Vom Privatjournal zum literarischen Bekenntnis

Zu den Anfängen der Tagebuchkultur

Die Popularisierung des Tagebuchs im 18. Jahrhundert ist Teil einer umfassenderen Tendenz im Kontext der Aufklärung, in der die Beschäftigung mit der eigenen Person einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfährt. Das Selbst wird, wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett bemerkt, »zum Grundprinzip der Gesellschaft« (1987, 462). Auch wenn die Tagebuchverfasserinnen mit sich allein und auf sich selbst bezogen sind, ist die Diaristik eine »wahrhaft gesellschaftliche Praxis« und Teil eines »Rede- und Schreibbetriebes« (Foucault 1991, 71). Literarische Prototypen prägen die Normvorstellungen, an denen sich das private Schreiben orientiert. Nicht weniger verbindlich sind die materiellen Vorschriften in Form unterschiedlicher gedruckter Vorlagen, die vom Jahresnotizkalender bis zum ledergebundenen, mit Goldrand und Schloß versehenen Tagebuch reichen. Die leeren Felder des Kalenders schaffen Raum für die Notizen vom Tag. Die Aufmachung des gebundenen Buches weist auf den Wert hin, der den persönlichen Aufzeichnungen unterstellt wird; das Schloß gibt die Anweisung, diese Aufzeichnungen vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen.
Die Tagebuchpublikationen Prominenter tragen entscheidend zur Tradierung und Verbreitung der Form bei. Seit dem 18. Jahrhundert sind Tagebücher eine gefragte Ware auf dem literarischen Markt. Das 19. Jahrhundert kennt Schriftstellerinnen, die sich ausschließlich als Diaristinnen verstehen. Das Diarium wird zum wichtigen Selbstverständigungsmittel vieler Literatinnen. Die Wende zum 20. Jahrhundert bringt eine Fülle von Tagebuchveröffentlichungen. Das verstärkte biographische Interesse im Zusammenhang mit dem Historismus führt unter anderem zu vielen Neuauflagen von Journalen des 18. Jahrhunderts. Die Diaristik bleibt bis heute ein beliebtes literarisches Darstellungsmittel und eine weitverbreitete Gewohnheit schreibender Laien.
Die Hinwendung zum Individuum, wachsendes Selbstbewußtsein des städtischen Bürgertums sowie ein vermehrter Wissensdurst in der Renaissance bereiten den Boden für die Entstehung autobiographischer Schriften, die seit dem 15. Jahrhundert vereinzelt im deutschsprachigen Raum überliefert sind. Die zunehmende Alphabetisierung und die Erfindung des Drucks sind die Voraussetzungen einer sich verbreitenden Kultur der Schriftlichkeit. Mit Ewigen Kalendern und Druckwerken ähnlicher Art entstehen materielle Vorgaben, die zur Aufnahme von Tagesnotizen animieren. Noch nah den Geschäfts- und Haushaltsbüchern verwandt, werden in diesen frühen Tagebüchern notizenhaft Fakten festgehalten, häufig mit lokal- und familienhistorischen oder wissenschaftlichen Inhalten. Diese Privat-Chroniken, die von Geschäftsleuten, Geistlichen oder Wissenschaftlern geführt werden, sind Folge des Fakten- und Informationshungers und Ausdruck eines neuen Selbstwertgefühls des Bürgertums. Das Bedürfnis nach Selbstaufwertung läßt nun in Angleichung an die Hof- und Gesellschaftschroniken Privatjournale entstehen, die die Ereignisse des bürgerlichen Einzellebens festhalten (Bernfeld 1931, 112f.). Gemeinsam ist den Diarien, Handlungsbüchern und kalendarischen Notizen bis ins 18. Jahrhundert,
gleichgültig ob es sich um Reise-, Familien- oder Wissenschaftsdiarien handelt, daß hier die Schilderung persönlicher Empfindungen oder emotional gefärbte Situations- und Naturbeschreibungen weitgehend fehlen (Buchholz 1983).
Dies ändert sich jedoch im 18. Jahrhundert. Während in den älteren Tagebüchern das äußere Geschehen eher protokollarisch festgehalten wird, nehmen jetzt die Empfindungen des schreibenden Subjekts den größten Raum in der schriftlichen Tagesbilanz ein. Von einer eher pragmatisch geführten Chronik der Fakten und Taten wird das Tagebuch nun zum Ort, an dem man Rechenschaft über das Innere der eigenen Person ablegt. Die Regungen des Ich werden zum bedeutsamen Thema der Diaristik.
Seit den Untersuchungen Michel Foucaults weiß man um den Zusammenhang zwischen der steigenden Intensität von sozialer Kontrolle und der Verfeinerung von Bekenntnistechniken, zwischen Zivilisation und Selbstbeobachtung, Identität und Selbstthematisierung. Die Popularisierung des Tagebuchs ist im diskurstheoretischen Verständnis nur im Kontext einer sich mit der Aufklärung ausdifferenzierenden »Kultur seiner selber«, einer gesellschaftlich geforderten Intensivierung und Legitimierung des Selbstbezuges zu verstehen (Foucault 1991, 71). Die größere Bedeutung der Individualität geht einher mit der Institutionalisierung neuer Formen der Selbstthematisierung wie Autobiographie und Tagebuch oder die Therapie im 19. Jahrhundert.
»Menschen neigen nicht von Natur aus dazu, sich über ihr Leben Rechenschaft abzulegen«, schreibt der Soziologe Alois Hahn in seinem Aufsatz »Selbstthematisierung und Selbstzeugnis« und betont, daß biographische Selbstreflexion keineswegs als historisch universal anzusehen ist (Hahn 1987, 12 u. 18). Für die biographische Selbstthematisierung ist vielmehr ein hohes Maß an Darstellungskonsistenz erforderlich, das ohne institutionalisierte gesellschaftliche Vorgaben nicht zu realisieren ist:

