Das Mädchentagebuch von Lieselotte G.

Die Tagebuchaufzeichnungen, die die Berliner Gymnasiastin Lieselotte G. in der zweiten Hälfte des Krieges schrieb, entsprechen weitgehend der traditionellen Vorstellung von einem>'richtigen< Tagebuch: Es sind Aufzeichnungen, die in einer spezifischen Phase der Persönlichkeitsentwicklung, der Adoleszenz, über einen längeren Zeitraum mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Ausführlichkeit geführt werden, die mit Tagesdatierung versehen sind, von den Erlebnissen der Verfasserin berichten und sich hierbei vorrangig auf die eigene Person beziehen, deren Gefühle, Überlegungen, Ängste und Vorsätze im Mittelpunkt stehen.
Im Tagebuch faßt die Heranwachsende immer wieder neue Lebensvorsätze und legt über ihr eigenes Verhalten Rechenschaft ab. Nur selten findet man Eintragungen über alltägliche Begebenheiten, die nicht zum Anlaß des Nachdenkens über sich oder die Welt werden.
Lieselotte beschäftigt sich im Tagebuch mit Themen, die für ihre Altersstufe charakteristisch sind. Die Heranwachsende versucht, teilweise in Abgrenzung von den Eltern, sich aus dem kindlichen Wertesystem zu lösen und zu neuen Handlungsorientierungen zu kommen. Schreibend will sie die »unhaltbar verrinnende (...) Kindheit« (25. Juni 44) festhalten. Der oft kritische Blick auf die eigene Person, die Schilderung der emotionalen Schwankungen und die Empfindsamkeit für Kränkungen sind charakteristisch für die pubertäre Selbstbezogenheit. Verletzt notiert sie z.B. am 7. Mai 1944:

Heut hab ich etwas Furchtbares erlebt. Ich bin ganz tief gedemütigt. Heute musste ich beim Essen bei Elise vorsitzen. Da hat sie mir gesagt, ich hielte meine Gabel falsch. Der ganze Tisch hat es gehört. Es ist so furchtbar, so furchtbar. Was sollen die anderen von mir denken.

Einige Seiten später liest man im Tagebuch:

Es sind 2 Welten in mir. Die eine ist hell u. jubelnd, voller Glück, Frieden, Liebe, Sonnenschein u. Seligkeit. (...) Die andere ist dunkel und schwer, vergrübelt sich in das Leid der Menschheit, hadert mit dem Willen Gottes, krampft sich zusammen beim Unglück anderer. (30.5.1944)

Die schwärmerische Fernliebe zu einer Lehrerin, ein beinahe schon klassischer Topos der Jungmädchentagebücher aus der Kaiserzeit und aus der Weimarer Republik[26], wird zum Hauptgegenstand der Aufzeichnungen. Die Bedeutung dieser Liebe zum Ideal für die jugendliche Schreiberin behandelt der erste Interpretationsteil. Die Idealisierung der Angeschwärmten dient Lieselotte G. zum Entwurf und zur Erprobung der neuen Rollenanforderung des Frauseins.
Lieselottes Vorstellungen sind hierbei eng mit nationalsozialistischen Weiblichkeitsidealen verknüpft.
Im zweiten Teil geht es um den Zusammenhang von Schreiben und Lebensbedrohung, um das Schreiben gegen die Angst. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern die Tagebuchaufzeichnungen Lieselotte G. helfen, die Erfahrungen der Bombennächte zu bearbeiten. Die Bemühungen der Jugendlichen, ein eigenes Weltbild zu entwerfen, der Wertekonflikt zwischen Elternhaus und gesellschaftlich geforderten Haltungen sind Gegenstand des dritten Untersuchungsabschnittes. Hierbei geht es letztlich um die Überformung und Funktionalität bildungsbürgerlicher Werte für NS-konforme und kriegsunterstützende Haltungen, wie ich vor allem an Hand von Lieselottes Auseinandersetzung mit dem Opferdenken darstellen werde. Die Frage nach den Besonderheiten der Mädchensozialisation im Nationalsozialismus steht bei der Analyse der schrittweisen Loslösung der Tagebuchautorin von Führer- und »Endsieg«-Glauben im Mittelpunkt.

Biographische Notiz

Lieselotte G. war 14 Jahre alt, als sie im Sommer 1942 ihr Tagebuch begann. Sie lebte mit ihrer Familie in Berlin-Friedrichshagen. Ihr Vater war Sozialdemokrat und wurde 1933 aus seiner Stellung als Stadtoberinspektor entlassen. Er arbeitete in den folgenden Jahren freiberuflich. Durch ihn war Lieselotte mit einer eher regimefeindlichen Haltung konfrontiert; die Mutter lebte in ständiger Sorge, die Haltung ihres Mannes könnte die Familie in politische Schwierigkeiten bringen.
Lieselotte besuchte bis Ende 1943 das Friedrichshagener Lyzeum. Wie mir die Verfasserin in einem Gespräch 1990 erklärte, hat die Spannung zwischen den Orientierungen im Elternhaus und in der Schule ihre gesamte Jugend geprägt. Ihre Deutschlehrerin, die deutschnational und sehr religiös war, wurde zu einem wesentlichen Orientierungspol für die Überzeugungen der Schülerin.
Lieselotte wurde im Februar 1944 im Rahmen der Kinderlandverschickung evakuiert und besuchte bis März 1945 ein Internat in Sachsen. In den letzten Kriegstagen im April 1945 kehrte sie aus eigenem Entschluß zu ihrer Familie nach Berlin zurück. Zu diesem Zeitpunkt meldete sich ihr 18jähriger Bruder Bertel freiwillig zum Volkssturm, geriet bei Kämpfen in Lankwitz in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Herbst 1945 schwerkrank zurückkehrte. Auch ihr Vater mußte sich zum Volkssturm melden, konnte jedoch kurz nach Kriegsende zur Familie zurückkehren.
Vom Sommer 1942 bis zum Frühjahr 1945 füllte Lieselotte im Verlauf von knapp 3 Jahren 3 kleinformatige Schreibhefte mit einer meist recht ordentlichen Schulmädchenschrift. Nur im ersten Schreibjahr kam es zu mehrwöchigen Pausen zwischen den Eintragungen, ab November 1943 bis zum Ende des dritten Tagebuchs finden sich jeden Monat mehrere, oft längere Aufzeichnungen.
Lieselotte G. hat ihr Jugendtagebuch erst 1989 wieder gelesen und war im nachhinein über einen Teil ihrer Eintragungen schockiert, vor allem über solche, die politische Einschätzungen betrafen. Sie deckten sich nicht mit ihrer Erinnerung. Sie hatte geglaubt, dem Nationalsozialismus weitaus distanzierter gegenübergestanden zu haben. Bis heute schreibt die Verfasserin zuweilen Tagebuch, vor allem in Phasen emotionaler Bewegtheit. Das Schreiben, meint sie, verschaffe ihr augenblickliche Erleichterung. Ihre Erinnerungen hält sie aber auch fest, um sie später nachlesen zu können. Nun beginnt ihre Tochter, sich für die Tagebücher der Mutter zu interessieren. Obwohl die Schreiberin ihr diese nicht vorenthalten will, sei es doch ein »dummes Gefühl« zu wissen, daß jemand ihre Aufzeichnungen einmal lesen will.

Liebe zum Ideal

Es gibt noch echte deutsche Menschen (...). Bin ich das auch? Ach, ich möchte es werden, gern von ganzem Herzen, dem nachzustreben, eine tapfere deutsche Frau werden nach ihrem Vorbild, das sich im Himmel meiner Seele gestaltet zu einem verklärten Etwas von unendlicher Klarheit umstrahlt, weit über alle menschlichen Schwächen und Fehler erhaben, kurz, mein Ideal von Gott gesandt, das soll das Ziel u. die Erfüllung meines Lebens sein. (29.7.1942)

Bereits in ihrem ersten Tagebucheintrag formuliert die 14jährige ihr programmatisches Anliegen. Die Arbeit an der eigenen Person, orientiert an dem idealisierten Vorbild ihrer Deutschlehrerin, ist der Brennpunkt ihrer diaristischen Bemühungen. Die Liebe zum Ideal dient ihr zur Profilierung des Ich-Ideals und der Erarbeitung eines Frauenbildes, das eng mit den gesellschaftlich herrschenden Vorstellungen verknüpft ist und letztlich auf Entsexualisierung, Verzicht und Opferbereitschaft rekurriert. Das Ziel der Wünsche der Jugendlichen, die Liebe von Frau L. zu gewinnen, ist zugleich auch eine Forderung an die eigene Person, verknüpft mit dem Willen zur Selbstveränderung und -findung.
Liebe ist ein bevorzugter Gegenstand von Poetisierungen und ein wesentliches Motiv diaristischer Aktivität. Im Vorwort seiner vor allem an Schulen vielgelesenen Tagebuchaufzeichnungen definierte Friedrich Hebbel sein Tagebuch als »Notenbuch« seines Herzens (1966, 7). Daran fühlt man sich erinnert, wenn Lieselotte G. klagt, dem selbstgesteckten Anspruch an ihr Tagebuch nicht gerecht zu werden:

Ach, wenn ich doch alles recht schön ausdrücken könnte, was ich denke, da sagt man nun, ich schreibe gute Aufsätze und ich kann noch nicht mal die Gedanken meines Herzens richtig niederlegen. (23.8.1942)

Deutlich wird an dieser Stelle die komplexe Motivierung des Schreibens. Lieselotte will ihre Gefühle sprachlich angemessen ausdrücken können, schreibend beweist sie sich aber auch als gute und folgsame Schülerin der verehrten Lehrerin, gewillt, gute Aufsätze zu schreiben und ein anspruchsvolles Tagebuch zu führen. Die Wortwahl und die Bildlichkeit, mit deren Hilfe sie in den kommenden Jahren immer wieder versucht, ihre Gefühle für die Lehrerin in Worte zu fassen, kann man als literarisch ambitioniert bezeichnen. Zuweilen hat man den Eindruck, als lasse die Tagebuchautorin in der Häufung expressiver Formulierungen kaum eine Wortwendung aus, wie sie im Kontext empfindsamer Gefühlskultur beziehungsweise ihrer trivialisierten Nachschriften entstanden sind. So schreibt Lieselotte z.B. unmittelbar vor ihrer Abreise ins Internat, mit der eine Trennung von der Lehrerin verbunden ist:

23. Jan. 44 Oh, Frau L., wenn sie wüssten, welche Sehnsucht in mir ist, wenn Sie wüssten, wie mein ganzes Sein nach Ihnen schreit, nach Ihrer geliebten Nähe (...) geliebte Frau, mein Herz verbohrt sich in den Augenblick, da ich wieder für Stunden bei Ihnen bin. (...) Ich habe nie gewusst, wie selig u. wie verzehrend die Sehnsucht nach einem geliebten Menschen sein kann!

Frau L. wird im Verlauf des Tagebuchs zum häufigsten Schreibanlaß und löst eine Fülle von Emotionen aus: Verzückung, Verzweiflung, Enttäuschung und Sehnsucht. Frau L. repräsentiert zugleich das Gute per se, das alter ego, das Ideal einer deutschen preußischen Frau. Um ihr nachzustreben, faßt die Tagebuchautorin immer neue gute Vorsätze. »Lass mich so werden wie Frau L.«, bittet sie Gott (21. März 1943). Haltung will sie zeigen, willensstark und angstfrei sein, opferbereit und siegesgläubig. Die Dramatik des psychischen Konfliktes wird offensichtlich, wenn Lieselotte G. die Schmerzen der Trennung mit der Passionsgeschichte vergleicht: »Ich glaub nicht, dass ich Frau L. in den Ferien wiedersehe. Meine grösste Kraft ist mein Gott. Es ist ja alles sein Wille so, Christus hat auch gelitten (...)« (6. April 1944). Die in der heftigen Emotionalisierung, den Formulierungen von Schmerz, Angst und Begehren eingeschriebene Sexualisierung scheint bei vielen Textpassagen durch. Deutlich wird der Wunsch, die geliebte Person ganz besitzen zu wollen, in der Beschreibung ihrer Konfirmation, die in Lieselottes Schilderung eher an eine Trauung erinnert. Frau L. und sie selbst stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Die Familie und die Mitkonfirmanden werden nicht erwähnt:

21.[3.43] Nun ist der grosse Tag vorbei. Es war sehr schön. (...) Ich habe Frau L. gelobt, ein guter Mensch zu werden und eine gute Deutsche. Sie ist mit mir zum Altar gegangen, sie hat mit mir den Leib und das Blut Jesus empfangen. Ich habe sie gebeten, mich auch im ferneren Leben zu begleiten.

