Aussagen der Archäologie

Geprüft von geschichtlich erwiesenen Wahrheiten
erscheint die mythische Überlieferung als authentische,
unabhängige Aussage des frühesten Zeitalters,
als eine Aussage, bei dem Erdichtung keinen Anteil hat.
J.J. Bachofen

Die Große Göttin

Der allgemeine Wunsch der Menschheit, »Sie nachzubilden und Ihr Abbild zu verehren, ging der Geburt der Kunst voraus.« Zwischen 9000 und 7000 v. Chr.«, sagt James Mellaart, »erscheint im Nahen Osten die Kunst in Form von Statuetten der höchsten Gottheit, der Großen Göttin.«[1] Ihr Bild, eingeritzt in einen Vogelschnabel nicht größer als ein menschlicher Fingernagel, oder herausgeschlagen aus einem Megalith, der Hunderte von Tonnen wiegt, war überall in der Welt vorhanden. Die Archäologen graben sie nahezu täglich aus, diese Abbildungen der ersten Gottheit des Menschen.
Sie sind die frühesten Kunstwerke, die je entdeckt wurden, und eines von ihnen, die Venus aus dem Wildenmannlisloch, ist vor siebzigtausend Jahren entstanden.[2] Das Gebiet dieser Funde erstreckt sich von Irland bis nach Sibirien, über den Mittelmeerraum, den Nahen Osten und Nordafrika. Frühere Archäologen oder »Altertumsforscher«, wie sie im 19. Jahrhundert genannt wurden, taten sie als Fruchtbarkeitssymbole ab. Im Licht der wachsenden Erkenntnis, daß sie des Menschen erste tastende Versuche sind, die Gottheit darzustellen, ist diese Erklärung aber aufgegeben worden. Wir könnten zwischen der Annahme, daß diese Figuren Fruchtbarkeitssymbole waren, und der möglichen Vorstellung einer späteren Kultur, unsere Kreuze seien reine Glücksbringer gewesen, einen Vergleich ziehen. ,,Niemand, der diese zierlichen, kleinen Figuren betrachtet, würde sich vorstellen, daß sie Fruchtbarkeit mit magischen Mitteln herbeiführen sollten«, schreibt Ivar Lissner.[3]
»Daß die Verehrung der Göttin ein innerer Bestandteil der Megalithkultur Europas war, zeigt sich am Auftauchen ihrer Symbolik in der Gestalt von Hünen-Bildsäulen und anderen Formen in der Bretagne, auf den Kanalinseln und in Britannien selbst«, schreibt E.O. James. Die Göttin war der beherrschende Einfluß »von Indien bis zum Mittelmeer«, und archäologische Erkenntnis »hat die von der Göttin« in der ganzen alten Welt »eingenommene einzigartige Stellung enthüllt«. Darüber hinaus wird immer deutlicher, daß sie in der folgenden Entwicklung der alten Religionen von Indien bis Palästina, von der Neusteinzeit bis in die christliche Zeit hinein einen weitreichenden Einfluß besaß und eine hervorragende Rolle spielte. (...) Ihr Kult war der stärkste Gegner des Christentums.«[4]
Seit James das 1957 schrieb, sind in Anatolien umwälzende Zeugnisse entdeckt worden. Der Beweis für die gynaikokratischen Anfänge unserer Kultur und für die ursprüngliche Verehrung einer weiblichen Gottheit ist erstaunlich, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden. Es häufen sich jedoch auch Anzeichen dafür, daß nicht alle archäologischen Punde von weiblichen Abbildungen die Göttin verkörpern sollen. Unter den Göttinnenfiguren finden sich auch Darstellungen lebender Frauen. Nirgendwo zeigt sich Gleichförmigkeit, selbst nicht bei Ausgrabungen am gleichen Platz und aus der gleichen Zeit. Die Bildnisse reichen von schmalhüftigen, feinknochigen Schönheiten bis zu groben Karikaturen der Schwangerschaft: Alles ist Brust, Gesäß und Bauch. Die Gesichter unterscheiden sich ebensosehr: vom gestaltlosen Klecks bis zu außerordentlicher Lieblichkeit und mystischer Weisheit. In Ägypten stellen sie zweifellos Menschen dar, da sie zwischen männlichen Figuren gefunden wurden. »Zu den kleinen Standbildern der Nagadah-I-Kultur (viertes Jahrtausend v. Chr.), aus Ton geformt oder in einen Knochen geritzt, gehören die ersten menschlichen Darstellungen. Bemerkenswert ist das Vorherrschen weiblicher Figuren«, schreibt Wolfhart Westendorf.[5]
»Bemerkenswert« ist das immer wieder von Archäologen verwendete Wort, wenn sie auf Beweise für die frühere Vorherrschaft der Frau stoßen. - »Bemerkenswert« wird die Reaktion der Archäologen des 80. Jahrhunderts sein, wenn sie in den Ruinen der verlorenen Kultur des 20. Jahrhunderts graben. Denn es wird überhaupt keinen Beweis dafür geben, daß Frauen in den wenigen letzten Jahrhunderten der christlichen Zeit überhaupt gelebt haben. Zukünftige Archäologen werden finden, daß all unsere Standbilder Männer darstellen, all unsere Münzen männliche Abbilder tragen, daß die Grund- und Schlußsteine all unserer öffentlichen Gebäude nur mit Namen von Männern versehen sind und daß all unsere Archive, die sich zufällig in unterirdischen Höhlen erhalten haben mögen, nur von Taten von Männern handeln. Berichte vom früheren Vorhandensein von Frauen werden in zukünftigen archäologischen Funden so selten sein wie Aufzeichnungen von Männern in der prähistorischen Archäologie von heute. Möglicherweise wird einer unserer zukünftigen Archäologen mit der erstaunlichen Theorie aufwarten, der Mann der christlichen Zeit sei fähig gewesen, sich partheno- oder anthropogenetisch fortzupflanzen, und habe, umgekehrt wie die Amazonen des Altertums, seine weiblichen Nachkommen umgebracht und nur die männlichen großgezogen.