Welche meiner Akte ich nicht vergesse, welche mir nicht vergessen werden, welche Akte und Erlebnisse also zu mir gehören, ergibt sich einerseits aus den Sinnzusammenhängen, die die soziale Gruppe schon zugrunde legte, bevor ich geboren wurde, andererseits aber aus den Darstellungsgelegenheiten, die die Gruppe zur Verfügung hält, in denen sich ein Individuum in sozial zurechnungsfähiger Form »ausdrückt«. (Hahn 1987, 11)

Selbstthematisierung als allgemein verbindliche Aufgabe wird in der Geschichte des christlichen Abendlandes im Zusammenhang mit dem Schuldbekenntnis, dem Beichtsakrament institutionalisiert. Vom Beichtvater beurteilt und sanktioniert, stehen die Beobachtungen des eigenen Verhaltens und des Innenlebens im Dienst gesteigerter Selbst- bzw. Sozialkontrolle. Im Protestantismus wird an Stelle des abgeschafften Beichtsakramentes das Prinzip kontinuierlicher Gewissenserforschung zur Christenpflicht. Aber auch im Katholizismus wird den Gläubigen durch die Generalbeichte eine Sündenbiographie abverlangt (Hahn 1987, 20f.). In der Spätantike und im Mittelalter hatten lediglich homines nobiles, Herrscher, Heilige, allenfalls Geistliche das Privileg einer Vita, die in der Regel von Biographen verfaßt wurde. Nun wird von jedem Christen gefordert, diese in der Rechtfertigung vor Gott abrufen zu können.
Wie in England die Calvinisten, so greifen im deutschsprachigen Raum Anfang des 18. Jahrhunderts die Pietisten auf das Tagebuch zurück, um dem Gebot ständiger Gewissenserforschung nachzukommen. Erst durch die religiöse Inanspruchnahme avanciert das Tagebuch zum Ort der Bekenntnisse von Empfindungen und Gefühlen des Individuums. Die schriftliche Selbstreflexion wird in diesem Kontext »(...) als Tätigkeit für sich gottgefällig, sie sorgsam zu
üben zur Absolution« (Bernfeld 1931, 119).
Für großes Aufsehen sorgt das 1771 erschienene Geheime(s) Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Der durch frühe psychologische Schriften bekannte pietistische Züricher Pfarrer Johann Caspar Lavater nimmt sich vor, alles so niederzuschreiben,

als wenn ich Gott selbst mein Tagebuch vorlesen müßte, so genau, daß ich einst auf meinem Sterbelager nach diesen Urkunden eine solche Rechnung über mein Leben machen kann, die derjenigen gleich ist, welche mir vorgelegt werden wird, wenn ich den letzten Atem verhaucht haben werde. (Zit. n. Pestalozzi 1982, 162)