Initiationserlebnisse wie Begegnungen mit der ersten Liebe, der erste >richtige< Kuß oder hier das erste Abendmahl sind ein bevorzugter Gegenstand der jugendlichen Berichterstattung im Tagebuch. Im religiösen Initiationsritual von Konfirmation und erstem Abendmahl ist die Verknüpfung von gefordertem Verzicht und der Bereitschaft zum Leid als Preis des Eintritts in die Erwachsenenwelt unmittelbar präsent. Die Einverleibung von Hostie und Wein repräsentiert die Verinnerlichung christlicher Werte. Die Opfer der Selbstdisziplinierung durch die Einhaltung der Gebote, die von der jugendlichen Initiantin gefordert werden, scheinen gering im Vergleich zum Märtyrertod des Gottessohnes. Daß diese religiösen Forderungen mit gesellschaftlichen Imperativen verknüpft werden und religiöser und nationaler Opfergedanke sich vermischen, zeigt sich nicht nur an Lieselottes Entschluß, ein »guter Mensch« und »eine gute Deutsche« zu werden, sondern auch am Fortlauf ihrer Schilderung. »Die Feier war still. Es war ja Heldengedenktag. Deutsche Männer kämpfen an allen Fronten. (...) Pfarrer Krüger sagte: >Das Leben ist ein Kampf, wenn diese Kinder von ihm auch noch nichts wissen.<«
Das Initiationserlebnis, bei dem - wie für solche Rituale typisch Verzicht und Verheißung in der Vorstellung eng verknüpft werden, wird für die Jugendliche zum Anlaß, im Tagebuch ihre Wünsche der umschwärmten Lehrerin gegenüber thematisieren zu können. Daß das gemeinsame Abendmahl-Ritual in der schriftlichen Verarbeitung als Empfangen von Blut und Leib eine sexuelle Konnotation bekommt und die Formulierung: »Sie ist mit mir zum Altar gegangen« an eine Eheschließung erinnert, ist Lieselotte sicher nicht bewußt, dennoch aber bezeichnend.
Die Verehrung der Lehrerin ist zum einen mit dem Willen, eine Frau zu werden, verknüpft und zum andern ganz eng mit dem Wunsch, Kind bleiben zu dürfen. So wenig zufällig wie unvermittelt schreibt Lieselotte beim Bericht über ihre Konfirmation: »Ich war so stolz auf meine Zöpfe und will sie nie abschneiden« (21. März 1943). Die Zöpfe haben für Lieselotte einen hohen symbolischen Stellenwert, sie kommt mehrfach im Tagebuch darauf zurück. Sie sind für die Jugendliche wohl in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einerseits als Symbol der Kindheit, andererseits aber gelten Zöpfe im Nationalsozialismus als Markenzeichen für echtes weibliches Deutschtum. Lange Haare repräsentieren Sinnlichkeit, das Geflochtene wiederum verweist auf die Bändigung der sinnlichen Fülle. In späteren Eintragungen, in denen sie sich explizit mit dem Abschied von der Kindheit beschäftigt, taucht das Problem der Haartracht von neuem auf:

Dienstag, d. 1.8.44 Der Traum der Kindheit ist ausgeträumt. Einmal musste es ja doch sein. (...) Nie wieder werde ich auf unserer Schule sein mit all den alten Mädels. Sie sind ja so anders geworden. Ilse ist verlobt, Rommi, Thy u. Knulli haben Dauerwellen, niemand hängt so an der alten Zeit wie ich. (...) Ich habe abgeschlossen mit der Richard-Wagner-Schule, mit meiner Klasse, meinen Freundinnen Rommi u. Thy. (...) Ich weiss nicht, ob ich Frau L. mitnehmen soll. Ihr Bild ist mir in der langen Zeit sehr verblasst. (...) Die anderen denken schon alle an Heiraten. Ich bin dazu viel zu kindlich. Auch bin ich so klein u. Mutti sagt, ich dürfte jetzt nicht mehr mit Zöpfen gehen. Da hab ich sie aufgesteckt. Zum Knoten sind sie zu dick.

Friedenssehnsucht und Heimweh mischen sich mit einer für die Loslösungsphase typischen Melancholie, die das Verlassen der beschützten, überschaubaren Kinderwelt begleitet. Einsamkeit und Trauer der Tagebuchautorin werden dadurch verstärkt, daß ihre Freundinnen den Schritt aus der Kinderwelt heraus schon wagen wollen, was sie durch die neuen Frisuren nach außen hin demonstrieren. Die verstärkte Schreibaktivität in der Jugendphase erklären Entwicklungspsychologen als eine der Ausdrucksformen des »psychosozialen Moratoriums« der Adoleszenz (Erikson 1959). Lieselotte Aufzeichungen belegen recht eindrücklich, daß Jugendtagebücher als »Krisenbewältigung durch Schreiben« interpretiert werden können, als ein Mittel, Depersonalisierungsängsten zu begegnen, die den Statuswechsel von der Kinder- in die Erwachsenenwelt begleiten (Haubl 1984, 295). Die Lehrerin ist ein Bindeglied zwischen der alten Welt der Schule, die Lieselotte zu verlieren fürchtet, und der neuen Welt des Frauseins, die ihr Angst macht.
Die Liebe zu einem unerreichbaren Ideal wird von psychologischer Seite als ein Weg interpretiert, mit der noch ungewissen Geschlechtsrollenidentität umzugehen. Ihre Dynamik erhält sie durch die widersprüchlichen Gefühle der pubertären Übergangsphase (Haubl 1984, 297). Frau L. dient auf der einen Seite als Projektionsfläche für die stürmischen Wünsche der Jugendlichen. Die Distanz und die Idealisierung sind andererseits der Garant dafür, daß diese unerfüllbar bleiben. Für Lieselotte steht Frau L. so hoch über ihr, daß sie sie nicht wirklich erreichen kann, aber gerade diese Unerreichbarkeit macht sie so begehrenswert. Eine Lösung des Paradoxons liegt in der Identifizierung mit dem Objekt des Begehrens. Wenn sie sie schon nicht erreichen kann, dann will sie wenigstens so werden wie sie: Das Vorbild wird zum Ich-Ideal.
Im Bild der reinen, entsexualisierten Heiligen macht die Tagebuchautorin sie gleichsam unantastbar. Dem Begehren darf die Verfasserin sich hingeben, weil Frau L. unerreichbar und rein scheint. Diese Distanz prädestiniert die Lehrerin dazu, als Vorbild zu fungieren. Die Fernliebe, noch dazu zu einer Frau, ermöglicht es Lieselotte, ihre Emotionen an eine Person zu binden, die einerseits zum Objekt des Begehrens wird, andererseits aber Schutz vor den neuen Gefühlen bietet.
Da Lieselottes Ideal durch seine Unerreichbarkeit lebt, bringt die einzige Begegnung der Schülerin mit der umschwärmten Lehrerin während der Zeit der Evakuierung einen erheblichen Einbruch in die Wunschwelt mit sich. Während des Ferienaufenthalts in Berlin im August 1944 beschäftigt sich Lieselotte im Tagebuch vorrangig mit der Frage, ob sie mit der Lehrerin ein Treffen vereinbaren soll, das sie fürchtet und herbeisehnt und letztlich in die Wege leitet. Im Tagebuch berichtet sie von dieser Begegnung:

Sonnabend, d. 27. Aug. 1944. Nun bin ich wieder frei. Ich fühle mich so gelöst u. glücklich wie selten. Was ist denn geschehen? Heute rief Frau L. bei mir an, wir wollten uns um 3 h Bh. F'hagen treffen. (...) Um 1/2 5 kam Sie. Ich sah sie die Treppe herunterkommen, gab ihr die Hand, u. eine tiefe schmerzliche Enttäuschung durchzuckte mich. Sie hatte leicht angemalte Lippen u. Augenbrauen. (...) Mir war es wie im Traum, aber einem bösen schweren Traum. Ich sagte kaum ein Wort, sah sie auch nicht an. Es war in mir nicht mehr die gläubige Ergebenheit in alles, was sie sagte, es war viel Trotz u. glaube ich gekränkter Stolz. Ich liebte diese Frau vor mir nicht. Ich hätte sie hassen können; - wenn ich wollte. - Aber ich wollte nicht. (...) Während der Bahnfahrt war sie unsagbar lieb zu mir u. als wir nachher noch im Kurpark spazieren gingen, küsste sie mich ... Aber ich verschloss mein Herz der Liebe. Ich hätte es öffnen, hätte ihre Liebe in mich einströmen lassen können. Aber ich wollte nicht, denn ich liebte in Ihr ja meine deutsche Frau. Und die schminkt sich nicht. (...) Während ich dies schreibe, fühle ich, wie die Eisschicht langsam von mir abfällt. Ich weiss, dass ich Sie doch noch liebe, aber ich weiss auch, dass ich nicht mehr die Frau liebe, die mein Frauenideal, nachdem sie selbst es mir geschenkt u. verherrlicht hat, verriet. (...) Ich will Sie weiterlieben, aber es wird nicht mehr Frau L. sein. Darum darf ich Sie nie mehr wiedersehen. (...) Dem Frauenideal will ich mein Leben lang treu bleiben.