Die matriarchale Theorie

Es ist »bemerkenswert«, daß die vielen verschiedenen und hervorragenden Archäologen unter den Autoren der ausgezeichneten Reihe Ancient Peoples and Places [6] ihr Erstaunen über den Beweis dafür ausdrücken, daß in jedem ihrer Untersuchungsgebiete vom Nahen Osten bis Irland die Frauen einmal überragten. Jeder schreibt so, als sei diese alte Vorherrschaft der Frau einzigartig und nur seinem archäologischen Gebiet eigen. Doch zusammen betrachtet, belegen diese archäologischen Funde, daß die Vorherrschaft der Frau keine örtliche, sondern eine allgemeine Erscheinung war.
Bachofen erkannte die Wahrheit unseres gynaikokratischen Ursprungs ohne die Hilfe der archäologischen Entdeckungen der modernen Zeit. Er schrieb im 19. Jahrhundert, wobei er seine Schlußfolgerungen nur auf die Untersuchung »alter Autoren, Mythen, überkommener Bräuche, Ortsnamen und der Sprache« gründete, daß: »alles sich zu einem einzigen Bild zusammenfügt und zu dem Schluß führt, daß die Mutterherrschaft nicht auf ein bestimmtes Volk beschränkt ist, sondern einen (allgemeinen) Kulturzustand kennzeichnet«, der dem patriarchalen System vorausgeht.[7] Es war »eine Kulturstufe, die durch die spätere Entwicklung der alten Welt überdeckt oder völlig zerstört wurde«.[8]
Vor Bachofen hatte Max Müller in den alten Mythen eine Universalität verspürt, die auf einen gemeinsamen Ursprung in einer geschichtlichen Tatsache hindeutete, doch er folgerte, daß der Schlüssel für ihre Lösung unwiederbringlich verloren sei. Von der Mehrheit der Gelehrten des 19. Jahrhunderts, von Grimm bis Bulfinch, wurden die Mythen als »die Darlegung natürlicher Erscheinungen und die Einzelpersonen der Geschichten als Verkörperungen der Naturkräfte« ausgelegt, wie Sabine Baring-Gould bemerkt.[9] Dies war die anthropomorphe Theorie, in der, wie Baring-Gould sagt, »alle Helden die Sonne, alle Schurken die Dämonen der Nacht und des Winters, alle Speere und Pfeile die Blitze, und alle Kühe, Schafe, Drachen und Schwäne die Wolken verkörpern«.[10] Bachofen bestand darauf, und zu Recht, wie sich herausstellt, daß die Mythen keine Erdichtungen, sondern historische Wirklichkeit darstellen: »Alle Mythen, die sich auf (die Mutterherrschaft) beziehen, sind eine Erinnerung an wirkliche Ereignisse, die das Menschengeschlecht erlebt hat.«[11]
Die frühe griechische Geschichte wurde als mythologisches Phantasiegebilde abgetan, geboren in der fruchtbaren Einbildungskraft Homers, Hesiods und Herodots. Wir wissen jetzt, daß Homer, den Alexander Pope den »einfallsreichsten unter den Dichtern«[12] nannte, überhaupt nichts erfunden hat. Die Archäologie hat erwiesen, daß Homer in der Utas ausschließlich Berichterstatter, daß Herodot erstaunlich genau in seinen Berichten von alten Völkern und deren Geschichte und Kultur und daß Hesiod mehr Geschichtsschreiber als Mythologe war:
»Was er (Hesiod) über den ersten idyllischen Zustand der Menschheit und dessen schrittweise Verschlechterung zu sagen hat«, schreibt Erwin Rohde, »wird nicht als abstrakte Erklärung gegeben, (...) sondern als überlieferter Bericht von dem, was wirklich geschehen war, in der Tat als Geschichte.«[13]
Der sich verstärkende archäologische Beweis für den matriarchalen Ursprung unserer Gesellschaft verlangt nach einer drastischen Neuschreibung der Geschichte der Menschheit auf Erden. »Die ursprüngliche Mutterherrschaft ist offensichtlich«, schreibt Graves, »trotz der patriarchalen Auslegung des Alten und Neuen Testamentes.« Und James Hastings' Encyclopedia of Religion and Ethics stellt fest, daß »es sicher ist, daß der weitaus häufigste Prozeß auf der ganzen Welt der Übergang vom Mutterrecht (Mutterherrschaft) zum Vaterrecht (Vaterherrschaft) gewesen ist«. [14]