Als Ort der Selbstanklage und -absolution erhält das Tagebuch eine bedeutsame psychische Dimension für die Schreibenden und wird nun im Gegensatz zu den chronikhaften Tagebüchern um das Formmoment des >geheimen Charakters< bereichert. Der hier programmatisch angelegte Beichtersatz wird auch im vorausgeschickten Motto der Aufzeichnungen offensichtlich. Der Pfarrer stellt sie unter das Pauluswort: »So wir uns selber richteten, würden wir nicht gerichtet.« Aus der Konzeption des Tagebuchs als vorweggenommenes göttliches Gericht ergibt sich scheinbar selbstverständlich, nach welchen Kriterien das eigene Innere beurteilt wird und worauf überhaupt die Aufmerksamkeit sich richten muß. Was Lavater hier der literarischen Öffentlichkeit im Gestus des religiösen Beichttagebuchs vorstellt, ist im Grunde eine frühe psychologische Selbststudie, die geprägt ist durch die Übernahme zeitgenössischer Lehrmeinungen (Pestalozzi 1982, 160 u. 164).
Das Geheime Tagebuch stieß dann auch bei der literarischen Öffentlichkeit nicht nur auf großes Interesse, sondern auf ebenso vehemente Kritik. Ein Teil der Rezensenten bezweifelte die Echtheit, der andere die Schicklichkeit der Veröffentlichung (Meyer 1905, 287). Der Kritik zum Trotz existierte mit diesem Text eine schnell bekannt werdende, vielgelesene literarische Vorgabe eines Bekenntnistagebuchs im deutschsprachigen Raum. Es bedarf der Mitwisserschaft um den versteckten Schatz, damit ein Geheimnis überhaupt erst einen Sinn macht. Daß im menschlichen Inneren die letzte Wahrheit und möglicherweise der Schlüssel zum Glück verborgen sei und daß dieser Schatz durch einen Irrgarten mit dem Ariadnefaden der neuen Wissenschaft vom Menschen, der empirischen Psychologie, durch das Mittel ständiger Selbstbeobachtung und Kontrolle möglicherweise zu heben sei, dieser Glauben mußte erst einmal annonciert werden, bevor sich jede(r) im Geheimen für sich auf die Suche machen konnte. Tagebuchschreiben heißt nun »mit dem Eifer eines Arztes am Krankenbett die Pulsschläge seiner Seele zu zählen« (ebd. 282).
Die öffentliche Präsentation von Lavaters Diarium, das zwar noch von pietistischem Gedankengut geprägt ist, sein Augenmerk jedoch schon primär auf psychische Reaktionen des Ich richtet, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Tagebuchschreibens. Durch die Literarisierung wird das Tagebuch aus dem religiösen Zusammenhang gelöst und säkularisiert. Ähnlich wie der Brief entwickelt sich das Diarium zu einem Ort autobiographischer Selbstthematisierung, der eng mit neuen literarischen Tendenzen und Lesebedürfnissen verknüpft ist. Mit der Säkularisierung dient nun Tagebuchschreiben nicht mehr primär der Rechtfertigung vor Gott, für den man in der Hoffnung auf jenseitige Gnade Sünden und Tugenden bilanziert, sondern diesseitigen Zwecken. Die tägliche Selbstschau wird in der Folgezeit schon bald nicht mehr vorrangig durch den religiösen Zweck gerechtfertigt. Zentral wird vielmehr der erkenntnistheoretische Anspruch, durch das genaue Studium der eigenen Person das Wissen über die Menschheit zu bereichern (Pfotenhauer 1987, 20f.).