Bekannt ist, daß in Aufenthaltsräumen des BDM häufig ein Bild der rauchenden und stark geschminkten Marlene Dietrich mit der Unterschrift »Dies ist keine deutsche Frau« hing. Das nationalsozialistische Frauenideal, auf das Lieselotte hier rekurriert, bot allerdings durchaus divergierende Frauenbilder an und war keinesfalls so gradlinig, wie die Pubertierende es hier rezipiert. Hans-Dieter Schäfer weist auf die schwüle Erotik vieler NS-Frauendarstellungen hin und berichtet u.a. auch von Kosmetikkursen, die im Rahmen des BDM angeboten wurden (1985, 159f.). Die Sexualfeindlichkeit und die Lustabwehr, die dem NS-Frauenbild inhärent sind, hat Klaus Theweleit materialreich nachgewiesen (1977 u. 1978).
Interessant ist, wie Lieselotte sich hier Aspekte des herrschenden Frauenbildes zunutze macht, um Frau L. in der Rolle der idealisierten Fernliebe zu besitzen und zu bannen. Die Lustabwehr ist in ihrer Beschreibung deutlich herauszulesen. In Reaktion auf die geschminkten Lippen, die Weiblichkeit und Sinnlichkeit repräsentieren, ersterben ihre Gefühle; sie >verschließt sich der Liebe<, wird wie Eis. Die gelungene Sexualitätsabwehr und Selbstpanzerung bringt ihr Erleichterung, sie fühlt sich nach der Begegnung »gelöst«, »frei« und »glücklich«. Das Sexualtabu, die Ängste scheinen bei Lieselotte so massiv gewesen zu sein, daß sie Sinnlichkeit hier und Liebe und Zärtlichkeit dort vollkommen voneinander trennen muß. Daß die Lehrerin nun Zeichen von Sinnlichkeit zeigte, bringt für Lieselotte die Notwendigkeit der Trennung mit sich. Die Jugendliche ist in ihrem Abspaltungsbemühen so strikt, daß sie die Idealisierte selbst orthographisch in zwei Personen trennt: »sie«, kleingeschrieben, der Mensch mit Schwächen und Symbolen von Sinnlichkeit, und »Sie«, großgeschrieben, die Heilige und Verkörperung des Frauenideals, an dem Lieselotte sich orientieren will. Erst die schriftliche Verurteilung der realen Frau macht es möglich, das Bild der Heiligen wieder lieben zu können. Allenfalls im nicht Aufgeschriebenen, den Punkten, die eine Auslassung signalisieren: nachher »küsste sie mich ...«, sind noch die Spuren der unerfüllten Wünsche nach Zärtlichkeit und Erotik spürbar.
Lieselotte versucht nach der Begegnung mit Frau L., ihre Idealvorstellung von der Fixierung auf die Lehrerin zu lösen. Als sie jedoch zwei Wochen später erfährt, daß der Ehemann der Lehrerin im Krieg umgekommen ist, schreibt sie, »mir ist, als hätte ich meinen Mann verloren.« »Vielleicht wird Sie durch diesen Verlust ganz das, was ich mir aus Ihr gemacht habe. Geliebte Frau« (19. November 1944). »Frau L. steht wieder über meinem Leben in unangetasteter Reinheit als die Heilige meines Lebens. Sie ist für mich durch das Leid noch grösser geworden« (4. Januar 1945). Die umschwärmte Lehrerin ist für Lieselotte durch den Tod des Ehemannes noch geeigneter für eine lustabwehrende Idealisierung. Sie ist vom Makel möglicher Sinnlichkeit befreit und kann wieder als Heilige Objekt des Begehrens werden.
Die Schreibaktivität im Tagebuch dient Lieselotte zur Desexualisierung ihrer Wünsche und ist gleichzeitig ein Weg, sich zu den neuen Gefühlen zu bekennen und sie bearbeiten zu können. Vertreterinnen der psychodynamischen Theorien würden Lieselotte G.s Tagebuch als klassisches Zeugnis einer gelungenen »Kulturpubertät« deuten, bei der die kulturelle Aktivität der Jugendlichen Triebspannungen abbaut und sublimiert (Bühler 1922 u. 1927). Mir scheint es jedoch wichtig, auf das Leidenspotential und die Ängste hinzuweisen, die aus den gesellschaftlichen Restriktionen resultieren. Lieselottes Konflikt entsteht primär aus dem Mangel an Vorgaben, wie erotische und zärtliche Bedürfnisse angstfreier miteinander zu verbinden sind. Weniger der »Trieb« als die mit ihm verbundenen Ängste, die die Folge der Verbote und Geheimhaltungen sind, werden somit zum Anlaß des Schreibens. Das pubertäre Pathos läßt sich so als Symptom des Mangels deuten. Die Dramatik und Trauer weisen auf das Konfliktpotential hin, das für Jugendliche aus der Tabuisierung von Sinnlichkeit und den gesellschaftlichen Forderungen nach Verzicht und Selbstbeherrschung entsteht.
Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird hinter den jugendlichen Deutungsmustern und Theoriebildungen das eigene Begehren verborgen, das vom Persönlichen ins Allgemeine transzendiert wird (Bernfeld 1924). Zudem scheint mir die partielle Umkehrung der Ursache-Folge-Wirkung bedeutsam, die Mario Erdheim im Rahmen seines ethno-psychoanalytischen Ansatzes versucht. Erdheim betont die gesellschaftliche Prägung der individuellen Wunschartikulation. Die Gesellschaft forme in der Phase der Adoleszenz die Charaktere, die sie braucht, strukturiert und sanktioniert die individuelle Wunschproduktion (1988, 294). Die Form der Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen gibt das Modell ab für die Art und Weise, wie Jugendliche sich der Gesellschaft und insbesondere der Herrschaft gegenüber verhalten lernen.
Die Paßgenauigkeit, mit der in Lieselottes Tagebuch eine schwärmerische Liebe und kriegskonformes Denken ineinander greifen, hat etwas Beklemmendes. Die Fernliebe dient Lieselotte zum Entwurf einer weiblichen Geschlechtsidentität. Sie ist eng verknüpft mit ihrem Abschied von der Kindheit und in ihrer Emphase Ausdruck der Sehnsüchte der Jugendlichen nach Liebe und Geborgenheit, aber auch Ausdruck eines ungelösten Konfliktes zwischen den zärtlichen und den für die Tagebuchautorin beängstigenden sinnlichen Wünschen. In der schriftlichen Verarbeitung kann sie ihre Wünsche und Sehnsüchte eingestehen und zulassen, um die sinnlichen Wünsche letztlich im Bild der reinen Liebe zu bannen. Das Bild der heiligen Frau L. kann und darf Lieselotte lieben, während der reale Mensch sie an die schmerzliche Zurückweisung, die Schranken, aber auch an die Gefahren der Liebe erinnert. Das pubertäre Anliegen nach Kontakt zur geliebten Person auf der einen und idolisierender Ferne auf der anderen Seite wird mit der gesellschaftlichen Norm verknüpft, Erwachsenwerden bedeute die Bereitschaft zu (Menschen)Opfer und Verzicht.

Schreiben gegen die Angst

Der Alltag im Bombenkrieg ist das zweite Leitthema der autobiographischen Aufzeichnungen Lieselottes. Über einen Zeitraum von 3 Monaten von Ende November 1943 bis Mitte Februar 1944 berichtet sie vorrangig über die Zerstörung der Stadt und ihre Erlebnisse im Luftschutzkeller.
Zu dieser Zeit wird die Reichshauptstadt bevorzugtes Ziel westalliierter Luftangriffe. Der Winter 1943 / 44 wird von Serien schwerer nächtlicher Angriffe begleitet. Lieselotte verbringt viele Nächte im Luftschutzkeller und muß oft auch tagsüber Schutz suchen. Ihr Wohnhaus übersteht das Bombardement zwar verhältnismäßig unbeschadet, aber Bekannte der Familie werden ausgebombt. Lieselottes Schule brennt aus, und der Unterricht wird vorübergehend unterbrochen.
Eine der Reaktionen der Regierung auf das Städtebombardement war die Evakuierung von Jugendlichen und Müttern mit kleinen Kindern in ländliche Gegenden Deutschlands. Auch Lieselotte G. verließ am Anfang des Jahres 1944 im Rahmen der sogenannten »Kinderlandverschickung« Berlin. Da sie erst kurz vor der Eroberung Berlins, zu einem Zeitpunkt, als die Westalliierten die Bombardierung der Stadt bereits eingestellt haben, aus der Evakuierung wieder zurückkehrt, muß sie die Luftangriffe der Jahre 1944 und 1945 nicht miterleben. Das Thema spielt daher im weiteren Verlauf des Tagebuchs keine Rolle mehr.
Lieselotte schreibt im Winter 1943 / 44 weitaus häufiger und ausführlicher als sonst. Erst nach ihrer Rückkehr nach Berlin ab Mitte April 1945 findet man wieder eine vergleichbar dichte Folge ausführlicher Eintragungen. Die verstärkte autobiographische Schreibtätigkeit steht in Zusammenhang mit der Massivität der Bedrohung und den nachhaltigen Einbrüchen des Bombardements in den normalen Verlauf des Lebens.
Das Tagebuch gilt als Zufluchtsort in Phasen innerer und äußerer Bedrängnis. Im folgenden werde ich der Frage nachgehen, mit welchen Mitteln die Jugendliche versucht, ihre Angst schreibend zu lindern und traumatische Erfahrungen zu bearbeiten. Die Suche nach Rückhalt im nationalen Kollektiv und die Selbstvergewisserung als gläubige Christin sind Lieselottes Strategien, mit deren Hilfe sie hofft, Tröstung und Schutz zu finden. Leitsprüche aus religiösen,
literarischen oder volkstümlichen Kontexten helfen der Tagebuchautorin bei der Einbindung ihrer Ängste in einen allgemein-menschlichen Sinnzusammenhang.
Ausführlich beschreibt Lieselotte die Vorbereitungen und den Verlauf des Weihnachtsfestes 1943, das durch die permanten Luftangriffe, die Kriegsnot, vor allem aber durch die Atmosphäre der Angst immer wieder in Frage gestellt wird. Die Weihnachtsfeier und deren Gefährdung durch den Krieg beschäftigt die Jugendliche schon 2 Wochen im voraus:

Ach, die Menschen sind so schlecht u. so klein. Alles, alles wollen sie mir nehmen, all meine Ideale, all das, was das Leben schön macht. Aber es soll und soll ihnen nicht gelingen! Es soll diesmal keine Weihnachtsbäume geben, das ist bitter, aber bitterer noch ist, dass alle Leute sagen: »Was sollen wir auch mit Weihnachtsbäumen, man hat ja in dieser Zeit doch keinen Sinn für Weihnachten.« Heut hab ich T. Else einen elektr. Ofen gebracht und eine Wolldecke hingebracht, weil sie »angebombt« sind. Sie, die ich für fromm hielt, sagte: »Ich bin nicht für Weihnachten feiern, das ist alles Quatsch, wenn es einen Gott im Himmel gäbe, so würde er das alles, was jetzt geschieht, nicht zulassen.« Wie kleingläubig sind doch die Menschen! (...) Von Tag zu Tag wird es schwerer den Kopf oben zu behalten. Jetzt wird der Krieg total. Bertel kommt Weihnachten nicht auf Urlaub. (...) Mutti sagt, dann würden wir gar nicht Weihnachten feiern. (...) Also auch sie. (8. und 9.12.1943)

Weihnachten ist das Fest der (heiligen) Familie und als solches in der Regel ein bedeutsamer Höhepunkt der kindlichen Erlebniswelt. Die Infragestellung des Festes repräsentiert insofern für die Jugendliche auch einen Verlust der Welt kindlicher Geborgenheit, die durch die Bedrohungen des Krieges ohnehin nachhaltig genug bedroht wird. Die Vehemenz und der Verallgemeinerungsgrad, mit der das schreibende Ich sich hier in regelrechten sprachlichen Kraftakten allein gegen die >böse Welt<, die >schlechten Menschen< stellt, ist als eine entwicklungsspezifisch typische Generalisierung zu deuten, mit der die Jugendliche sich enttäuscht von der Außenwelt abgrenzen will. Zum Schreibzeitpunkt wird die zunehmend prekäre militärische Situation Deutschlands immer offensichtlicher. Die von der Kriegspropaganda als »Winteroffensive« angekündigten Kämpfe an der Ostfront endeten in einer Abfolge verlustreicher Niederlagen und überstürzter Rückzüge. Die fortwährenden Bombardierungen der Westalliierten zeigen die technologische Überlegenheit und stärken das Ohnmachtsgefühl der Bevölkerung. Im Kampf gegen den Kleinmut der Menschen wehrt sich Lieselotte auch gegen ein verbreitetes Stimmungstief, das der Jugendlichen Angst macht. Lieselotte beendet ihre Überlegungen zum bevorstehenden Fest mit einem vehementen Plädoyer zum Feiern unter allen Umständen:

Ich meine, gerade in dieser schweren Zeit ist es richtig, Weihnachten zu feiern. (...) Ich werde Weihnachten feiern, wenn alle anderen es falsch und herzlos finden, zu feiern, wo andere in Not sind, und ich werde auch noch Weihnachten feiern, wenn ich auf der Strasse sitze und meine Wohnung kaputt ist, alle Lieben tot sind und ich selbst ein Krüppel bin. Ich werde die Flamme meines Herzens hochzuhalten wissen in Not und Gefahr, damit sie nicht im Dreck der anderen Menschen verlischt. (8.12. 1943)