»Die Heftigkeit des Widerstandes gegen die Theorie von der Mutterherrschaft erweckt den Argwohn, daß er auf einem emotionalen Vorurteil gegen eine Annahme beruht, die dem Denken und Fühlen unserer patriarchalen Kultur so fremd ist«, schreibt Erich Fromm.[15]
Doch die Theorie, sagt Campbell, ist durch solche archäologischen Durchbrüche wie die Entzifferung der kretischen LinearB-Tafeln, »einem vorhellenischen aufgefundenen Schatz«,[16] und durch die jüngsten Ausgrabungen in Anatolien »unwiderlegbar bestätigt worden«.

Catal Hüyük

In den wenigen Jahren, seit Campbell diese Worte 1964 schrieb, ist in Anatolien, und besonders in Catal Hüyük, der ältesten kulturgeschichtlich bekannten Stadt, ein viel erstaunlicherer Beweis ans Licht gekommen.[17] Seit 1950 ist die Archäologie in der heutigen Türkei sehr eifrig am Werk. Sie entdeckte unwiderlegbare Tatsachen, die die Wissenschaftler veranlaßten, ihre gesamten Vorstellungen von der weit zurückliegenden Vergangenheit der menschlichen Geschichte zu überprüfen.
Zu diesen neuen Tatsachen gehört das (von einigen) unerwartete Alter der zivilisierten menschlichen Gesellschaft. Man hat jetzt herausgefunden, daß die Gesellschaft des 9. Jahrhunderts v. Chr. zivilisierter war als viele nachfolgende Gesellschaftsformen geschichtlicher Zeit. Im Gegensatz zu der bis vor kurzem aufrechterhaltenen Ansicht, Anatolien sei vom Menschen umgangen worden, bis dort im 2. Jahrtausend die Hethiter auftauchten, enthüllt die Archäologie jetzt, daß die große geschichtliche hethitische Kultur »nicht der Anfang, sondern das Ende einer langen Entwicklungszeit war. Sie wurde nicht dorthin gebracht«, sondern dort entwickelt, schreibt Jean Marcade.[18]
Die kürzliche »Entdeckung der anatolischen Neusteinzeit hat die Vorgeschichte des Nahen Ostens revolutioniert« [19] und auch die der Welt. Sie hat die volkstümliche, von Laien immer noch anerkannte und in den Lehrbüchern weiterhin verbreitete Theorie, unsere Kultur sei im Stromgebiet des EuphratTigris aus einem semitischen Volk heraus entstanden, zertrümmert. Denn im Gegensatz zur bisherigen Meinung wurde Anatolien nicht von semitischen oder orientalischen Völkern aus Mesopotamien oder Palästina »kolonisiert«, sondern es war selbst die Quelle dieser und anderer Kulturen und »ein wichtiger Mittelpunkt bei der Ausbreitung der Kultur« im Nahen Osten und in der Ägäis.[20] Man hat erkannt, daß seine Bevölkerung ursprünglich indo-europäischer Abstammung war, und im nördlichen Anatolien gefundene Töpferei kann ins europäische Thrakien und ins Donaugebiet verfolgt werden.[21]
Seit 1966 wurden eingehende Berichte über drei prähistorische Städte Anatoliens erstellt: über Mersin, Hacilar und Catal Hüyük. Und in allen ist die Botschaft klar und unzweideutig: Die alte Gesellschaft war gynaikokratisch und ihre Gottheit weiblich. An allen drei Plätzen »überwog der Göttinnenkult«, sagt Alkim,[22] und ihre Vorherrschaft setzte sich durch die Neusteinzeit bis weit in die Bronzezeit fort, denn »in den Schichten der Bronzezeit ist das Hauptmotiv (immer noch) die Große Göttin«.[23]
James Mellaart, der für die ersten Ausgrabungen bei Catal Hüyük verantwortliche Archäologe, war von den Folgerungen der dortigen ersten Entdeckungen überwältigt. Daß die Kultur, die sich bei Catal Hüyük ausdrückt, weiblich beherrscht war, »ist (...) offensichtlich«, schreibt er. Mellaart begann seine Ausgrabungen bei Catal Hüyük Ende 1961, und das Werk ist noch nicht abgeschlossen. Denn die alte Stadt bedeckt mehr als 32 Morgen Land und besteht aus mindestens zwölf Schichten, wobei sich Stadt über Stadt türmt und diese vielleicht bis 10 000 v. Chr. zurückreichen. An der neuesten Altersbestimmung nach der Radiokarbonmethode läßt sich die Zeit von 7000 v. Chr. ablesen, aber es gibt Hinweise, daß die Stadt schon damals über 10 000 Jahre alt war; und die letzten Schichten sind noch nicht erreicht.
