finden. Das verspreche ich dir.« Erstaunt betrachtete ich die Frau, die diese Sätze gesprochen hatte. Es war Katherine, Ruths engste Freundin, und sie hielt ihr Versprechen. Noch in derselben Nacht nahm sie mich mit auf ihr Zimmer, und ich war zu betäubt oder geschmeichelt, um zu widersprechen. Wir schliefen zusammen und sollten uns die nächsten neun Jahre nicht trennen. Meine erste dauerhafte Partnerschaft zu einer anderen Frau hatte begonnen.
Katherines Eltern hatten sich scheiden lassen, und sie hatte sich nicht entschließen können, bei dem einen oder anderen von ihnen zu leben. Im Alter von 20 Jahren hatte sie bereits etliche Liebesaffären und eine gelöste Verlobung hinter sich, ohne daß ihr davon irgend etwas anzumerken war. Eine Frau, die Holbein für eine seiner Madonnen hätte Modell stehen können! Männer und Frauen erlagen ihr gleichermaßen. Vielleicht war sie schön genug, keinen Wert auf ihre körperlichen Vorzüge zu legen. Tief im Innern war Katherine eine Romantikerin, überzeugt davon, daß das Leben sie für wichtige Aufgaben ausersehen hatte. Sie war geistig, aber keineswegs finanziell, unabhängig, doch sie bevorzugte Armut gegenüber einem Reichtum, der sie knebeln würde. Katherines Begabung war hauptsächlich manueller Natur: Sie war eine talentierte Malerin, eine gute Schneiderin und eine ausgezeichnete Köchin. Ihr angeborener Scharfsinn half ihr, sich durchzuschlagen, wo andere schon längst aufgegeben hätten, und mit intuitiver Intelligenz suchte sie sich die Leute aus, die ihr nützlich sein könnten. Ihre romantische Art war es wahrscheinlich, die sie sich in mich verlieben ließ. Ihr Abenteuergeist wurde geweckt, und innerhalb einer Sekunde hatte sie entschieden, das Unmögliche möglich zu machen und mich hinter den Eisernen Vorhang zu bringen. Sie wollte dieser Liebeskranken helfen, ihrem Herzen zu folgen. Und sie hatte Erfolg, wo jeder andere gescheitert wäre.
Glücklicherweise hatten wir keine Ahnung, daß unsere Rußlandreise ein böses Ende nehmen würde. Doch die Ereignisse jener Tage hatten die Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie.
Katherine beschützte und bevormundete mich vom ersten Augenblick an, und das tat mir körperlich und geistig gut. Es schien ihr nichts auszumachen, daß ich innerlich mit einer anderen Frau beschäftigt war. Ihre Versuche, Geld für unsere Reise aufzutreiben, waren bewundernswert. Während dieser Zeit hatte meine Freundschaft mit den Hesseis an Intensität zugenommen, und da sie Katherine gut leiden konnten, wurde die Freundschaft auch auf sie ausgedehnt. Etwa zur gleichen Zeit erweiterte sich unser Freundeskreis um mehrere Bauhaus-Künstler, dazu gehörten der schwedische Maler Viking Eggeling und seine Freundin Re Richter. Egge-lings Pionierarbeit in der abstrakten Malerei und seine Versuche, eine neue Kunstform im Film zu kreieren, sind inzwischen international anerkannt. Doch im Jahre 1924 erkannte nur eine kleine Gruppe progressiver Künstler seine Bedeutung. Ich war von ihm begeistert. Nachdem ich seinen Film »Symphonie Diagonale« gesehen hatte, einen der ersten abstrakten Filme überhaupt, fühlte ich mich dazu angeregt, einen Aufsatz über dessen Bedeutung zu schreiben. Ich erkannte seine praktischen Anwendungsmöglichkeiten, besonders beim Erlernen von Sprachen und dem Entwerfen von Textilien und anderen Materialien. Dieser Aufsatz, den ich »Eidodynamik« nannte, war es letztlich, der uns ein Visum nach Rußland einbrachte.