Die Maßlosigkeit der Vorstellung, unter welch grauenhaften Bedingungen die Jugendliche immer noch bereit wäre, Weihnachten zu feiern, führt gerade in ihrer Überzogenheit den heutigen Leserinnen vor Augen, wie weit die Gewöhnung an Tod und Destruktion im vierten Kriegs]ahr schon fortgeschritten ist. Die Passage erinnerte mich an die Aufzeichnungen einer jungen Lübeckerin, die 1942 kurze Zeit nach ihrer Ausbombung im Tagebuch darüber nachdenkt, ob es vorzuziehen sei, blind, bein- oder armamputiert zu sein (B. 251). Die Beschwörung der schlimmsten Umstände dient Lieselotte aber auch dazu, der selbstauferlegten Verpflichtung zum Feiern das Gewicht eines Schwures zu verleihen. Derartige Gelübde kann man häufig in Tagebüchern finden. Die »Flamme des Herzens« ist eine Metapher für eine an hohen Idealen orientierte heroische Haltung und bezieht sich auf ein traditionelles Symbol der Reinigung und der Rettung. Die »Flamme« steht aber auch für Leidenschaft und Kraft: »Was aber endlich doch siegen wird, ist das Feuer der deutschen Jugend«, lautete ein populärer zeitgenössischer Poesiealbenspruch - eine Sentenz, die den Aufbruchwillen der Jugendbewegung ausdrückte, an den die Nationalsozialisten anzuknüpfen wußten. In Abwehr der bedrohlichen Kriegsrealität will die Tagebuchautorin ein heroisiertes jugendliches Ich, das sich durch nichts anfechten läßt, starkmachen.
Ihr nachdrückliches Plädoyer für die Weihnachtsfeier ist auch die Verteidigung eines letzten Schutzraumes, den die Jugendliche dem Krieg abzutrotzen versucht: »Ich meine gerade in der Not sollte man auf Gott ganz fest vertrauen. Ich glaub so fest an ihn, und in mir ist solch Friede, dass mir kein Unglück was anhaben kann«, schreibt sie am 8. Dezember 1943. Im Verlauf des Winters 1943 / 44 gewinnt der Bezug auf religiöse Traditionen für Lieselotte zunehmend an Bedeutung. Die religiösen Besinnungen sind mit dem Willen verknüpft, allen äußeren Widrigkeiten zum Trotz innerlich Frieden zu finden. Die äußere Bedrohung regt zur Produktion eines Innenraums an, der hilft, sich zumindest in der Vorstellung von der destruktiven Realität zu lösen. In diesem Innenraum setzt sich Lieselotte als gläubige Christin von der Masse ab und baut sich einen Schutzwall gegen die Gefährdungen des Krieges. Lieselottes Tagebuch ist von gebetsähnlichen Anrufungen und dem Wunsch, sich Gottes Schutz unterstellen zu können, durchzogen. Einen Tag nach einem starken Bombardement am 29. Dezember 1943 besteht ein mehrseitiger Tagebucheintrag hauptsächlich aus der Abschrift religiöser Liedzeilen und Gebeten. Hier liest man unter anderem:

Wie unendlich tröstlich ist es doch, in Gedanken das Lied vor sich hinzusprechen (...) Dein Wort ist wahr u. trüget nicht u. hält gewiss, was es verspricht, im Tod u. auch im Leben. Du bist nun mein u. ich bin dein, dir hab ich mich ergeben.

Mit dem Abschreiben von Gedichtzeilen und Bibelzitaten vergegenwärtigt sich Lieselotte Gottes Schutz. Die Anrufung Gottes und die Unterordnung unter seinen Willen sind der Garant der eigenen Identität. Nur durch die Überantwortung der eigenen Person kann sich die Schreibende als Gottes Kind erkennen und Anteil an seiner Gnade erhoffen. »Mach End, oh Herr, mach Ende. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst. Ich danke dir für Dein Wort«, schreibt Lieselotte zum Schluß. Die Schutzsuche im Glauben impliziert das Hinnehmen des Gegebenen und trägt somit dazu bei, sich der Kriegsrealität anzupassen. Diese Hinnahmebereitschaft läßt sich auch als eine Form der Rationalisierung einer umfassenden Ohnmachtserfahrung deuten. Zur Handlungsunfähigkeit verurteilt, ist Lieselotte im Luftschutzkeller ständiger Lebensgefahr ausgesetzt. Gibt sie das eigene Leben in die Hand der göttlichen Instanz, so kann sie dem möglichen Tod als gläubige Christin zumindest einen Sinn unterstellen.
Ein mehrseitiger Tagebucheintrag vom 3. Januar 1944 verdeutlicht den Zusammenhang von umfassender Ohnmachtserfahrung und dem Bedürfnis nach Halt und einem starken Ich. Lieselotte orientiert sich am Ideal, immer Haltung zu bewahren, das ihr als der Inbegriff preußischer Tugenden erscheint.

Diese Nacht war wieder ein entsetzlicher Angriff, sie kommen jetzt alle Tage. Man merkt richtig, wie die Nerven langsam kaputt gehen. (...) Wenn dann mit unvorstellbarem Krach die Bomben um dich her krachen, so greift der Tod mit eisiger Hand nach deinem Herzen. Nur einen Gedanken hast du: »wenn es doch aufhörte!« Aber es hört nicht auf, du meinst, im nächsten Augenblick müssten deine Nerven zerspringen, müsstest du aufschreien, aber du darfst ja nicht, mußt ja Haltung bewahren, darfst nicht schwach werden, denn das hat mir Frau L. geboten, u. Ihr Wille u. Vorbild gilt auch in Todesangst (...). Du wirst fragen, warum ich Angst hätte, wo ich doch fromm sei. Ja, antworte ich dir, ich bin fromm, glaube an Gott von ganzem Herzen, weiss, dass der Tod nichts Schlimmes ist (...), aber mein Herz ist zu schwach, die menschliche Angst vor dem letzten ist so unvorstellbar gross, dass im Augenblick des unmittelbaren Todes doch nichts übrig bleibt von Stärke u. Ergebenheit in Gottes Wille, als ein zitterndes Menschenherz. (...) Aber diese verfluchte Angst muss noch weg.

Auffällig ist die dialogische Struktur dieser Eintragung. Die existentiellen Ängste rufen dringliche Fragen hervor, die Lieselotte hier einem imaginären Gegenüber stellt. Bleibt im Luftschutzkeller, wie Lieselotte anschaulich beschreibt, von Glauben und guten Vorsätzen nur die »verfluchte Angst« übrig, so wertet die Todesbedrohung allen Opferideologien zum Trotz - das Ich nicht auf, sondern ab. Die Erfahrung, daß von einem selber nichts weiter übrig bleibt als ein »zitterndes Menschenherz«, schafft das Bedürfnis nach Ich-Stärkung. Charakteristisch ist hierfür der Versuch, selbst den grausamsten Erfahrungen einen positiven Sinn unterlegen zu wollen. So deutet Lieselotte ihre Kriegserfahrungen als religiöse Prüfung, die Gott dem Menschen auferlegt:

Das Leid ist nicht die Strafe Gottes, Leid ist etwas Grosses, Hohes; denn es macht den Menschen so stark, so es ihn nicht zerbricht. Wen es zerbricht, der ist des Leides nicht wert, er zerbricht nicht am Leid, sondern an seiner eigenen Schwachheit. (28.11.1943)

Die religiöse Argumentation ist durch das NS-konforme Deutungsmuster geprägt, das Sieg, Kampf und Stärke zum Maßstab des Guten macht. Wer im Kampf, hier gegen die eigenen Gefühle, unterliegt, ist nicht mal des Leides wert. Selbstüberwindung wird zum Maßstab des Selbstwertgefühls.
Als Orientierungsgröße gewinnt für Lieselotte neben der Religion das Kollektiv zunehmend an Bedeutung. Die bedrohte »Volksgemeinschaft« wird zum wesentlichen Bezugspunkt. Nach einem »schrecklichen Angriff« notiert die Jugendliche: »Etwas haben wir den Menschen früherer Generationen voraus, wir haben die Todesangst kennengelernt« (29. Dezember 1943). Die Bedrohung stärkt offenbar das Bedürfnis nach dem Kollektiv, und das Gefühl des geteilten
Leides gibt Trost: »Wenn um Dich her die Bomben sausen, dann ist es so tröstlich zu wissen, dass alle Menschen die gleiche Angst ausstehen, alle in derselben Lebensgefahr schweben«, notiert Lieselotte am 3. Januar 1944. Am darauffolgenden Tag liest man im Tagebuch:

Ich muss des deutschen Soldaten würdig sein. Der hat auch den Tod vor Augen. Eigentlich ist ja auch alles nicht so schlimm. Ganz Berlin hat die gleiche Angst. (...) So will ich tapfer sein im Leben u. im Sterben, will ein preussisch deutsches Mädchen sein, will so tapfer sein, wie alie Soldaten. (4.1.1944)

Das verstärkte Bedürfnis nach einem heroischen Verhältnis zum eigenen Selbst, das auf Verzichthaltungen dem Leben gegenüber aufbaut, läßt sich deutlich in Lieselottes Aufzeichnungen ablesen. Die männliche Fronterfahrung wird hierbei zu einem Orientierungspunkt für das eigene Verhalten. Lieselottes Aufzeichnungen sind in diesem Punkt symptomatisch dafür, daß das Flächenbombardement die Kriegsmoral der Bevölkerung nicht untergrub. Die Permanenz
der Bedrohung hat vielmehr das Gegenteil provoziert. Das Kollektivgefühl und die Feindbilder wurden gestärkt; in den gemeinsamen Bombennächten erlebten und erlitten viele ein Stück »Volksgemeinschaft« . Am Ende des Jahres 1943, nach einer Nacht mit wiederholten Alarmen und Angriffen resümiert Lieselotte G. noch einmal ihre Erfahrungen:

Wenn man aus dem Keller kommt, ist man so dankbar, daß man wieder 24 Stunden leben darf. »Wie Stehaufmännchen«, sagt Mutti, »eben sitzen sie noch in Todesangst im Keller, nach einer St. sind sie wieder quietschfidel in der Wohnung.« Aber das ist der ewige Sieg des Lebens. (29.12.1943)

Tatsächlich hat die »Stehaufmännchen«-Mentalität keinesfalls so »natürlich« gesiegt, wie es die Rede vom »ewigen Sieg des Lebens« nahelegt. Es bedurfte vielmehr einer großen psychischen Anstrengung, die sich hier auch an Lieselottes Schreibaufwand ablesen läßt. Im Prozeß des Schreibens kann man sich dem Schutz eines Stärkeren (sei es Gott oder die Gemeinschaft) unterstellen und seine eigenen Ängste kollektivieren und relativieren: (mit)geteiltes, mitteilbares
Leid ist halbes Leid.

Zweifel am >Endsieg<und Verpflichtung zum Opfer

Lieselotte versucht im Verlauf der Jahre 1942-1945, von ihrem 15. bis zu ihrem 18. Lebensjahr, in mühseligen Abarbeitungen Glaubensinhalte und gesellschaftlich geforderte Werte in ein möglichst widerspruchsfreies eigenes ethisches Konzept einzubauen. Sie gerät dabei in einen »inneren Zwiespalt«, der aus ihrer Auseinandersetzung mit familiären und gesellschaftlichen Wertvorstellungen und den eigenen Wünschen resultiert. Die Versuche, ihre Weltanschauung zu vereinheitlichen, sind deshalb interessant zu beobachten, weil ihre Loslösung von Führer- und Siegesglauben zusammenfällt mit der zunehmenden Legitimationskrise des Nationalsozialismus bis hin zum endgültigen Zusammenbruch des NS-Regimes. Lieselotte ist in der schwierigen Situation, in einer Ablösungsphase vom Elternhaus einen Weg zwischen religiösen Überzeugungen, den eher NS-konformen Wertvorstellungen, die ihr durch Schule und die
Gruppe der Gleichaltrigen nahegebracht werden, und der regimekritischen Haltung ihrer Eltern finden zu müssen.
In ihrem ersten Tagebucheintrag, dem Lieselotte die Überschrift »Das Ziel der Menschheit« gab, stellt die Jugendliche sehr prinzipielle Überlegungen zur aktuellen Situation und über das Wesen des Menschen im allgemeinen an. Wie in einer Erörterung wirft sie grundsätzliche Fragen auf, die sie dann teilweise zu beantworten versucht. Der Stil erinnert in Teilen an einen Reflexionsaufsatz für die Schule, in anderen Passagen an eine Sonntagspredigt:

29. VIII. 42
Das Ziel der Menschheit.
Krieg über der Menschheit. Dunkeles grauenschwangeres Wort. Tod, Verderben, Vernichtung. Warum? Warum gibt es noch Krieg? Weil die Menschheit noch nicht reif ist für den Frieden, weil noch in jedem Menschenherzen der Hass, die Selbstsucht wohnt. Das auszumerzen muß das Ziel der Menschheit sein. Schon viele wollten Frieden, auch die Sozialdemokraten wollten Frieden um jeden Preis. Um jeden. Auch um den Preis der Ehre, des Herzens, der Disziplin, kurz allem, was uns teuer ist. Sie schmähten den Soldaten, er sei Mörder, der seine Brüder abschlachte und ... Selbstmörder, der sich selbst der Vernichtung preisgäbe. Hier grenzt die Anschauung an Kommunismus. Sie haben in einem Recht Friede muss der Welt werden.