Mellaarts 1966 vor der Vollendung der Ausgrabungen geschriebener Bericht zeigt, daß Catal Hüyük, wie auch immer sein Name vor 10 000 Jahren gewesen sein mag, nicht nur eine matriarchale, sondern auch eine utopische Gesellschaft war. Es hatte über 1000 Jahre hinweg keine Kriege gegeben, die Gesellschaftsform war geordnet, es gab weder Menschen- noch Tieropfer, und zahme Tiere wurden gehalten und gepflegt. Die pflanzliche Ernährung überwog, denn die Haustiere wurden wegen Milch und Wolle, nicht aber wegen des Fleisches gehalten. Zeugnisse gewaltsamen Todes fand man nicht. Frauen waren die Häupter der Familien, und sie wurden ehrfurchtsvoll beerdigt, während die Gebeine der Männer in das Leichenhaus geworfen wurden. Vor allem war die oberste Gottheit in allen Tempeln eine Göttin.[24]
Jede dieser Entdeckungen stützt Bachofens Vorstellung von den frühen matriarchalen Gesellschaften. In seinem Buch Mutterrecht, das 1861, mehr als hundert Jahre vor der Entdeckung Catal Hüyüks, veröffentlicht wurde, schrieb er: »Ein Hauch zarter Menschlichkeit durchdrang die Kultur der matriarchalen Welt, jenes ursprüngliche Frauengeschlecht, mit dem aller Friede von der Erde verschwand (...). Matriarchale Staaten waren berühmt, weil sie von Streit und Zwiespalt frei waren (...). Matriarchale Völker hielten die körperliche Verletzung jedes lebenden Wesens, selbst eines Tieres, für besonders sträflich.«[25]
Doch Alkim wundert sich, daß keine Verteidigungsmauern in den Frühschichten Hacilars vorhanden waren, und ist erstaunt, daß wilden Tieren, die sich an den Wandgemälden Catal Hüyüks finden, keine Gewalt angetan wird.
Bachofens Glaube an die »Geschichtlichkeit des Mythos« findet so seine überraschende Bestätigung, denn in Catal Hüyük haben wir den Beweis für den Mythos des Goldenen und Silbernen Zeitalters, als die Menschen von den Früchten der Erde lebten und die Milch von Ziegen tranken und »ihren Müttern gänzlich untertan« waren.
Im Goldenen Zeitalter des jüdisch-christlichen Mythos war das Paradies ein Land, »in dem Milch und Honig floß«. Es mag die patriarchalen Juden und Christen von heute überraschen, daß Milch wie Honig Zeichen für die weibliche Herrschaft sind. In männlichen Paradiesen, wie dem des Islam, wird Wein gereicht. Milch kennzeichnet aus einleuchtenden Gründen die Frauenherrschaft, und Honig ebenso, da die Honigbiene »das weibliche Prinzip in der Natur darstellt. Das Leben der Biene zeigt die Mutterherrschaft in ihrer klarsten und reinsten Form«, und Aristoteles hielt den Bienenstaat für höher entwickelt als den der Menschen.[26]
»Die griechischen Geschichtsschreiber erkannten« im Gegensatz zu denen der christlichen Zeit »die wichtige Wahrheit, daß Überlieferung und Mythos auf Tatsachen begründet waren«, schreibt A.M. Hocart.[27] Und so wurden in der griechischen Geisteswelt die Mythen des Goldenen und Silbernen Zeitalters als Geschichte betrachtet. Jetzt erweist die Archäologie, daß die Griechen recht hatten.
