Gebrochene Traditionen

Einleitung

Im Zusammenhang mit meiner Projektarbeit bei der Berliner Geschichtswerkstatt über die Alltagsgeschichte in einem Berliner Stadtteil in der Nachkriegszeit stieß ich 1987 zum ersten Mal auf private autobiographische Aufzeichnungen von Frauen aus dem Zweiten Weltkrieg.**402.1.1*** »Meine Biographie ist schon geschrieben«, sagte mir die damals 82jährige Stefanie H., als sie mir ihren 80 Seiten umfassenden Fortsetzungsbrief übergab, in dem sie über die Ereignisse des Kriegsendes in Berlin 1945 berichtete (vgl. zur Nieden 1987, 61-69). Einige Monate später schickte Irmela D. ihr »Tagebuch aus der Russenzeit«, in dem sie ihre Erlebnisse in den Monaten der sowjetischen Besatzungszeit schildert, an die Berliner Geschichtswerkstatt. Zeitgleich erhielten wir von Gertrud B. ein Manuskript mit dem Titel Der Hölle entronnen, das ihre Flucht aus Berlin 1945 beschreibt.
Mich erstaunte es, unaufgefordert 3 persönliche Zeugnisse bekommen zu haben, die alle über einen ähnlichen Zeitraum und über ähnliche Begebenheiten berichteten. Offenbar - so meine Vermutung - haben gegen Ende des Krieges mehr Frauen geschrieben als zu >normalen< Zeiten. Durch Nachfragen im Bekanntenkreis und in der Familie erhielt ich weitere Texte, vor allem unzählige Briefe aus den Jahren 1939-1945. Unter diesen Briefen war auch einer, den eine Schulfreundin am 14. Februar 1945 an meine Mutter schrieb. Darin heißt es:

Heute werden uns eben allen schwere Prüfungen auferlegt, nur wer aufrecht bleibt, hält in der augenblicklichen Dunkelheit aus! Gerade höre ich einen sehr wahren Spruch: Lebe beständig, das Unglück dauert nicht ewig ... Und so bin ich guten Mut's, mein Vertrauen auf den Führer ist unerschütterlich.

Als ich die heute engagierte Sozialdemokratin auf ihren Brief ansprach, hätte sie gerne behauptet, dies nicht geschrieben zu haben, wäre es nicht eindeutig ihre Handschrift gewesen und hätte es dort nicht blau auf weiß gestanden. Dieses Fehlen an Erinnerung und ihre Fremdheit den eigenen Aufzeichnungen gegenüber waren ein Motiv für meinen Entschluß, mich eingehender mit den Texten von damals zu beschäftigen und sie zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen.
Meine Arbeit ist zum einen literaturwissenschaftlichen Methoden verpflichtet, versteht sich aber auch im Kontext der qualitativen historischen Sozialforschung als ein Beitrag zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Nationalsozialismus. Sie stützt sich im wesentlichen auf unveröffentlichtes Material. Grundlage sind die Aufzeichnungen derjenigen, deren schriftliche Spuren selten überliefert werden, Texte, die in der Regel allenfalls privat aufbewahrt werden: Tagebücher pubertierender Mädchen und Heranwachsender, diaristische Notizen in Kalendern. Es sind Texte, die Frauen für sich
persönlich oder für die familiäre Öffentlichkeit verfaßten oder die, selbst wenn die Verfasserinnen auf eine Veröffentlichung setzten, dennoch in ihren Schubladen und Schränken blieben.
Die populäre Autobiographik gehört zu den Stiefkindern der Forschung. Und so gibt es kein staatliches Archiv in Deutschland, in dem private Tagebücher unbekannter Autorinnen systematisch gesammelt und erschlossen werden.[2] Ich entschloß mich daher, über Aufrufe im Radio und in Zeitungen nach Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg zu fragen, und stieß hierbei auf große Resonanz.