Käthe Kollwitz, damals bereits eine der bewundertsten Künstlerinnen Deutschlands, genoß in der UdSSR ein hohes Ansehen, weil sie nicht nur eine große Malerin war, sondern sich auch für die Sache des Sozialismus einsetzte. Ich entschloß mich, sie um Hilfe zu bitten, und ersuchte sie um ein Gespräch. Sie empfing Katherine und mich in ihrem bescheidenen Haus im Osten Berlins, in dem auch ihr Mann - sie war mit einem Arzt verheiratet - seine Praxisräume hatte. Diese wundervolle Frau hörte uns lächelnd zu, während ich ihr schönes Gesicht mit den hohen Backenknochen, den dunklen, traurigen Augen und dem bereits ergrauenden Haar, das sie durch einen Mittelscheitel geteilt hatte, betrachtete. Der kleine Raum, das Angebot von Kaffee und Kuchen, die Damasttischdecke, all das waren Anzeichen ihrer Zugehörigkeit zum Kleinbürgertum, ein Widerspruch zu ihrem Aussehen und ihrer Persönlichkeit. Die Vorstellung, daß wir die UdSSR besuchen
wollten, gefiel ihr, und sie schrieb uns einen Empfehlungsbrief für die russische Botschaft. »Aber Sie müssen einen guten Grund für ihre Reise angeben, etwas, das ihnen nützlich sein könnte,« warnte sie uns. Mir fiel Eggelings Film ein, und ich hoffte, die Russen zu überzeugen, daß es sich bei ihm nicht nur um ein progressives Kunstexperiment handelte, sondern daß er auch ein weites Feld praktischer Anwendungsmöglichkeiten eröffnete. Eggeling gefiel diese Idee sehr gut und Lisas Bruder Grischa half uns, Madame Andrejewa, Maxim Gorkis Frau, für das Projekt zu interessieren. Nachdem sie sich den Film hatte zeigen lassen und meinen Aufsatz gelesen hatte, bestellte sie mich zu sich. An ihr Gesicht erinnere ich mich nicht mehr, nur an ihre sonore russische Stimme. Sie muß ein gutes Gespür gehabt haben für die Nützlichkeit des Ungewöhnlichen. Sie fand Eggelings Avantgarde-Film faszinierend und fortschrittlich und war davon überzeugt, daß mein Aufsatz »Eidodyna-mik« von besonderem Interesse für die erziehungswissenschaftlichen Abteilungen der Universitäten Moskau und Charkow sein würde. Im Jahre 1924 durften nur wenige Ausländer Rußland besuchen, das unter einer Hungersnot litt. Doch Madame Andrejewas Empfehlungen machten das Unmögliche möglich, und Kathe-rine und ich erhielten unser Visum. Inzwischen war ein Brief aus Alupka auf der Krim von Lisa eingetroffen. Ihr Arzt hatte sie dorthin in ein Sanatorium überwiesen, weil sie sich in dem milden Klima von einer Tuberkulose erholen sollte. Sie versicherte mir, Tag und Nacht an mich zu denken. Ich kündigte ihr unseren Besuch an, doch sie hat weder unsere Briefe, noch unser Ankunfts-Telegramm je erhalten.
Acht Monate nach unserer ersten Begegnung machten Katherine und ich uns auf den Weg nach Rußland. Wir müssen gute Schutzengel gehabt haben. In unserem Traum erfüllten sich alle unsere Wünsche, und wir fühlten uns sicher. Dabei hatten wir keine Ahnung, welchen Gefahren wir uns aussetzten, naiv und unwissend begaben wir uns in das kommunistische Land.