Für den Prähistoriker ist wahrscheinlich in Catal Hüyük der sinnlich wahrnehmbare Beweis für die enge Verbindung zwischen den Anatoliern und Kreten von besonderem Interesse. Wir wissen seit langem, daß der Stier ein gynaikokratisches Symbol war und die Stierhörner der Göttin geweihte phallische Zeichen darstellten. Bei den vor einigen Jahren auf Kreta durchgeführten Ausgrabungen wurden die Heiligkeit des Stieres ebenso wie die Volkstümlichkeit des nationalen kretischen Sports vom »Stierspringen« offensichtlich, letzteres ein Spiel, bei dem zwar die Spieler, nie aber der Stier verletzt werden konnten. Platon schrieb im Kritias, daß das Stierspringen auf Atlantis ein bekannter Sport war. Da aber das alte Kreta im klassischen Griechenland in Vergessenheit geraten und seine Ruinen nicht bekannt waren, wunderten sich die modernen Gelehrten, woher Platon seine Vorstellung hatte. Das ist immer noch nicht geklärt, aber wir wissen jetzt, von wo die Kreter das Stierspringen übernahmen: von keinem anderen Volk als dem der Anatolier Catal Hüyüks.
»Das Stierspringen«, schreibt U. Bahadir Alkim von der Universität von Istanbul, »eines der Hauptmotive kretischer Malerei, können wir auf den Wandgemälden Catal Hüyüks erkennen«, die 9000 Jahre alt sind. [28]
Eine wichtige Entdeckung bei Catal Hüyük bestand darin, daß in den Heiligtümern der Göttin sehr viele Stierhörner gefunden wurden und daß diese den »Weihehörnern« Kretas und des späteren ägäischen Raumes ähneln.[29] Von gleichfalls großer Bedeutung ist die Tatsache, daß sich die Labrys, die heilige Doppelaxt Kretas, ein Zeichen der Göttin und der Mutterherrschaft, auch an den Tempelmauern Catal Hüyüks aufgemalt findet. [30] Die Doppelaxt, »das Zeichen herrschaftlicher Macht«, war das Symbol der Gynaikokratie sowohl auf Kreta als auch in Lydien  bei  den  Amazonen,  dem  etruskischen  und  selbst bei dem römischen Volk.[31] Sie ist in den Gräbern altsteinzeitlicher Frauen Europas gefunden worden, die vor 50 000 Jahren beerdigt wurden.[32] Und man sieht sie auch in den heiligen Steinen des vorkeltischen Stonehenge in England eingemeißelt. Das sind Tatsachen, die den engen Zusammenhang zwischen dem frühen Steinzeitalter Europas, den geheimnisvollen Erbauern von Stonehenge, den Axtkultanhängern der vorgeschichtlichen ägäischen Welt und Anatolien darstellen.[33] »Der Göttinnenkult und die Verehrung des Stieres«, schließt Alkim, »sind Kennzeichen, die Catal Hüyük und Hacilar einerseits und der minoischen Reiligion andererseits gemeinsam sind, und die das Vorhandensein eines Bandes zwischen Anatolien und Kreta« in vorgeschichtlicher Zeit »bezeugen.«[34]
Eine andere Entdeckung der anatolischen Archäologie ist der Beweis für die »Unterordnung des Mannes« unter die Frau, wie Mellaart es ausdrückt.[35] Die geringere Stellung des männlichen Geschlechtes in den alten Gesellschaften ist seit langem von Gelehrten behauptet worden, angefangen von Lewis Henry Morgan und Bachofen bis zu Briffault und Graves. Doch der Beweis, ausgenommen die abgewandelten Matriarchate Kretas und Etruriens, hatte gefehlt. Jetzt können wir sehen, daß in den 4000 bis 1000 Jahre zurückliegenden kultivierten Gesellschaften der Mann tatsächlich das »zweite Geschlecht« war und die Frau herrschte.
Aufschlußreich an den Entdeckungen bei Catal Hüyük ist auch der Beweis für den Vegetarismus, was uns zwingt, das alte Bild vom jagenden Höhlenmenschen, der seine Beute nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern schleppt, zu überprüfen. Denn die fleischliche Ernährung war, wie wir sehen werden, eine späte Entwicklung der menschlichen Geschichte, und der Jäger kam nach dem den Acker bebauenden Menschen.[36]
Doch von besonderer Bedeutung ist der bei Catal Hüyük gefundene Hinweis, daß ehrenvolle Begräbnisse überwiegend Frauen vorbehalten waren. Dieses Phänomen hatte man vorher in Umbrien in Italien gefunden, jedoch für eine Gewohnheit gehalten, die nur den Etruskern des Jahrtausends unmittelbar vor der christlichen Zeit eigen war. Doch Catal Hüyük enthüllt, daß der Brauch keineswegs auf irgendein Volk, irgendein Gebiet oder irgendeine Zeit beschränkt war. Wir werden sehen, daß er in ganz Europa und im Nahen Osten bereits seit etwa 50 000 v. Chr. bis in die ersten Jahrhunderte unserer Zeit hinein vorherrschte.