Die Sammlung autobiographischer Texte der Jahre 1939-1945, die dieser Arbeit zugrunde liegt, umfaßt 32 Tage- und Notizbücher,
7 Erinnerungsberichte und 3 Briefsammlungen von Frauen. Von Männern stehen mir 20 Tage- und Notizbücher und 10 Briefsammlungen zur Verfügung. Sie sind im Anhang im Quellenverzeichnis aufgeführt. Zitate, die nicht anders ausgewiesen sind, beziehen sich auf diese Sammlung unveröffentlichter privater Aufzeichnungen. Bei den Transkriptionen der größtenteils handschriftlichen Aufzeichnungen habe ich auf Texteingriffe verzichtet und so auch orthographische und grammatikalische Fehler übernommen* (Alle Textauslassungen sind durch drei eingeklammerte Punkte markiert, nicht eingeklammerte Punkte sind Teil des Zitates.) Auszüge aus 16 dieser Tagebücher und Briefsammlungen sind nun in einer Sammeledition zugänglich (Hammer, zur Nieden 1992). (Im folgenden gebe ich nur die Seitenangaben an, wenn ich mich bei einer Quellenangabe auf diese Publikation beziehe.) Zusätzlich greife ich auf die Veröffentlichung von Heinrich Breloer zurück, der 1984 eine Sammlung von Laientagebüchern aus den Jahren 1939-1947 herausgab, in der 10 Diarien von Mädchen und Frauen und 14 Tagebücher von männlichen Verfassern aus dem Zweiten Weltkrieg auszugsweise abgedruckt sind.[3] (Texte aus diesem Quellenband werden im folgenden mit B. und Seitenangabe nachgewiesen.)
Kaum etwas läßt sich in der Erinnerung schwerer rekonstruieren als Gefühle, Hoffnungen und Erwartungen, die sich im nachhinein als falsch oder problematisch erwiesen haben und in denen man sich getäuscht hat. Aus der Arbeit mit lebensgeschichtlichen Interviews ist bekannt, daß die Erinnerungen in bezug auf vergangene Wertorientierungen besonders unzuverlässig sind (Niethammer 1985, 396). Dies gilt in verstärktem Maß für die Orientierungen während der Zeit des Nationalsozialismus. In ihrer Untersuchung zur kollektiven psychischen Verfaßtheit der deutschen Mehrheit im Nachkriegsdeutschland, Die Unfähigkeit zu trauern, interpretierten Margarete und Alexander Mitscherlich diese Erinnerungslosigkeit nicht nur als eine Verdrängungsleistung, sondern sprachen von »Abwehr«, »Leugnung der inneren Anteilnahme« und einem »globalen Rückzug aus der eigenen Vergangenheit«, die mit der militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes einsetzten (1985, 34-38).
Zeitgenössische autobiographische Texte, vor allem Tagebücher, in denen die eigene Person im Mittelpunkt steht und in denen die Schreibenden ihre Ängste, Hoffnungen und Handlungsstrategien festhalten, schienen mir eine geeignete Quelle, um der Frage nach der inneren Anteilnahme und Beteiligung von Menschen am Nationalsozialismus nachgehen zu können. Tagebuchaufzeichnungen ermöglichen einen Blick auf Gefühls- und Gedankenwelten, an die sich diejenigen, die diese Zeit erlebten, seither selbst nur schwer erinnern können und wollen.
Die Verflechtung von Politik und Alltag, Öffentlichem und Privatem, Eigensinn und Geschichte können in den autobiographischen Texten dieser Jahre studiert werden. Tagebücher sind auch ein lohnendes Feld, um Geschlechterbeziehungen und -differenzen zu untersuchen. Der Aufarbeitung dieses durch die weibliche Perspektive bestimmten Materials kommt insofern besondere Bedeutung zu, als die jahrelangen Trennungen von Männern und Frauen durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse zu einer strikteren Geschlechtersegregation führten, als sie in >normalen< Zeiten üblich ist. Die getrennten Erlebnissphären dieser Jahre brachten geschlechtsspezifisch stark differierende Erfahrungs- und Deutungsmuster mit sich (Möding 1989, 50-61 u. Niethammer 1983, 163-232).
Die Erfahrungen von Frauen während der Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges sowie der Nachkriegszeit sind mit der Hinwendung zur Alltagsgeschichte in den letzten Jahren zum Gegenstand zahlreicher Publikationen geworden.[4] Diese Untersuchungen stützen sich jedoch fast ausschließlich auf rückblickende Erinnerungen, meist in Form lebensgeschichtlicher Interviews. Im Gegensatz zum Boom neuerer Arbeiten, die mehrheitlich auf der Grundlage mündlicher Lebenserzählungen aufbauen, gibt es bisher kaum Analysen der autobiographischen Aufzeichnungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre von Frauen. Da nicht selten einschneidende Differenzen zwischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmustern, wie sie sich in autobiographischen Texten manifestieren, und der resümierenden Rückerinnerung nach mehreren Jahrzehnten bestehen, kann eine Analyse, die auf autobiographischem Material der Zeit aufbaut, Untersuchungsergebnisse, die auf Grundlage retrospektiver Erzählungen gewonnen wurden, ergänzen und sie teilweise auch korrigieren.