Auffällig ist der durch verkürzte Sätze, Satzstellungen und die Wortwahl fast poetisierende Stil sowie der hohe Abstraktionsgrad der Reflexionen. Es geht um »die Menschheit«, das schreibende Ich thematisiert sich auch auf den folgenden fünf Seiten nicht direkt. Dennoch ist der autobiographische Hintergrund, der Lieselottes Fragen so dringlich macht, erkennbar. Die 14jährige thematisiert hier zum ersten Mal einen Wertekonflikt, der im Verlauf des Tagebuchs immer wieder aufgegriffen wird. Gegen die sozialdemokratische, eher kriegsfeindliche Einstellung im Elternhaus und gegen die eigene Friedenssehnsucht steht die gesellschaftliche Forderung, den Krieg aktiv zu unterstützen und so zum Sieg beizutragen. Der umschwärmten Deutschlehrerin kommt als Gegenpol zum Elternhaus eine besondere Rolle zu. »Liebe Frau L., wir müssen beide recht doll an den Sieg glauben, dann werden wir auch siegen. Das deutsche Volk kann den Krieg ja nicht verlieren, nur daran glauben, immer daran glauben, liebe, liebe Frau L.!« schreibt Lieselotte am 21. Dezember 1942 in ihr Tagebuch.
Im März 1943, als die Nationalsozialisten propagandistisch die Niederlage von Stalingrad in eine Einschwörung der Deutschen auf den »totalen Krieg« umzumünzen versuchten, notiert sie: »Heute habe ich in der Schule zur Heldengedenkfeier ein Gedicht aufgesagt: Stalingrad. Sie stand fast hinter mir. Ich hab es nur für sie gesprochen. Ich hab sie so lieb ...«. Nicht nur die Lehrerin, sondern auch Gleichaltrige beeinflussen ihre Haltung, wie man dem folgenden Tagebucheintrag entnehmen kann:

30. [Juli 42] Dieter, mein lieber deutscher Junge. Ach, wenn doch Deutschland recht viele solcher Jungen hätte wie du, u. dann recht viel solcher Frauen wie sie, dann wäre uns der Sieg in allen inneren und äusseren Angelegenheiten gewiss. Blond und blauäugig, gross u. straff, so stehst du, als tapferer Soldat im Kampf für das deutsche Schicksal. Und wenn auch die Alten klagen, man kann ja auch ihre Anschauung zu verstehen versuchen, ohne sie gleich zu verurteilen, so werden wir doch weiterkämpfen, u. ob gleich alle sagen, so werden und müssen wir doch siegen, u. Gott wird uns beistehen, denn unser ist die Wahrheit, Wahrheit eines jungen, kraftvollen u. Gott suchenden Volkes gegen den Feind der Liebe.

Es ist bekannt, daß die nationalsozialistische Ideologie, vor allem durch den Jugendkult, die Dynamik des Generationskonfliktes für sich zu nutzen und jugendliche Omnipotenzphantasien zu bedienen wußte (Mitscherlich 1985, 249ff.). Die Heranwachsenden wurden früh und straff staatlich-politisch organisiert. Man kann davon ausgehen, daß die Mehrheit der im Nationalsozialismus Großgewordenen eine enge Bindung zum NS-Staat hatte, eine oppositionelle Haltung demnach spezifischer Umstände bedurfte (Rosenthal 1987). In Abgrenzung vom Elternhaus setzt Lieselotte das kollektive »Wir« der Jugend von »den Alten« ab und stellt so eine Opposition her. Wortwahl und Jungenideal sind den herrschenden nationalsozialistisch-völkischen Vorstellungen verpflichtet. Wie auch in anderen Eintragungen stilisiert die Verfasserin die eigene Person zu einem Teil einer heroisierten Jugend.
Neben völkisch-nationalen Vorstellungen bezieht sich Lieselotte auch auf den religiösen Diskurs. So erinnert der Sprachduktus bei »denn unser ist die Wahrheit« an das Ende des Vaterunser: »denn Dein ist das Reich ...«. Das »Volk« sucht aus Lieselottes Sicht nicht nur die Wahrheit, sondern auch Gott. Religiöse Maximen versucht die Tagebuchautorin nicht ohne Mühe mit der gesellschaftlichen Forderung nach Kriegsunterstützung in Einklang zu bringen. So schreibt sie im weiteren Verlauf ihres ersten Eintrages, zwar müsse das Ziel der Menschheit der Frieden sein, Krieg werde es aber so lange geben,

(...) bis die Zeit erfüllt ist. Wann ist die Zeit erfüllt? Wenn in jedes Menschenherz die Liebe, Gottes Wort, das neue Testament gedrungen ist. Der Bolschewismus ist ein Feind der Liebe, also muß er erst besiegt sein! Ich weiss nicht wieviel Feinde es gibt, und ich will es auch gar nicht wissen. Es kann schon morgen sein, und es kann noch tausende von Jahren dauern. Aber einmal ist es doch soweit.

Lieselotte greift hier - wie schon Marie von N. - auf die Vorstellung der »Erfüllung der Zeit« zurück und bezieht sich mit der Formulierung, der Sieg über die Feinde könne »tausende von Jahren dauern« auf den nationalsozialistischen Mythos des »Tausendjährigen Reiches«. Nicht zufällig ist es der Kampf gegen den »Bolschewismus«, der in ihren Augen die Fortführung des Krieges legitimiert. Der Antibolschewismus war der wohl breiteste Konsens der NS-Gesellschaft, der auch von den Kirchen in Deutschland mehrheitlich mitgetragen wurde (Rürup 1991, 11-30).
Ein halbes Jahr später greift Lieselotte ihre Anfangsüberlegungen wieder auf. Sie kann den Wertekonflikt zwischen Nationalsozialismus und ihrem christlichen Glauben nun deutlicher explizieren und bezieht ihn auch direkt auf die eigene Person.

8. Nov. 43 Ich höre gerade die Hitlerrede. Er hat gesagt: Auch ich selbst bin religiös, und zwar tiefinnerlich religiös. Wenn das wahr wäre! Wenn Adolf Hitler fromm war, wenn er beten könnte! Dann hätte ich keine Angst um Deutschland, wenn sein Gebet den Kampf begleitet, denn dann erst könnte ich froh werden in einer Zukunft mit Hitler, in einer Zukunft, die das deutsche Volk durch dessen Krieg, Gott näherbringen wird. Hitler hat mir wieder Glauben geschenkt an den Sieg, er hat von einer Landung in England u. von einer Vergeltung für den Bombenterror gesprochen.
In mir ist ein Zwiespalt. Mein Glauben verbietet mir innerlich jeden Krieg, meine Vaterlandsliebe aber verbietet mir jeden Gedanken an eine Ergebung. Es sind tausende gefallen, tausende liegen jahrelang im Dreck u. Mist, tausende ertragen Schmerzen in den Lazaretten, tausende sind verstümmelt erblindet, tausende von Frauen, Müttern u. Schwestern in der Heimat bangen um den kämpfenden, weinen um den gefallenen Sohn und Bruder u. das soll alles umsonst sein? Ist es nicht heilige Verpflichtung, weiterzukämpfen, und sollte Deutschland ausgerottet werden, dann wären wir alle gleich tapfer gewesen. Aber: Die Opfer werden gebracht für den Sieg. Ist der Sieg aussichtslos? Wenn er es ist, dann wäre es vielleicht besser - ehe noch weitere tausende in den Tod gehen, ehe noch weiterer Schmerz über Deutschland kommt, wäre es nicht doch besser - aber nein, das wird u. darf nie, nie geschehen, da stehen all die Gefallenen vor mir auf. Und wenn wir alle untergehen sollten, es kommt kein 1918 mehr. Adolf Hitler, ich glaube an dich und den deutschen Sieg.

Scheint es zu Beginn der Eintragung so, als habe Hitlers Bekenntnis zum Glauben ihren Konflikt gelöst, so läßt sich der »Zwiespalt« doch nicht beheben. Es bedarf eines nicht unerheblichen sprachlichen und gedanklichen Aufwands, um den Zweifel am militärischen Sieg wieder aus dem Bewußtsein zu bannen und im Glauben an Sieg und Führer die Eintragung zu beenden. Die Tagebuchautorin rekurriert dabei auf eine seit dem 18. Jahrhundert im Kontext nationalen Denkens kollektiv anerkannte und verbindlich gewordene Norm, daß das Vaterland eine Größe sei, für die Opfer gebracht werden müßten. Die Argumentationsfigur, daß die vielen Opfer, die gebracht worden sind, neue Opfer fordern und jeden Gedanken an eine mögliche Niederlage verbieten, kennen wir bereits aus dem Tagebuch der Marie von N. Es handelt sich hierbei um eine Kampfparole, die zum gängigen Repertoire öffentlicher Feiern zum Heldengedenktag gehörte (Hausen 1989). Sie taucht so stereotyp wie häufig in Tagebüchern und Feldpostbriefen des Zweiten Weltkriegs auf, insbesondere ab Anfang 1943, als nach der Niederlage in Stalingrad die militärische Situation für das kriegsführende Deutschland zunehmend aussichtslos wurde. Eindrücklich zeigt dieser Tagebucheintrag durch die Gedankenstriche das mit dem Opferdenken verknüpfte Sprech- und Schreibverbot. Nicht ausgesprochen werden darf, daß der Krieg mit großer Wahrscheinlichkeit für Deutschland verloren ist und es sinnvoller wäre, den Krieg zu beenden. Das Denkverbot wird noch einmal verbal verstärkt: »aber nein, das darf nie, nie geschehen (...)«.
Die Möglichkeit der militärischen Niederlage wurde rigide und unter Strafandrohung aus dem herrschenden Denken des »Tausendjährigen Reiches« verbannt. Öffentlich Zweifel am militärischen Sieg Deutschlands zu äußern, war strafbar und galt als Wehrmachtzersetzung und Defätismus. Wie wirksam dieses Denkverbot war, läßt sich in Lieselottes Aufzeichnungen deutlich ablesen.
Dient Lieselotte G. das Tagebuch anfangs dazu, ihren Glauben an Sieg und Führer zu stärken, gewinnen nach und nach die Zweifel einen immer größeren Raum. Über das Kriegsende hinaus wird in allen Phasen ihrer mühsamen Loslösung aus dem nationalsozialistischen Wertesystem und der Idealisierung der eigenen Nation die enge Verzahnung von nationaler und eigener Identität deutlich. Jeden Schritt hin zu einer größeren Distanz erlebt und beschreibt Lieselotte G. als persönliche Anfechtung. Dem Einfluß des Elternhauses kommt im langsamen Prozeß der Abgrenzung vom Nationalsozialismus eine wichtige Bedeutung zu. Zunächst jedoch erlebt die Jugendliche die Einstellung der Eltern als bedrohlich: »Vati sagt, lange könne Hitler den Krieg nicht mehr machen. Aber ich glaube, Hitler gibt nicht nach. (...) Ich will keinen Frieden, denn ich will keine Niederlage« (23. November 1943). Die Zweifel am militärischen Sieg leiten jedoch Lieselottes allmähliche Umorientierung ein. Im April 1943 schreibt sie noch kindlich emphatisch: »Ich hab ihn so lieb, unseren Führer« (21. April 1943). Mit ihrer zunehmenden Einsicht in die Niederlage ist von Führerglauben und Liebe nicht mehr die Rede. Hier partizipiert die Jugendliche an einem kollektiven Stimmungsumschwung. Erst mit dem Ausbleiben militärischer Erfolge nehmen Unzufriedenheit und die Zweifel am NSRegime zu. Dementsprechend formierte sich z.B. auch der Widerstand von deutsch-nationaler Seite, der im Attentatsversuch des 20. Juli 1944 gipfelte, erst zu einem Zeitpunkt, als die militärische Lage Deutschlands bereits prekär geworden war.
Der schmerzhafte Verlust ihres Glaubens an den »Endsieg« wirft für Lieselotte neue Fragen auf. Im Tagebuch setzt sie sich intensiv damit auseinander, welche Konsequenzen die veränderte Realitätseinschätzung für sie haben kann. Ihr Konflikt zwischen den geforderten kriegsunterstützenden Haltungen und ihrer Friedenssehnsucht ist damit jedoch nicht beendet. Nachdem ihr Vater sie in einem Gespräch zu Beginn des Jahres 1944 davon überzeugt hat, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, schreibt sie am 2. Januar 1944 in ihr Tagebuch:

Jede nationale Ehre werden sie uns nehmen, das heilige, deutsche Reich auflösen. Was habe ich da von der aufblühenden Wirtschaft. Wir werden Vasallen Amerikas sein. Ist es da nicht besser zu sterben? Weil ehrlos der Preusse u. der Deutsche nicht zu leben vermag? Und Frau L. als preussische Frau sollte das alles nur noch Vergangenheit sein? Ach, wer doch noch an den Sieg glauben könnte, wie gerne täte ich das!