Selbst Gräber haben Zungen

Ein Mythos, den patriarchale Geschichtschreiber gerne verbreiteten, ist der, daß Ehefrauen wie Hunde und Pferde zusammen mit den Gebeinen ihres Gatten beerdigt wurden. Aber diese Gleichstellung von Frauen mit Tieren ist eine ausschließlich jüdisch-christliche Vorstellung, die weder im vorsemitischen Nahen Osten noch im vorchristlichen Europa bestand. Der Wunschglaube von den Frauen als Verbrauchsgegenstand wurde selbst noch im Jahre 1943 von einem Archäologen ausgedrückt, der bei der Beschreibung eines im mykenischen Dendra entdeckten Grabes eine Beerdigung folgendermaßen wiedergibt: »Dann werden des Königs Diener, sein Hund und möglicherweise auch seine Frau auf ihre Plätze gelegt und mit Erde bedeckt, und große Steinplatten verschließen danach die gefüllten Gruben.«[37]
Der Autor dieses unklugen Gedankenganges verwendet sehr klug das absichernde »möglicherweise« im Zusammenhang mit der gemarterten Ehefrau; denn spätere archäologische Untersuchungen erwiesen die vollkommene Unmöglichkeit irgendeines solchen Gattinnenopfers in der mykenischen oder irgendeiner anderen alten westlichen oder vorsemitischen östlichen Kultur. Es ist viel wahrscheinlicher, daß sich die Lage genau umgekehrt verhielt, daß nämlich Männer in Frauengräbern bestattet wurden, wie im Falle der unbekannten bei Sakkara beerdigten ägyptischen Pharaonin und der sumerischen Königin Schubad.
Wie die bei Catal Hüyük entdeckten Grabstätten, wo die beerdigten Skelette viel eher denen von Frauen als denen von Männern gleichen,[38] so sprechen auch diese Gräber aus dem 4. Jahrtausend bei Ur und Sakkara mit starkem Nachdruck von der alten Vorherrschaft der Frau. Und wie beim oben erwähnten Grab von Dendra wurde ihre Bedeutung von den männlich orientierten Archäologen, die sie entdeckten, zuerst falsch ausgelegt.
Als das prächtige Grab von Schubad bei Ur am Anfang der zwanziger Jahre gefunden wurde, war man sich über ihre Person nicht im klaren. Man nahm natürlich an, daß sie die Frau eines großen Königs gewesen war. Aber welches Königs? Nirgendwo in der Nähe war einer beerdigt worden. Dann vermutete man, sie sei die »geweihte« Braut eines Königs oder Gottes gewesen, die  bei  einer ackerbaulichen vorgeschichtlichen Zeremonie ge80 opfert worden sei. 1939 war F. Bohl der Ansicht, daß »bei einem heiligen Hochzeitsritus die Braut des Gottes getötet worden sein könnte, wohingegen der Mann, der den Gott verkörperte, wahrscheinlich nicht so behandelt wurde«,[39] ein Irrtum, den jüngere Forschungen als lächerlich erscheinen lassen: In den alten Religionen war es nämlich der junge Gatte der Gottkönigin, der rituell geopfert wurde, und nicht die Braut des Gott-Königs, denn diese gab es damals noch nicht. Die einzige männliche Gottheit der alten Zeit, die bisher entdeckt wurde, ist das kleine Kind gewesen, das man bisweilen zusammen mit der Göttin abgebildet findet, wie zum Beispiel auf den Wandgemälden von Catal Hüyük.
Darüber hinaus war Schubad offensichtlich keine jungfräuliche Braut. Ihre Überreste weisen darauf hin, daß sie eine Frau von vierzig war, voll entwickelt und stattlich. Sie war augenscheinlich eine Königin auf Grund ihrer Geburt. Und die Tatsache, daß ihr Name nicht auf den vorsintflutlichen sumerischen Königslisten steht, zeigt nur an, daß sie, wie so viele andere alte Königinnen, ein Opfer einer späteren, von männlichen Geschichtsschreibern verfaßten Ausgabe wurde.
Die bei Sakkara etwa um dieselbe Zeit wie Schubad bestattete unbekannte Pharaonin wurde ebenfalls aus der Geschichte gelöscht. Doch der Glanz ihres Grabes läßt keinen Zweifel daran, daß sie einst eine mächtige Herrscherin war. Mit ihr wurden die Gebeine unzähliger Männer zusammen mit den Gerätschaften ihres Handwerks gefunden, die geopfert und mit ihr bestattet worden waren, »Handwerker, die der toten Frau in ihrem anderen Leben dienen würden«.[40] Wenn die christliche Seele bei diesem Beweis für Menschenopfer erschrickt, so vergesse man nicht, daß die ersten Christen, und sogar Jesus selbst, lebende Tiere opferten, und das ist ein Unterschied nicht in der Art, sondern nur dem Grad nach.