Im Juni 1924 bestiegen wir einen Zug, der uns von Berlin zur russischen Grenze bringen sollte. Wir passierten den Polnischen Korridor und Königsberg und erreichten schließlich Riga. Nach dieser bereits sehr langen Reise, fanden wir uns kurze Zeit später in einem russischen Zug wieder, in dem wir den Komfort eines Schlafwagens genießen konnten, dessen luxuriöse Ausstattung mich überraschte. Während man uns mit unzähligen Tassen Tee und guten Mahlzeiten verwöhnte, dachte ich: Wie seltsam, im kommunistischen Rußland auf ein so altmodisches Relikt des Kapitalismus zu stoßen! Als wir nach einer endlos scheinenden Fahrt Moskau erreichten, fühlten wir uns totmüde, aber unverzagt. Nach einem kurzen Aufenthalt in dieser grimmigen Stadt bestiegen wir einen anderen Zug nach Sebastopol. Wir fuhren durch die endlosen Steppen und Weizenfelder der Ukraine. Als wir Charkow erreichten, sank mein Mut. Möglicherweise war Lisa schon nach Hause zurückgekehrt und wir würden die weite Reise auf die Krim vergebens unternehmen? Aber es gab keine andere Möglichkeit, als weiterzufahren und es zu riskieren. Die Luft wurde immer heißer, wir sahen aus unserem Abteilfenster Zypressen und große Kakteen, und schließlich kamen wir in Sebastopol an. Die Krim machte einen ganz ähnlichen Eindruck auf uns wie ein arabisches Land mit subtropischem Klima. Da wir so schnell wie möglich weiterfahren wollten, mieteten wir einen Wagen, dessen Fahrer uns den langen Weg die Küste entlang nach Alupka fuhr.
Lisa war vor Überraschung wie versteinert, als wir plötzlich vor ihrem Bett im Sanatorium standen. Es dauerte eine Weile, bis wir uns wieder aneinander gewöhnt hatten, doch dann waren wir so vertraut und zärtlich miteinander wie früher. Doch wir waren zu unvorsichtig; erst später wurde mir klar, daß wir die ganze Zeit unter Beobachtung des russischen Geheimdienstes gestanden hatten. Kurz nachdem ich den ersten Verdacht in diese Richtung hatte, tauchte Lisas Mann unangemeldet im Sanatorium auf. Er hatte ein paar Tage freigenommen, um die Freunde seiner Frau kennenzulernen, erzählte er uns. Sein Benehmen uns gegenüber war untadelig und von ausgesuchter Höflichkeit. Er wirkte wie ein kapitalistischer Geschäftsmann, der sich mit den neuen Verhältnissen geschickt arrangiert hatte. Er genoß offensichtlich Privilegien, und ich fragte mich, weshalb. Die einzige Antwort auf diese rhetorische Frage war der Geheimdienst KGB.
Zum zweiten Mal erlebte ich, wie Lisa sich durch die Anwesenheit ihres Mannes schlagartig veränderte. Sie wurde kühl und abweisend, und ganz offensichtlich erpreßte ihr Mann sie. Als wir einmal für Minuten allein waren, sagte sie mir, ich müsse Alupka sofort verlassen, sonst könne sie für nichts garantieren. Katherine war genau so verstört wie ich über das abrupte Ende unserer gemeinsamen Tage. Als ich im Auto saß, das mich für immer von Lisa fortbringen würde, fühlte ich mich fiebrig und krank. Lisa küßte mich auf den Mund, sie hielt meine Hand, eine Niobe, die sich in einen Stein verwandeln würde, sobald wir sie verlassen hatten. Ich weiß nicht mehr, wie wir den Zug von Sebastopol nach Charkow erreichten. Ich war schlagartig an einer Infektion erkrankt und fühlte mich so schwach, daß ich am Bahnhof von Charkow auf dem Weg zum Taxi gestützt werden mußte. In Lisas Haus wurden wir gut behandelt. Katherine steckte mich in Lisas Bett, das beste im ganzen Haus. Dort wäre ich fast gestorben. Als mein Fieber auf 41 Grad anstieg, diagnostizierte ein Arzt Malaria und behandelte mich entsprechend. Daraufhin verschlechterte sich mein Zustand noch mehr. Katherine blieb Tag und Nacht bei mir. Ich mußte starken Kaffee trinken, denn ich litt unter Herzmuskelschwäche, und mein Puls war auf 40 Schläge in der Minute gesunken. Genau wie der Puls von Napoleon, erklärte der Arzt. Daraufhin begriff er, daß ich nicht unter Malaria, sondern unter Ruhr litt. Noch zwei weitere Wochen schwebte ich in Lebensgefahr, dann ging es mir langsam besser. Es war jetzt Mitte August, ich war immer noch so schwach, daß ich beim Gehen gestützt werden mußte, und fürchtete, nicht wie vorgesehen im September an der Universität Charkow meinen Vortrag halten zu können.