In seinem Aufsatz »Zur Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs« (1905) interpretiert Richard M. Meyer das Tagebuch als eine Weiterentwicklung der Briefkultur. Historisch habe sich die ausführliche Selbstmitteilung erst einmal durch das Interesse eines Adressaten rechtfertigen müssen. Das »moderne Tagebuch« sei nichts anderes als »ein beständiger Briefwechsel mit sich selbst« und habe erst entstehen können, »indem die immer stärker sich selbst betonende Persönlichkeit daran verzweifelt, außerhalb einen Korrespondenten zu finden« (Meyer 1905, 285). Die Tagebuchmode löste die Briefkultur zwar nie völlig ab - berühmte Tagebuchautoren sind in der Regel auch eifrige Briefschreiber -, dennoch leuchtet ein, daß das sich autonom suggerierende bürgerliche Subjekt, bemüht um die Profilierung seiner Originalität, im Selbstbezug des Tagebuchs seine Subjektivität vollständiger zu realisieren hoffte als im brieflichen Bezug auf die verwandte Seele.
Seit seiner Popularisierung ist das Tagebuch ein Produktionsort einer sich von der Öffentlichkeit abgrenzenden Subjektivität und Individualität. Es dient der immer stärker sich selbst betonenden Persönlichkeit als »Zeugnis (...) für die Einsamkeit des originellen Individuums« und als »(...) Werkzeug, um seine eigene Individualität herauszuarbeiten« (ebd. 286). Der Zweifel am transzendenten Gegenüber wird zum Motor des Fragens nach sich selbst. Es ist die aufklärerische Entbindung vom religiösen Weltbild, die die Selbstbeschreibung im Modus der individuellen Lebensgeschichte so wichtig und so brisant macht (Pfotenhauer 1987,15). Wie die Selbstdarstellung in der Autobiographie, das Durchspielen von Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten im bürgerlichen Trauerspiel oder im Roman dient die Präsentation der Innensicht der Subjekte im Tagebuch vor der literarischen Öffentlichkeit der Entwicklung und Erprobung neuer Wertigkeits- und Wichtigkeitskriterien für ein anderes Menschenbild. Mit Hilfe der neuen Leitbilder reflektiert und rechtfertigt das erstarkende Bürgertum, in Abgrenzung von bisher gültigen religiösen und feudalen Deutungsmustern, sein neues Weltbild und seine neue soziale Rolle. Insbesondere in Deutschland kommt der literarischen (Selbst-)Reflexion große Bedeutung bei der Homogenisierung von Weltanschauungen zu.
Neben religiöse, speziell pietistische Bekehrungsgeschichten treten die aufgeklärten, an naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen orientierten autobiographischen Entwürfe. Die Fülle der Autobiographien, Tagebuchveröffentlichungen und der autobiographischen Romane sind Ausdruck einer für das 18. Jahrhundert spezifischen Symbiose zwischen Literatur und der neuen Königswissenschaft, der Anthropologie (Pfotenhauer 1987, 22f.). In seinen Überlegungen zur Geschichte der Autobiographie interpretiert der Germanist Michael Schneider die Wende zum Bekenntnishaften in der Literatur und die breit einsetzende autobiographische Aktivität von Literatinnen und Laien als ein Ergebnis der »großen anthropologischen Wende« der Epoche, bei der der Mensch sich selber zum Gegenstand von Observation, Buchhaltung und Statistik gemacht habe (1987, 432). Die Frage an den Menschen: »Wer bist du?« und der Imperativ: »Bekenne das Geheimnis deiner Begierden und Wünsche!« seien »die Koordinaten eines abendländischen Kontrollverfahrens, das die Varianten Beichte, Tagebuch/Autobiographie, Verhör, Test, Psychoanalyse« ausgebildet habe. Diese seien »die Praktiken der großen Institution, die die Macht und die Geltung der Gesetze zu garantieren« hätten (ebd. 24).
Offen bleibt bei Schneiders Interpretation, warum sich die Individuen dieser Generalbeichte unterziehen und so bereitwillig und ausführlich Auskunft gaben und geben. Liegt das Motiv der Bekenntnisfreudigkeit nicht vor allem darin, daß in jedem Bekenntnisakt Momente sozialer Anmaßung, Anklage und Rebellion und eines selbstaufklärerischen Wissensdurstes enthalten sind? Die Schriftstellerinnen oder auch nur Schriftkundige nehmen für sich das Privileg in Anspruch, eine eigene Vita zu haben, deren Sinn nicht im Jenseits liegt. Sie allein können ihre >authentische< Vita verfassen, weil nur sie in ihr Inneres schauen können. Jede(r) hofft durch die unnachsichtige Prüfung der eigenen Person, durch genaue Beobachtungen und penible Registratur, ein Stück Menschheitsgeschichte zu entschlüsseln. Die schriftliche Selbstthematisierung, ob im Tagebuch oder in der Autobiographie, beinhaltet den Anspruch, die eigene Geschichte sei in ihrer Differenz zur herrschenden Tradition die Überlieferung wert. Dem Vorwurf der Anmaßung kann das schreibende Ich nur durch Insistieren auf absoluter Wahrhaftigkeit und durch das offenherzige Bekenntnis, das die eigene Person nicht schont, begegnen.