Tagebücher sind Quellen besonderer Art, und eine wissenschaftliche Auswertung bringt unterschiedliche methodische Probleme mit sich. Ebenso wie bei lebensgeschichtlichen Erzählungen liegt der Reiz diaristischer Aufzeichnungen darin, daß hier die Verfasserinnen selbst zu Interpretinnen ihres Alltags, ihres Lebens und des historischen Geschehens werden. Ihre Lebens- und Geschichtsinterpretationen sind gesättigt mit alltäglichem, selbst erlebtem und kulturell überliefertem Erfahrungswissen.
Diese Besonderheiten setzen eine Lesart voraus, die sowohl die Möglichkeiten und Grenzen der konventionell geprägten Literarisierung von Lebenserfahrung berücksichtigt, wie auch der Tatsache Rechnung trägt, daß die autobiographischen Selbstdarstellungen keineswegs nur einer außerpsychischen Realität, sondern den Wunschträumen und Ängsten des Individuums verpflichtet sind. Erzählerische Elemente, die Notwendigkeit der Strukturierung, Kondensierung und Explizierung spielen eine wesentliche Rolle bei der schriftlichen Verarbeitung des eigenen Erlebens. Methoden der Textexegese und -Interpretation sind notwendig, um Intention, Deutungsmuster, manifeste und latente Sinngehalte herausarbeiten zu können. Die Analyse der Erzählstrategien und -Perspektiven, der Zeitstruktur, der Produktion von Bildlichkeit und des verwendeten Sprachmaterials ermöglicht es bei autobiographischen Texten, den Effekt der Authentizität, d.h. einer nicht mehr zu hinterfragenden Erlebnisunmittelbarkeit, zu brechen und damit die Literarisierungen von Lebenserfahrungen als deutende Aneignung des Alltags zu untersuchen.
Der erste Teil der Untersuchung dient der Entwicklung methodischer Fragestellungen und der kulturgeschichtlichen und literaturhistorischen Einordnung des Themas. Dabei wende ich mich zunächst der Tagebuchforschung und dann den historischen Wurzeln und Besonderheiten der populären Tagebuchkultur zu. Der Tagebuchbrauch ist eine kulturell überlieferte Form schreibender Selbst- und Weltreflexion, deren Ausformung und Tradierung auf komplexe Weise mit Lesegewohnheiten bzw. literarischen Vorgaben und Vorbildern verknüpft ist. Dennoch werden Laientexte nur selten zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Häufiger werden Tagebücher von sozialwissenschaftlicher und psychologischer Seite als Quellenmaterial herangezogen. Für meine Untersuchung war es notwendig, die Ansätze der unterschiedlichen Forschungsrichtungen daraufhin zu befragen, inwieweit sie sich für meine Fragestellung nach den Funktionen des autobiographischen Schreibens am Ende des Zweiten Weltkrieges fruchtbar machen lassen.
Der Tagebuchbrauch wird nur verständlich, wenn man ihn im historischen Kontext begreift. Ich verstehe Tagebuchschreiben, so wie es im europäischen Raum seit der Aufklärung im großen Umfang von Laien wie Literatinnen praktiziert wird, als eine kulturell überlieferte Form der Lebensbewältigung, eine »Technik der Sorge um sich«, Teil einer sich mit der Aufklärung ständig verfeinernden »Kultur seiner selber«, nicht primär eine »Übung in Einsamkeit, sondern eine wahrhaft gesellschaftliche Praxis« (Foucault 1991, 71).
Ein Rekurs auf die historische Ausgangssituation des Tagebuchschreibens im 18. Jahrhundert scheint mir notwendig, um die gesellschaftliche Bedeutung und die Verbindlichkeiten und Normen des Laienschreibens herauszuarbeiten.
Im Zentrum des zweiten Teils dieses Buchs steht die interpretierende Analyse der Frauentagebücher und Erinnerungstexte aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs.