Weniger die materiellen und sozialen Folgen einer militärischen Niederlage Deutschlands bereiten der Tagebuchautorin Angst. Sie fürchtet vielmehr die nationale Kränkung, die in ihrem Verständnis ein persönliches Fiasko bedeuten würde. Lieselotte wehrt sich gegen die Vorstellung der Niederlage auch deshalb, weil sie hierdurch ihr Ich-Ideal, das für sie Frau L. verkörpert, gefährdet sieht.
Vor allem die Opferbereitschaft ist wesentlicher Teil ihres Selbstbildes, das für Lieselotte nach wie vor Verbindlichkeit behält:

Man muß auch die Wohnung, das eigene u. lieber Menschen Leben hingeben können auf dem Altar des Vaterlandes, ist es nicht mehr für den Sieg, so ist es für die Ehre, fürs Vaterland, oder ist es nicht auch um aller gefallenen Helden würdig zu sein? Solltest Du nicht können, was jeder deutsche Soldat an der Front kann? Solltest du so schwach sein? Nein, u. abermals nein. Ich kann u. kann mich opfern. (7.1.1944)

Es gelingt Lieselotte G. nicht, die geforderten Verhaltensideale, also Opferbereitschaft, Treue und Ehre, mit der eigenen Friedenssehnsucht in Übereinstimmung zu bringen. Ihre Zweifel deutet sie als einen Mangel an Charakter und als persönlichen Makel. Ihre Aufzeichnungen belegen, daß keineswegs nur nationalsozialistische Propaganda, sondern viele »Leit- und Lebensworte« aus dem Repertoire des Bildungsbürgertums zur Einübung kriegsunterstützender Wahrnehmungen und Haltungen beitrugen. So wird z.B. ein beliebter Poesiealbeneintrag für die Schreiberin zum Anlaß, ihre eigene Friedenssehnsucht kritisch zu hinterfragen:

Die Treue ist das Mark der Ehre.
Oh, ich bin falsch und schlecht. Ein Vaterlandsverräter bin ich, ein elender Schweinehund! Millionen Soldaten sind dafür gestorben mit gläubigem, heißem Herzen. Ich hätte es auch einst gekonnt. Und jetzt wünsche ich mir gerade um der Soldaten willen Frieden. Ist das eine Gesinnung, eines preußischen Menschen, einer deutschen Frau würdig? Nein, u. abermals nein. Was würde Frau L. dazu sagen? Ist das eines Friedrich des Großen, eines Bismarck würdig? (24.7.1944)

In der pubertären Maßlosigkeit, sich selbst nicht nur an der idealisierten Lehrerin, sondern an Friedrich dem Großen und Bismarck messen zu wollen, tritt der Wunsch nach einem idealen starken Ich zutage. Diese Sehnsucht ist es, die die Tagebuchautorin dazu motiviert, sich mit auf Leiden und Verzicht begründeten Idealhaltungen auseinanderzusetzen. Die Identifikation mit einem heroischen Ich ist so total, daß eine differierende Haltung mit der Gefahr massiver
Selbstabwertung verbunden ist. Der Versuch, das Selbstbild mit gesellschaftlich geforderten Verhaltensweisen und idealisierten Vorbildern in Übereinstimmung zu bringen, dient der Arbeit am Ich-Ideal und hat in der Überhöhung der eigenen Person narzißtische Züge. Es sind weniger die im engen Sinn NS-spezifischen Deutungsmuster - wie etwa der Rekurs auf rassistische Vorstellungen -, die Lieselotte G. zu kriegsunterstützenden Haltungen führen. Ein heroisiertes Ich, das auf Werten wie Verzicht, Opfer, Treue aufbaut, hat breitere und historisch ältere Wurzeln. Es findet im christlichen Denken seine Entsprechung und war vor allem ein integraler Bestandteil des konservativen deutschen Gedankenguts, so wie es der Jugendlichen in der Schule vermittelt wurde. Für die Tagebuchautorin ist z.B. das Ideal des Preußischen von zentraler Bedeutung. Der klassische Literaturkanon bot darüber hinaus eine Fülle von Identifikationsfiguren an, bei denen Selbstheroisierung und -opfer miteinander verknüpft sind. So schreibt Lieselotte, Schillers Maria Stuart habe sie tief ergriffen: »Wie begeisterte ich mich für Schiller und sein Freiheitsideal, das sie gerade im Angesicht des Todes von allen Banden löst.« (3. November 1944). Lieselotte, die in sich einen »reissenden Drang nach Leben« spürt, fragt sich: »Aber soll denn das Leben Genuss sein, ist es nicht vielmehr Kampf und unsagbares Leid? Wenn der Krieg aus ist, meine ich, dann könnte ich leben, aber dann ist mein Vaterland im Elend, darf ich da glücklich sein?« (11. Juni 1944)
Schon im Prozeß des Schreibens werden die eigenen Interessen mit gesellschaftlichen Forderungen in Relation gesetzt, wobei es im Grunde zu einer ständigen Zurücksetzung des Ich kommt. Schreibend ordnet die Jugendliche ihre Interessen dem »Vaterland« unter und hofft so, ihrem Ideal näher zu kommen, eine gute Deutsche zu werden. Vorsatz und Entschluß, für die gemeinsame Sache Opfer bringen zu wollen, bekommen durch die schriftliche Fixierung Gewicht und werden im Prozeß ideologischer Selbstunterwerfung zu Garanten des idealisierten Selbst. Persönliche und nationale Identität sind in dieser Auffassung unentwirrbar miteinander verknüpft: Wenn Deutschland besiegt wird, dann gibt es auch für die einzelnen Deutschen, d.h. auch für die eigene Person, kein Recht auf Glück und Leben mehr.

Die Ereignisse des 20. Juli 1944 mit dem Attentat auf Adolf Hitler und den sich anschließenden Todesurteilen und Verhaftungen werden für sie zum Anlaß, sich zum ersten Mal eindeutig vom Nationalsozialismus abzugrenzen. Die Nationalsozialisten hätten hierdurch mit der alten Wehrmacht gebrochen: »Ich brauche nun keine Zweifel mehr zu hegen, wem ich treu sein soll. Hitler oder dem Vorbild preussischer Generale«, schreibt sie am 11. August 1944 in ihr Tagebuch. Das mißglückte Attentat, die Putschpläne, an dem militärische Führungskräfte beteiligt waren, machen es für Lieselotte G. möglich, ihr deutschnationales Selbstverständnis aus dem nationalsozialistischen Kontext zu lösen. Nur an dieser Stelle formuliert die Tagebuchverfasserin eine positive Zukunftsperspektive, die nicht mehr an den militärischen Sieg Deutschlands gekoppelt ist. Der Anschlag auf Adolf Hitler ist aus ihrer Sicht ein Akt des Widerstandes, der auf die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zielt. Die abwertend als »Nazis« bezeichnete Regierung ist nun nicht mehr im kollektiven »Wir« der Deutschen eingeschlossen.

Preußische, deutsche Offiziere sind erhängt worden wie im Mittelalter. Es ist unerhört. Aber die Schmach trifft nur die Henker. Jetzt weiß ich, daß es gut ist den Frieden für mein Volk unter allen Umständen zu erkämpfen. Es ist eine Schmach, noch weiter die Tyrannei zu dulden. Die Attentäter waren die ersten Märtyrer der deutschen Freiheit. Ehre ihren Namen. (11.8.1944)

Ihr vehementes Plädoyer gegen die Todesurteile zeigt, daß sich Lieselotte keine Zensur auferlegt. Man kann vielmehr davon ausgehen, daß die Jugendliche ihre Kritik im Tagebuch offen äußert. Die Attentäter des 20. Juli als »erste« und offenbar einzige »Märtyrer« der Freiheit zu sehen, eine solche Sichtweise verwundert, wenn man bedenkt, daß Lieselotte G. aus einem sozialdemokratischen Elternhaus kam. Hier wird deutlich, wie weitgehend diejenigen vergessen werden konnten, die seit Beginn des Nationalsozialismus wegen ihres Widerstandes, abweichender Meinungen oder religiöser Überzeugungen, sexueller Orientierungen oder weil sie zu einer anderen »Rasse« erkärt wurden, aus der »Volksgemeinschaft« ausgegrenzt waren. Eine solch verengte Sicht teilt Lieselotte mit den meisten Tagebuchautorinnen. Bei der Mehrheit werden politische Verfolgung, die Repressionen und Morde, die im Alltag auch in der »Heimat« präsent waren, kaum zum Thema.
Im Juli 1942, als Lieselotte G. anfing, ihr Tagebuch zu führen, leben in Berlin noch 33 000 Jüdinnen und Juden. Sieben Monate zuvor hatten die ersten Massendeportationen eingesetzt. Im folgenden Jahr bis zum Juni 1943, als Goebbels Berlin für »judenfrei« erklärt, werden fast alle in Transporten in die Vernichtungslager gebracht. Wenn die Nationalsozialisten auch versuchten, durch reibungslose Organisation öffentliches Aufsehen zu verhindern, geschahen die
Deportationen keineswegs im Geheimen, sondern mit Wissen und Duldung der Berliner Bevölkerung.[27] Ursula von Kardorff notierte zum Ende 1942 im Rückblick auf die Ereignisse des Jahres, gegen »die Ausrottung der Juden« habe sich »die große Masse allerdings gleichgültig oder zustimmend« verhalten.[28] Hannah Arendt geht davon aus, die Mehrheit in Deutschland habe gewußt, daß »die Abtransportierung der Juden (...) den Tod bedeutete (...), mögen auch viele die Einzelheiten nicht gekannt haben« (1964, 189).
Lieselottes Aufzeichnungen sind ein Beleg dafür, daß es ein solches Wissen gab und wie folgenlos es bleiben konnte. Die zunehmend mörderische Diskriminierung wie auch die Deportationen werden in ihrem Tagebuch nicht erwähnt. In den vorherigen Aufzeichnungen findet man keine kritischen Anmerkungen, aber auch keine antisemitischen Äußerungen. Ende August 1943 wird der Genozid jedoch im Tagebuch thematisiert. Die seltsam lakonische
Beiläufigkeit, in der dies geschieht, nachdem Lieselotte pathetisch und wortreich die Leiden der »Volksgemeinschaft« ausführte, ist hier symptomatisch für den Grad der Verweigerung an menschlicher Anteilnahme denen gegenüber, denen die Zuhörigkeit zur »deutschen Volksgemeinschaft« von staatlicher Seite abgesprochen wurde:

31. Aug. 43. Es ist eine furchtbare Zeit. Alles bricht über mir zusammen. Mussolini ist gegangen. Ich kann jetzt, so sehr ich mich auch zwinge, nicht mehr an den deutschen Sieg glauben. Es ist schrecklich, das Vaterland in eine noch tiefere Not als die von 1918 hineinstürzen zu sehen. (...) Tausende haben geblutet, tausende im Dreck gelegen 4 Jahre, damals und heute, 1000 Mütter haben gebangt um den Sohn an der Front, 1000 Frauen haben mit zitterndem Herzen die Todesnachricht erhalten! Und das soll umsonst sein? Verrauschen soll all das Blut, was fremde Erde trank? Es war unser bestes Blut. Aber ich kann nicht mehr an den Sieg glauben. Wie war doch die Zeit schön, da wir Norwegen, Frankreich, Griechenland, Serbien eroberten, da wir in Rußland vordrangen. Und jetzt? Adolf Hitler hat Millionen in den Tod geschickt, sagen sie. Ich meine, hat er es nicht getan um erlittene Schmach zu rächen. Wußte er, daß er uns mit dem Krieg nicht die Freiheit, sondern eine noch größere Unfreiheit bringt?
Mutti erzählte neulich, die Juden seien in den Lagern zum grössten Teil umgebracht worden, aber ich kann es nicht glauben. Dass sie aus Deutschland raus sind, ist gut, aber sie gleich zu ermorden!