Da erhielt ich eines Tages einen Brief von Lisa, in dem sie mich aufforderte, Rußland zu verlassen, sobald es meine Gesundheit erlaube und nie wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen. Ich war wie betäubt und unfähig zu glauben, was ich las.
Katherines sorgfältige Pflege und die Nahrungsmittel, die sie für mich auf dem Schwarzmarkt auftrieb, retteten mir das Leben. Anfang September hielt ich meinen Vortrag über Eidodynamik vor Studenten der erziehungswissenschaftlichen Fakultät, die genügend Deutsch konnten, um ihn zu verstehen. Wenige Tage später verließen wir Charkow, eine überaus deprimierende Stadt. Über Kiew und Warschau fuhren wir nach Danzig, um meine Eltern zu besuchen und uns noch eine Atempause zu gönnen zwischen der russischen Tragödie und dem Leben, das vor uns lag. Meine Eltern und meine Schwester empfingen uns am Bahnhof, überglücklich, mich lebendig wiederzusehen; Katherine mochten sie auf den ersten Blick. Wir blieben einen Monat in Danzig, von meiner Familie umsorgt und verwöhnt. Ich hatte mich noch nicht ganz erholt, da fuhr ich mit Katherine zurück nach Berlin, um ein neues Leben anzufangen.
Alles Glück mit Katherine konnte das Gefühl, von Lisa verraten worden zu sein, nicht ausgleichen, obwohl ich erkannte, daß sie ihren Abschiedsbrief unter äußerem Zwang verfaßt hatte. Das bestärkte meinen Verdacht, daß ihr Mann ihr immer mit dem Verlust ihres Kindes im Falle einer Scheidung gedroht hatte, falls sie nicht bereit war, mich aufzugeben. Er hatte wirklich die Absicht, das zu tun, wenn sie nicht gehorcht hätte. Ich verstand, doch ich wußte nicht, wie ich damit leben sollte. Das einzige, was mich ein wenig tröstete, war die Erinnerung daran, wie harmonisch und völlig ohne Eifersucht Katherine, Lisa und ich die ersten Wochen miteinander verbracht hatten. Katherine hatte sich mit Lisa sofort angefreundet. Ihr Mut und ihre selbstlose Liebe sowie die eigenartigen Umstände hatten dieses Wunder zustande gebracht.
In meinem Studium hatte ich die letzte Hürde, das Abschlußexamen, noch vor mir. Das alte Muster wiederholte sich: Arbeit wurde zur Therapie für das Trauma des Verlustes. Unterbrochen von kurzen Ruhepausen, schloß ich alle notwendigen Veranstaltungen ab und bestand alle Prüfungen bis auf diejenige in Psychiatrie, die ich zwei Monate später erfolgreich wiederholte. Ich war jetzt Arztin, mußte aber noch ein Jahr im Krankenhaus arbeiten, um Erfahrungen in verschiedenen Bereichen der Medizin zu sammeln. Zu Beginn bekam ich eine Anstellung im Virchow-Krankenhaus, das einen vorbildlichen Ruf hatte. Ich erhielt dort Unterkunft und Verpflegung und war zum ersten Mal in meinem Leben imstande, mich selbst zu versorgen - und: Ich war Ärztin.