Einleitend gehe ich auf die Möglichkeiten und Grenzen der Diaristik ein, die sich in den Jahren des Nationalsozialismus bei Laien wie LiteratInnen großer Popularität erfreute. Das Kernstück dieses Teils bilden 4 eingehende Textinterpretationen ausgewählter Tagebücher. Gesamtinterpretationen erscheinen mir der geeignete Weg, um der Komplexität von Tagebüchern als einer Form subjektiver Erfahrungsverarbeitung gerecht zu werden.
Die Frage des Aussagewertes ausgewählter Beispiele im Verhältnis zum gesamten Quellenkorpus beziehungsweise die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse ist ein nicht völlig auflösbares methodisches Problem jeder qualitativen Untersuchung. Ein Begriff wie »exemplarische« Interpretation greift strenggenommen zu kurz - weil sich keiner der Texte im Exemplarischen erschöpft und seine Brisanz erst jenseits seiner verallgemeinerbaren Dimension im unauflösbaren Konglomerat von Besonderem und Allgemeinem, Eigensinn und Ideologie, im selbständig Selbstbeherrschten bekommt. Ich habe den Begriff der »symptomatischen« Interpretation nicht nur in Abgrenzung von anderen Interpretationsverfahren wie z.B. dem der »objektiven Hermeneutik« gewählt. Er soll auch eine methodische Offenheit und Flexibilität bezeichnen, die es ermöglichen, randständige und abweichende Befunde, die sonst durch die Raster vorgefaßter Leitfragen oder empirischer Signifikanz fallen, festzuhalten und darüber hinaus hermeneutische Vorannahmen sich selber und anderen offenzulegen.
Töchter fragen heißt eine 1990 publizierte Untersuchung von Lerke Gravenhorst und Carmen Tatschmurat zur NS-Frauengeschichte, in der feministisch orientierte Wissenschaftlerinnen verschiedener Fachrichtungen zu Wort kommen. Auf nicht unproblematische Weise verdeutlicht dieser Titel, daß eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus überlagert ist durch ein gesellschaftliches Konfliktpotential zwischen den Generationen.[5] Über die Geschichte des Nationalsozialismus zu arbeiten, heißt für meine Generation immer auch, die Geschichte der Eltern zu bearbeiten. Die Frage nach der Haltung der Müttergeneration im Nationalsozialismus schließt die Frage nach der Herkunft, den eigenen Traditionen mit ein. Mein Verhältnis zu den Mädchen und Frauen, deren Tagebücher mir Einblicke in ihre vergangenen Gefühls- und Gedankenwelten zu suggerieren schienen, war alles andere als unbefangen. Wenn sich zum Beispiel die Schülerin Lieselotte G. 1943 dem Ideal einer deutschen und preußischen Frau verschreibt, so ist meine Irritation über die nationale Emphase weniger Resultat einer wissenschaftlichen Distanz, jenes notwendigen »ethnologischen Blickes«, der die Fremdheit dem Objekt der Beobachtung gegenüber zum Aufhänger der Analyse macht (Niethammer 1985, 411); die Fremdheit ist vielmehr das Resultat der gesellschaftlichen und biographischen Vorerfahrungen meiner Generation. Meine Distanz zu einem deutschnationalen Frauenideal steht im unmittelbaren Wirkungszusammenhang, ist ein Teil der Nachgeschichte der beobachteten Begeisterung.
Ein Resultat dieser Befangenheit war es, daß sich mein Augenmerk vorrangig auf die für mich problematischen Teile der autobiographischen Berichte konzentrierte. Ich fragte nach Grad und Ausmaß von Zustimmung zum Nationalsozialismus, nach Verdrängung und Gewöhnung, nach den unterschiedlichen Arrangements mit den herrschenden Verhältnissen im nationalsozialistischen Deutschland. Die Frage nach den wechselseitigen Abhängigkeiten von biographischen und gesellschaftspolitischen Erfahrungen wurde mir zunehmend wichtiger. Die Einsicht, wie nachhaltig generationsspezifische Kontexte erkenntnisleitend sein können, gesellschaftliche Erklärungsmuster und Deutungsversuche prägen, bestimmte Fragen brisant machen und andere verhindern, war für mich einer der wesentlichen Lernprozesse im Verlauf der Arbeit an diesem Thema.