Diese Eintragung gehört heute für die Verfasserin zu den Stellen ihres Tagebuchs, die sie selber zutiefst schockiert haben. Die Jugendliche reproduziert hier das ganze Repertoire des aggressiven nationalistischen Revisionsdiskurses, auf den ich bereits im Zusammenhang mit Marie von N.s Tagebuch eingegangen bin. Die »Schmach« der Niederlage im Ersten Weltkrieg soll den Zweiten Weltkrieg legitimieren. Wie bei Marie von N. spielt die Vorstellung der Blutrache eine wesentliche Rolle. Durch die schauerlichen Sprachbilder wie das »Verrauschen des Blutes« und durch die Wiederholungen werden die Zahl der Toten und das Ausmaß der Leiden des »Vaterlandes« pathetisch ins Unermeßliche gesteigert.
Um so frappanter ist deshalb der völlig unvermittelte Stilbruch, der in dem Moment einsetzt, als Lieselotte den Massenmord an den deportierten Juden zum Thema macht. »Mutti erzählte neulich«, das klingt ebenso beiläufig wie unwichtig. Der Wahrheitsgehalt der Nachricht wird sofort in Frage gestellt, obwohl bereits der nächste Satz deutlich macht, daß Lieselotte ihrer Mutter doch glaubt. Lieselotte G. benennt nicht, wer hier mordet, darüber hinaus klingt es fast so, als hätten »die Juden« selber und freiwillig Deutschland verlassen. Wenn auch nicht die Vernichtung, so heißt Lieselotte die Ausgrenzung doch gut. Sie billigt damit die völlige Entrechtung der jüdischen BürgerInnen durch die antisemitische Politik. Bei der eigentümlichen Formulierung »aber sie gleich zu ermorden!« wird das Verbrechen zwar benannt, allerdings in einer Form, die den Eindruck vermittelt, die Jugendliche sei nicht ernsthaft schockiert. Der Genozid ist ihr jedenfalls nicht einmal einer eigenen expliziten Verurteilung wert. Die Information führt nicht zu einer Infragestellung des Nationalsozialismus und löst keinen Gewissenskonflikt aus. Die Jugendliche beläßt es bei ihren Zweifeln.
Hannah Arendt glaubt, daß es im Laufe der Jahre des Nationalsozialismus für die Mehrheit der Deutschen zu einer fundamentalen Verkehrung humaner Werte und moralischer Orientierungen gekommen sei. Das »Böse«, schreibt sie, habe in dieser Zeit die Eigenschaft verloren, woran es die meisten Menschen erkennen: »es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran«.

Viele Deutsche und viele Nazis, wahrscheinlich die meisten, haben wohl die Versuchung gekannt, nicht zu morden, nicht zu rauben, ihre Nachbarn nicht in den Untergang ziehen zu lassen (...). Aber sie hatten, weiß Gott, gelernt, mit ihren Neigungen fertigzuwerden und der Versuchung zu widerstehen. (1964, 189)

Es ist diese Verkehrung der moralischen Werte, die beim Lesen des Mädchentagebuchs heute schockiert. Lieselotte setzt hohe Ansprüche an die eigene Person, geht immer wieder hart mit sich ins Gericht, will ein »guter Mensch« und eine »gute Deutsche« werden. Die Anfechtung, die für sie zählt, ist jedoch die Versuchung, die Haltung zu verlieren, ihrer Friedenssehnsucht nachzugeben. Im Gegensatz dazu scheint die Jugendliche 1943 durch die Nachricht des
Massenmordes an den Deportierten überhaupt nicht angefochten worden zu sein. Der Gedanke, dies könne mit ihren nationalen und persönlichen Idealen nicht vereinbar sein, wird jedenfalls nicht zum Thema kritischer Reflexion im Tagebuch. Erst viel später, im April 1945, als sie die nationalsozialistische Führung belasten und anklagen will, kommt sie auf den Genozid insofern kurz zurück, als sie die Nationalsozialisten als »Judenmörder« tituliert. Doch selbst zu
diesem Zeitpunkt gilt ihr Mitgefühl nicht den ermordeten Juden, sondern den deutschen »Opfern«. Zum Anlaß ihrer empörten Anklage wird die Nachricht, daß der kapitulationsbereite Festungskommandant von Königsberg vor ein Standgericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde:

12.4.45 (...) Einen deutschen, einen preussischen Offizier zu erhängen! Fluch sei ihnen, Fluch der ganzen Nazibrut, diesen Kriegsverbrechern und Judenmördern, die nun auch noch die Ehre des deutschen Offiziers in den Schmutz ziehen. Wie haben sie mein Deutschland zugerichtet? Wie haben sie uns alles vernichtet, woran das Herz des Deutschen hing, wie haben sie soviel Tod, Leid u. Elend über mein Volk gebracht. Und dafür seid ihr nun gestorben, ihr Millionen deutscher Jungen, dafür haben sie ihren Mann geopfert, geliebte verehrte Frau (...)• Aber ich kann nicht glauben, daß es Deutschlands Ende ist, auch wenn es das unsrige ist.

Deutschland ist in dieser gewandelten Interpretation nun nicht mehr Opfer der »Feinde der Nation«, sondern ebenso wie die Juden Opfer der »Nazibrut«. Wortreich beklagt sie das Leid, das »ihrem Volk« zugefügt wurde, das Verbrechen, das einem preußischen Offizier angetan wurde. Der Religionswissenschaftler Michael Reiter hat in seinen Überlegungen zur »Opferphilosophie« darauf hingewiesen, daß die ungeheure Suggestion des deutschen Opferbegriffs in seiner Doppeldeutigkeit liegt, die »es dem Geschädigten (victima) erlaubt und sogar nahelegt, seinen Schaden zugleich als Gabe (sacrificium) mit einem unabweisbaren >Sinn< in einem System der Reziprozität zu deuten« (Reiter 1991,131). Diese Überlegung hilft zu erklären, warum gerade dieses Denkschema eine solche Zählebigkeit hatte, daß es für die Tagebuchautorin über das Ende des Krieges hinaus Verbindlichkeit besaß. Ohne diese Vorstellung wäre es nicht möglich, die Beeinträchtigungen und Verluste als eine (freiwillige) Gabe zu interpretieren, die einem höheren Zweck dient. Darüber hinaus würde man die damit verknüpfte Hoffnung verlieren, für vergangene Beeinträchtigungen zukünftig einen Anspruch auf Entschädigung oder Belohnung zu haben. Die zahllosen Klagen, die man in den Tagebüchern nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus darüber findet, es könne doch nicht »alles umsonst gewesen« sein, machen deutlich, wie unerträglich ein solcher Sinnverlust erlebt worden ist.
Margarete und Alexander Mitscherlich sprechen in ihrer Untersuchung Die Unfähigkeit zu trauern von einem »globalen Rückzug aus der eigenen Vergangenheit« und der »Leugnung der inneren Anteilnahme«, die mit der militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes einsetzten (1985, 34-38). Wie sich innerhalb kurzer Zeit ein solches >Vergessen< der eigenen emotionalen Verstrickung vollziehen kann, zeigen Tagebucheintragungen, in denen sich Lieselotte kurz vor und unmittelbar nach Kriegsende mit dem »Volkssturm«-Einsatz ihres Bruders Bertel auseinandersetzt, der sich Mitte April 1945 freiwillig zum Militäreinsatz gemeldet hatte. Lieselotte kommentierte dies einige Tage vor dem Ende der Kampfhandlungen mit folgenden Worten: »Bertel ist nun sicher schon im Kampf (...). Für Bertel fürchte ich nur, weil es für Mutti so schrecklich wäre. Ich selbst wäre bereit, ihn zu opfern, Frau L. hat ja auch ihr Lebensglück geopfert« (17. April 1945). »Ich bin so stolz auf unsere Jungs, die sich noch jetzt den Panzern entgegenwerfen, wenn der Befehl kommt. Aber sie werden in den Tod gehetzt«, notiert sie drei Tage später, am 20. April 1945.
Bei diesen Eintragungen wird noch einmal auf dramatische Weise der Zusammenhang zwischen Omnipotenzphantasien und Bindung der Jugendlichen an das nationalsozialistische System deutlich. Lieselotte ist, obwohl sie das Regime zu diesem Zeitpunkt als verbrecherisch einstuft, dennoch stolz auf »die Jungs«, die als »letztes Aufgebot« die Rolle übernehmen sollen, die traditionell den erwachsenen Männern zukommt, mit der Waffe in der Hand und unter Einsatz des eigenen Lebens das Vaterland zu verteidigen. Ein letztes Mal wird hier die Omnipotenzphantasie belebt, die Jugend alleine könne nun noch die Kapitulation Deutschlands abwenden. Der Faszination dieser Vorstellung kann sich die inzwischen 17jährige in diesen letzten Kriegstagen noch nicht entziehen. Die Bereitschaft zum »Opfer« bleibt selbst in dieser aussichtslosen Situation die maßgebliche Maxime für ihre Haltung.
Zwei Wochen nach dem Ende der Kampfhandlungen ist über den Verbleib des Bruders nichts zu erfahren. Er kehrte erst Ende 1945 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. In den Fragen an den vermißten Bruder, von dem sie annimmt, daß er ums Leben gekommen sei, stellt Lieselotte Überlegungen zu dessen Motivation an:

O, Bertel! So viele, viele Soldaten haben sich gedrückt und sind gekniffen, dazu war Bertel aber viel zu begeistert. Für wen denn? Für Hitler? Für Deutschland? Arme verhetzte Jugend! Mußte auch das Blut noch fließen? Auch jetzt noch, nachdem jeder sah, dass alles verloren ist, dass uns nichts, aber auch nichts mehr retten kann? O, Bertel! Ich kenne Dich ja nicht, Du warst immer so verschlossen; ich weiss nicht, was Dich in den Tod getrieben hat. Soll ich schimpfen über Deinen blinden Fanatismus, oder soll ich mich neigen vor Deiner Treue? Wolltest Du lieber untergehen als das Joch des Sklaven schleppen? Hast Du nicht gespürt, dass Hitler uns auch zu Sklaven dressiert hatte? Oder band Dich nichts an Hitler als der erzwungene Eid? Hättest Du Deutschland, unserem heiligen Vaterland mit Deinem Leben nicht mehr nützen können als mit Deinem sinnlosen Tod? (17.5.1945)

Ihr Stolz auf die Kampfbereitschaft der »Jungs«, den sie einen Monat zuvor formulierte, hat inzwischen an Relevanz verloren und ist vergessen. Was ihr kurz vor Kriegsende als »Opfer« schien, das sie selbst bereit war zu leisten, interpretiert sie nun als einen »sinnlosen Tod«. Über die Motivationen des Bruders glaubt sie keine sicheren Aussagen mehr machen zu können. Dies zeigt, daß sie Teile ihres Wertesystems schon wenig später nicht mehr rekonstruieren kann. »Ich kenne Dich ja nicht« - weist diese Aussage über den Bruder nicht darauf hin, wie fremd Lieselotte sich selber geworden ist?
Mit der Besetzung ihres Stadtteils Berlin-Friedrichshagen am 22. April 1945 durch die sowjetische Armee ist für Lieselotte G. der Krieg zu Ende. Das Berliner Stadtgebiet war allerdings noch eine weitere Woche umkämpft. Die tiefe Ambivalenz, mit der die Jugendliche die neue Situation wahrnimmt, wird in der Form ihrer Berichterstattung über die Ereignisse in Berlin deutlich. Ihre erste Reaktion auf die sowjetische Eroberung ist zunächst große Erleichterung, die jedoch schnell in eine anklagende Abwehrhaltung umschlägt. Die Begegnung mit den Soldaten der Roten Armee am 22. April schildert Lieselotte als eine Befreiung:

Was hatte uns unsere Propaganda nicht alles von den Sowjets erzählt. Danach mussten alle Meuchelmörder und Mädchenschänder sein. Mit Genickschuss u.s.w. - Sie sahen aber alle verhältnismäßig anständig aus, taten uns nichts, obwohl wir alle zitterten (...). Endlich Freiheit von den Nazis. Wir hängten gleich ne weisse Fahne raus.