Als die Grabstätten der Toskana in Italien im 19. Jahrhundert geöffnet wurden, ergaben sich daraus erstaunliche Schlußfolgerungen. Denn in jedem Grab war der Ehrenplatz der mater familias vorbehalten, dem weiblichen Oberhaupt der Familie. So gleichbleibend war diese Regel, daß Raniero Mengarelli, ein Archäologe des 19. Jahrhunderts, »ein neues Gesetz aufstellte: In den etruskischen Gräbern wurde der Körper des Mannes links auf eine Plattform gelegt, und der der Frau immer rechts in einem Sarkophag (...). Es scheint,« schreibt Jacques Heurgeon, »daß dieser Unterschied bezwecken sollte, sicherzustellen, daß eine bestimmte Klasse der Toten, die Frauen, ein heiligeres Wesen hatten (...). Der Sarkophag diente als eine Art Reliquienschrein, der besonders wertvolle Überreste schützte«.[41]
Diese offensichtliche Verehrung der Frauen in Etrurien findet sich in den erst vor kurzem im entfernten Anatolien bei Catal Hüyük entdeckten Gräbern wieder, »wo die in den Schreinen entdeckten privilegierten Toten (...) überwiegend, ja wenn nicht alle, (...) weiblichen Geschlechts waren«.[42] Die Verehrung der Frauen war tatsächlich ein alter und lange währender Brauch unter den Menschen.
Seit 1943 sind in ganz Europa Spuren dieser Philogynie (Frauenfreundlichkeit) aufgetaucht. Die meisten der in den letzten Jahren im mykenischen Griechenland ausgegrabenen Grabstätten wurden leer vorgefunden, von Grabräubern des Altertums zerstört. Wie vorauszusehen war, wurde angenommen, daß die großartigsten dieser ausgeraubten Gräber die von Königen waren. Jedoch hat sich herausgestellt, daß eines der wenigen unberührten Gräber, die bis jetzt entdeckt wurden - eines voller Reichtümer und Großzügigkeit - ein junges Mädchen enthielt, »ein kleines Mädchen wurde in diesem tiefen Grab zur letzten Ruhe gebettet mit vielen verschiedenen edlen Schmuckstücken«, berichtet G.E. Mylonas. »Um ihren Schädel lag ein Diadem aus Gold, an dem Kristallperlen und Amethysten hingen.«[43]
Patriarchaler Mythos hat die rührende Geschichte von der Beisetzung im vorgeschichtlichen Europa überliefert, in der der große Stammesanführer zur letzten Ruhe gelegt wird, zusammen mit seinem treuen Roß, seiner treuen Dienerschaft und seinen zahlreichen Frauen - die letzteren alle lebendig begraben, wie Axel Person es oben »rekonstruiert« hat. Erstens waren alle unsere europäischen Vorfahren monogam - gleich, ob es sich um die keltischen, griechischen oder römischen handelt, und zweitens besteht die Möglichkeit, daß der große »Stammesführer«, der im typisch keltischen Grab zu finden ist, eine Frau und nicht ein Mann war.
1954 wurde bei Reinheim in der Nähe von Saarbrücken das Grab einer Keltin aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. ausgegraben. Es war das bis dahin reichste keltische Grab, bis ein ähnliches in Frankreich in der Nähe von Chatillon-sur-Seine gefunden wurde. Es war ebenfalls ein Frauengrab. Beide waren überreich an Gold und übertrafen alles, was bisher an Schätzen in keltischen Kriegergräbern gefunden worden war. In beiden gab es goldene Armbänder, Krüge, Trinkgefäße und Halsbänder, die mit in die Erde gelegt worden waren, und beide Gräber waren mit schwerer Eiche so dick verschalt, daß Überreste davon 23 Jahrhunderte unter der Erde überdauerten. Die Eichenverschalung stellt eine Besonderheit dar, die noch in keinem Männergrab in Europa oder Britannien gefunden worden ist. »Es scheint, als hätten sie Frauen als eine höhere Wesensart betrachtet«, wie Heurgeon von den Etruskern sagt, und die Eichenverschalung diente als »eine Art Reliquienschrein, der besonders wertvollen Gegenständen Schutz gewährte.«[44]
Am Unerklärlichsten an diesen und anderen keltischen Frauengräbern ist das Vorhandensein goldener Halsbänder. Das Halsband war ein typisch keltischer Schmuck, ein jochförmiges, rundes, vorne geöffnetes Band, das von keltischen Männern um den Hals getragen wurde. Es ist auf Bildern und an Skulpturen gallischer und britischer Krieger zu finden, die noch aus römischer Zeit stammen - sehr deutlich an der Skulptur des Sterbenden Galliers. Nie ist es an Frauen zu sehen. Und doch, um T.G.F. Powell, den berühmten Kelten-Experten, zu zitieren, »ist es von Interesse, daß die großartigsten goldenen Halsbänder aus Gräbern von Frauen stammen. Es gibt sehr wenig Exemplare aus Kriegergräbern«, und diese sind aus Bronze, nicht aus Gold, »Bronzene Halsbänder sind nur aus sehr wenigen Kriegergräbern bekannt, und doch war für die Lebenden, im Gegensatz zu den Toten, das Halsband im wesentlichen ein männlicher Schmuck.«[45] Warum erschienen sie dann am häufigsten in Frauengräbern? Und warum goldene Bänder in Frauengräbern und bronzene in denen der Männer?