Ausführlich beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang zwischen familiären und gesellschaftlichen Handlungs- und Erklärungsmustern anhand des Brieftagebuchs der Marie von N. Das Ineinandergreifen von adoleszenten Wünschen und herrschender Meinung und die politische Funktionalisierung jugendlicher Omnipotenzphantasien sind Themen der Interpretation des Mädchentagebuchs von Lieselotte G. Die Frage nach der Verzahnung von kollektiver und persönlicher Krise am Ende des Krieges zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit.
Die Aufzeichnungen, die die Verfasserinnen mir überließen, sind mehrheitlich in den letzten beiden Kriegsjahren ab 1943 verfaßt. Das Frühjahr 1945, d.h. die unmittelbare Endphase des Krieges läßt sich als ein Schwerpunkt der autobiographischen Berichterstattung ausmachen. Offenbar haben Frauen in der Krisenphase des NS-Regimes vermehrt Tagebuch geführt (vgl. hierzu Teil II: Chronistinnen des Krieges).
Die Lektüre der Texte macht deutlich, daß in den damaligen Dokumentations- und Erinnerungswünschen das Vergessen der eigenen Beteiligung bereits eingeschlossen ist: »(...) sollten wir leben bleiben, so sollen diese Blätter mich ewig an die furchtbare Schmach gemahnen, die uns angetan worden ist«, schrieb die 17jährige Berliner Schülerin Lieselotte G. am 9. Mai 1945, einen Tag nach der deutschen Gesamtkapitulation, in ihr Mädchentagebuch. Der Blick auf die vermeintliche Schuld der anderen dient dazu, sich selbst zum Opfer des Geschehens zu stilisieren. Was »ewig« an die »Schmach« erinnern soll, vermittelt einen Eindruck der narzißtischen Kränkung, die Deutsche durch die Kriegsniederlage erfuhren. Darüber hinaus führt dieses Zitat eine weitere wesentliche Motivation des Tagebuchschreibens in der Endphase des Zweiten Weltkrieges vor Augen: Frauen schreiben, um sich in einer Zeit des Auseinanderbrechens sozialer Bezüge ihrer personalen Identität zu versichern. Die vorliegende Arbeit untersucht die Strategien, mit deren Hilfe sich die Tagebuchverfasserinnen gegen die teilweise traumatischen Kriegserfahrungen und den Zusammenbruch der kollektiven Werte zu behaupten versuchten. Hierbei geht es mir auch um die Frage, in welcher Form die diaristische Selbstreflexion und die Literarisierung historischer Erfahrung zur Erlebnisverarbeitung beigetragen haben.
»Größe und Elend der Selbstbetrachtung« betitelte der Publizist Gustav Rene Hocke einen Essay, in dem er seine Forschungen über europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten zusammenfaßte (1962). »Größe und Elend«, (nationale) Hybris und Fall werden auch für Frauen im zerstörten Deutschland zum Auslöser verstärkter autobiographischer Aktivität. Als Zeuginnen und Akteure des in die >Heimat< getragenen Krieges machen Frauen in den Jahren von 1943-1945 bedrohliche Ohnmachtserfahrungen.
Der Krieg geht aber auch einher mit der Möglichkeit des Weltgewinns, der einen Zuwachs an individueller Bedeutsamkeit mit sich bringt und den Mitteilungswert der eigenen Geschichte erhöht. Die Folge sind Zeitzeugen- und Erlebnisberichte in Tagebüchern. Die verstärkte autobiographische Schreibtätigkeit des Jahres 1945 ist aber vor allem als ein Krisensymptom des zusammenbrechenden nationalsozialistischen Deutschland zu deuten. Der gesellschaftliche Einbruch geht einher mit einem erhöhten Bedarf an Welt- und Selbstreflexion, der sich in diaristischen Besinnungstexten niederschlägt (vgl. hierzu Teil II).
Die besondere Bedeutung, die dem Tagebuch in einer Situation zukommt, die durch die Koinzidenz von nationaler und psychischer Krise gekennzeichnet ist, verweist auf die heilende Kraft der Sprache und des Schreibens und auf die durchlässigen Grenzen zwischen Literatur und (selbsttherapeutischer) erzählerischer Vergegenwärtigung des Lebens. Ausgehend von einem Randgebiet - der Laiendiaristik - wird so eine zentrale literaturwissenschaftliche Diskussion berührt.