Diese Erfahrung wird aber schnell durch die Folgeereignisse überdeckt. Nicht anders als bei der Mehrheit der Berliner Tagebuchverfasserinnen führen die Ausschreitungen der sowjetischen Soldaten zu einem Stimmungsumschwung. »Wenn wir vorigen Sonntag gewußt hätten, was uns erwartet!« notiert sie in der darauffolgenden Woche am 29. April 1945. »Und wir hatten geglaubt, schon das Schlimmste überstanden zu haben. O, wie hatten wir uns geirrt!« Der elfseitige Tageseintrag schildert detailreich »die aufregendste Woche« ihres Lebens. Sie berichtet über die Plünderungen und Übergriffe der Siegersoldaten, durch die sie und ihre Umgebung in den zurückliegenden Tagen in Atem gehalten wurden. Da ihr Vater zum Volkssturm beordert wurde und noch nicht zurückgekehrt ist, ist Lieselotte mit ihrer Mutter allein. Die Jugendliche hält sich mehrere Tage hintereinander aus Angst vor Zudringlichkeiten und Vergewaltigungen versteckt. Im Tagebuch berichtet sie von der Selbstmordwelle in ihrer Umgebung. Die Familie des Gemeindepfarrers beging Selbstmord, nachdem die Töchter vergewaltigt wurden. Eine ihrer früheren Lehrerinnen erschoß sich.

An diesem ersten Tag sollen in Friedrichshagen an die hundert Selbstmorde vorgekommen sein. Ein Segen, dass es kein Gas gibt, sonst hätte sich noch mancher das Leben genommen; wir wären vielleicht auch tot. Ich war ja so verzweifelt! (...) Das mußte aus meinem deutschen Vaterland werden, dass wir jetzt völlig rechtlos der Macht der Fremden ausgeliefert sind. Aber das deutsche Volk will es so, es muß sich immer vor jemanden ducken, unter eine Knute beugen, sonst ist ihm nicht wohl. War es erst Hitler, ist es jetzt Stalinknechtsvolk. Wo ist die Freiheit, die ich meine? Sollte sie uns nicht mehr werden? O, wenn Schiller diese Zeit erlebte oder Kant. Wenn nur Vati da wäre, er würde uns schützen vor den feindlichen Rotten. Warum kommst Du nicht.
Ob Frau L. noch rein ist, oder ob sie sie auch geschändet haben? Und das muß sich meine deutsche Frau gefallen lassen!

Die Welle der Selbstmorde läßt etwas von der kollektiven Verstörtheit ahnen, die die Kriegsniederlage hervorrief. Die Angst der Jugendlichen, die sich schutzlos den möglichen Übergriffen der Siegersoldaten ausgeliefert sieht, mischt sich mit der Kränkung, die der Verlust ihrer Ideale hervorruft. In der wütenden Unterstellung, das deutsche Volk habe die Niederlage gewollt, weil es ein »Knechtsvolk« sei, schwingt noch deutlich die Kränkung mit, daß >Ihr Volk< nicht dem Idealbild entsprach, das sie sich gemacht hatte.
Die Schilderung macht die Angst der Jugendlichen vor den Siegersoldaten und das Ausmaß der Ohnmachtserfahrung deutlich. Das Bild der geschändeten und entehrten »deutschen Frau«, das Lieselotte mit der Vorstellung, ihre Lehrerin könnte vergewaltigt worden sein, imaginiert, hat auch entlastende Funktion. Die Kränkung der Niederlage, die im herrschenden Diskurs als Verlust der Ehre und Schande gedeutet wird, kann jetzt erst recht als ein unschuldigen Opfern zugefügtes Unrecht gedeutet werden. Eine kollektive psychische Verfaßtheit, in der das Ende des Nationalsozialismus als unmittelbare Bedrohung für die eigene Identität und Integrität erlebt wird, findet in den Übergriffen der sowjetischen Soldaten eine Bestätigung in der außerpsychischen Realität. Ausgeblendet bleibt bei dieser Form der Realitätswahrnehmung, daß ein Großteil der Kränkung den Entzugsschmerzen der eigenen Verblendung geschuldet ist. Vergessen ist, daß man noch einige Tage zuvor mit kollektiver Verschleppung und Massenerschießungen gerechnet hatte, und die Erleichterung darüber, daß all das nicht eintraf. Nicht erwähnt wird, daß die Rote Armee die Bevölkerung nicht nur bedrohte, sondern auch vom ersten Tag der Eroberung an ihr Überleben organisiert hat.
Einen Tag nach der Kapitulation der gesamten Wehrmacht am 8. Mai 1945 notiert Lieselotte in ihrem Tagebuch:

9. Mai 1945
>’Der Gott, der Eisen wachsen liess, der wollte keine Knechte.<
Warum hat uns Gott diese Knechtschaft geschickt? Es könnte einem das Herz zerreissen. Was ist aus meinem deutschen Volk geworden! Ich glaube zwar nicht, dass ich diese Zeit überlebe, aber Gottes Wege sind unerforschlich (...). Von morgens um 8 1/4 bis abends um 6-7 h müssen wir schwer arbeiten, Steine schleppen u.s.w. reine Schikane. (...) Neulich sind wir schwer arbeitenden Frauen gefilmt worden von den Russen. Oh, wie sich mein Herz aufbäumt, wenn man die grinsenden Fratzen der Russen sieht, die mit Wohlbehagen auf die deutschen Frauen blicken, die sich im Schweisse ihres Angesichts quälen müssen. Wo ist Freiheit? Nur bei Dir, Gott? Aber Selbstmord vergibst Du nicht! (...) Ich kann das überhaupt nicht schildern, wie das hier ist und wie uns zu Mute ist. Da versagen die Worte.
Eben machen die Russen Riesenfeuerwerk. Siegesfeier.

Der Bezug auf das vaterländische Lied von Ernst Moritz Arndt, das den Heldentod für Freiheit und fürs deutsche Vaterland heroisiert, dient Lieselotte dazu, die deutsche Niederlage als einen widernatürlichen, von Gott nicht gewollten Zustand zu charakterisieren. Implizit wird deutlich, daß die Jugendliche trotz Distanz zum Nationalsozialismus einen wesentlichen Bestandteil des nationalsozialistischen Gedankengebäudes weitertransportiert: die Überzeugung, einer überlegenen Rasse anzugehören, Teil eines »Herrenmenschenvolkes« zu sein. Die militärische Niederlage, durch die die »Herren« von gestern gezwungen werden können, die Arbeit von »Knechten« zu machen, und die diskriminierend beschriebenen Russen, die das Sagen haben, kennzeichnet sie so als Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Wenn man sich vor Augen führt, daß der Krieg an diesem Tag endlich zu Ende ist, die Gefahr, das Leben zu verlieren, zum ersten Mal nachläßt und in der von Lieselotte geschilderten Szene eigentlich nichts weiter geschieht, als daß deutsche Frauen verpflichtet wurden, ihre eigene Stadt zu enttrümmern, wird das Ausmaß der verzerrten Wahrnehmung der Tagebuchautorin deutlich. Eine solche Sicht belegt die nachhaltige, tiefe Kränkung.
Lieselottes Aufzeichnungen nach Ende des Krieges führen das Ineinandergreifen von persönlicher und nationaler Krise plastisch vor. Was die Jugendliche für ihren Vorrat an menschlichen Idealen und Werten hielt, mit denen sie sich in der Welt der Erwachsenen behaupten und bewähren wollte, hat sich als fragwürdig erwiesen. Mit der Offenheit einer Pubertierenden gibt sie dann auch im Tagebuch ihre emotionale Stimmung preis. Der Schlußsatz des Mädchentagebuchs ist bezeichnend für die vorherrschende Stimmung der Deutschen am Kriegsende, die narzißtische Kränkung: »Das ist alles so furchtbar, und das Schlimmste ist, dass ich immer mehr zu der Erkenntnis komme, wie schlecht und klein ich bin« (17. Mai 1945).

Zusammenfassung

Im Mädchentagebuch von Lieselotte G. spielte die Liebe zu ihrer idolisierten Deutschlehrerin eine Schlüsselrolle. In der schriftlichen Ansprache an ihre Person kann die Jugendliche Begehren thematisieren und zugleich entsexualisieren. Ihre Liebe zum Ideal war insofern funktional für NS-konforme und kriegsunterstützende Haltungen, da sie auf Werte wie Verzicht und Opfer rekurrierte.
Unterschiedliche Formen von Angstbewältigung wie die Heilung durch Zitate und die Schutzsuche im Kollektiv nehmen im Diarium einen zentralen Stellenwert ein. Die Einsicht, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, ist für Lieselotte ein mühsamer Lernprozeß, in dem sie sich von kollektiven Allmachtsphantasien und Selbstidealisierungen verabschieden muß. Der Hang, die Wirklichkeit entsprechend den Selbstidealisierungswünschen auszulegen, wird von
psychologischer Seite als Abwehrmechanismus eines bedrängten Selbstwertgefühls interpretiert (Mitscherlich 1985, 75). Typisch für die Phase der Adoleszenz ist es, daß Wunsch- und Omnipotenzphantasien großen Raum einnehmen und eine angemessene Vermittlung zwischen Realität und Wünschen erst schrittweise im Prozeß der Reifung geleistet werden kann. Fatal für eine solche jugendliche Haltung ist es aber, wenn Bedürfnisse der pubertären Entwicklungsphase mit herrschenden Identitätsangeboten und mit einer kollektiven psychischen Verfaßtheit korrelieren.
»Haltung«, »Treue« und »Opferbereitschaft« sind konstitutiv für Lieselottes Selbstbild, und so meint sie, auch ohne Glauben an den Sieg die Pflicht zu haben, sich und anderen Opfer fürs Vaterland auferlegen zu müssen. Diente der Verweis auf die »vielen Opfer« (sacrificium) während des Krieges dazu, Gedanken an eine mögliche Niederlage abzuwehren, so hat er am Ende des Krieges deutlich entlastende Funktion. Die Gemeinschaft erscheint nicht als eine, die etwas verursacht hat, sondern als eine, der etwas angetan wird. Lieselotte imaginiert die Deutschen in der Rolle des Opfers (victima) und kann so die Verantwortung für vergangene Orientierungen und Taten der eigenen Nation abwehren.
Die idealisierte Nation erweist sich mit der Kriegsniederlage und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus nicht nur als militärisch unterlegen, von dieser Nation wurden darüber hinaus schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Den Illusionsverlust erlebt Lieselotte als eine Verarmung und Kränkung der eigenen Person. Lieselotte führt im Tagebuch eine nicht nur zum Kriegsende, sondern bis weit in die Nachkriegszeit kollektiv verbreitete Haltung vor, die
Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem gleichnamigen Buch als Unfähigkeit zu trauern bezeichneten. Erst kurz vor Kriegsende wandte sich die Mehrheit, die trotz zunehmender Ambivalenz mit Teilen des nationalsozialistischen Wertesystems übereingestimmt hatte, vom herrschenden System ab. Mit dieser Abwendung, die sich in vehementen Verurteilungen gegenüber dem »Führer« und den »Nazis« Raum schafft, wird die eigene innere und emotionale Anteilnahme an der nationalsozialistischen Vergangenheit abgewehrt. Geleugnet wird - und das Tagebuch von Lieselotte G. ist hierfür ein eindrückliches Zeugnis -, mit welcher Geduld man selbst bereit war, trotz zunehmend ambivalenter Gefühle der Führung in die Zerstörung zu folgen. Eine tiefere Einfühlung jenen gegenüber, die infolge des kriegerischen Expansionsdrangs Deutschlands und der rassistischen und antisemitischen Vernichtungspolitik ermordet oder versehrt wurden, findet nicht statt. Die deutsche Mehrheit erklärte sich vielmehr selber zum »Opfer«, um so den Fragen nach nationaler beziehungsweise persönlicher Verantwortung ausweichen zu können. Die Konzentration auf die Leiden der eigenen Gruppe steht in einem engen Zusammenhang mit der Verknüpfung von nationaler und persönlicher Identität. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die militärische Niederlage scheinen das Ende Deutschlands zu sein, ohne das - in dieser Wahrnehmung das einzelne Individuum nicht weiterexistieren kann. Das Gefühl, persönlich durch die Kriegslage verloren zu haben und verletzt worden zu sein, schafft sich in vehementen Klagen Gehör.