Powell ist ebenfalls über diesen Widerspruch beunruhigt und bietet mit typisch männlicher Logik eine unhaltbare Hypothese an: »Es handelt sich hier nur um eine mögliche Erklärung für die Abwesenheit von goldenen Bändern in Männergräbern«, äußert er übervorsichtig, »aber das Halsband eines Mannes könnte sehr wohl als Symbol der Herrschaft über Familie oder Stamm gegolten haben und als solches vererbbar gewesen sein.«[46] Ein redlicher Versuch, aber er erklärt nicht annähernd, warum es hauptsächlich goldene Bänder in Frauengräbern und gelegentlich bronzene in Männergräbern gibt,  oder was  mit den goldenen Bändern geschehen ist, die vom Vater auf den Sohn vererbt wurden. Goldbänder lösen sich nicht einfach in Luft auf und sie müßten heute irgendwo sein, wenn sie je existiert hätten.
Sehr viel plausibler ist die Erklärung, daß das Goldband ein Symbol der obersten Autorität war und das Bronzeband von den Kriegern etwa wie ein Markenzeichen getragen wurde, welches ihre Dienstbarkeit und Treue dem Besitzer des Goldbandes, nämlich den Frauen, gegenüber kund tat. Nicht ohne Grund hatten die goldenen Halsbänder einen Durchmesser von 15-16 cm, während die bronzenen aber 20-21 cm besaßen. Da die hochgewachsenen keltischen Männer von einem 15 cm großen Band abgeschnürt worden wären, die Frauen aber keine trugen, ist es eher wahrscheinlich, daß die kleinen Goldbänder nur ein Symbol darstellten - ein Autoritätssymbol, das mit der Besitzerin bestattet wurde, um ihren Status als »Oberhaupt der Familie oder des Stammes« anzuzeigen.
Powells Alternativhypothese besteht darin, daß die Halsbänder in den Gräbern der Frauen »Kopfschmuck gewesen sein könnte«. Dieser Gedanke wird aber durch die Funde von goldenen Diadembändern widerlegt - die auf jeden Fall Schmuckstücke waren - wie sie von dem mykenischen Mädchen und von der bei Vix begrabenen keltischen Frau getragen worden waren.[47] Nein. Die Goldbänder müssen die Reste heiliger Gegenstände gewesen sein, die mit der alten matriarchalen Kultur in Verbindung standen, so wie die Mondaxt und das goldene Trinkgefäß von Ägina, Argos und dem keltischen Britannien,[48] die alle, wie Herodot bemerkt, für die Kelten heilige Relikte darstellten - »goldene Relikte, die vom Himmel herabgefallen waren.«
Bergounioux schreibt über das paläolithische Europa und Kleinasien, »vom Tigris in Asien bis Portugal ist die rituelle Darstellung der Göttin zu finden (...). In Champagne in Frankreich trägt sie eine Axt« - vor fünzigtausend Jahren[49]
Und fast alle diese alten, fünzigtausendjährigen Göttinnenfiguren - »sie, die der Ursprung alles Guten und Schlechten war«, wie Bergounioux sie beschreibt - trugen »eine zylindrische Halskette.«[50] Und was ist eine »zylindrische Halskette« anderes als ein Halsband?
Die in den Göttinnenschreinen in Catal Hüyük gefundenen Stierhörner sind, wie Alkim sagt, »die Urformen der >Weihehörner<, die sehr viel später in den Palästen Kretas wieder auftauchen.«[51]
Das goldene  Joch  aus  Herodots Bericht,  die »zylindrische Halskette« des paläolithischen Europa, die Stierhörner aus dem neolithischen Anatolien, die Weihehörner aus dem hochkultivierten Kreta und der Ägäis im Bronzezeitalter und die goldenen Halsbänder des keltischen Europa waren alle ein und dasselbe - das Symbol für Göttinnenverehrung, für matriarchale Gesetzmäßigkeit und für die weibliche Oberhoheit überall in der Welt des Altertums.