Das Ereignistagebuch von Sabine K.

Sabine K. beginnt ihr Tagebuch im Herbst 1944 mit 18 Jahren in einer mehr als 200 Seiten umfassenden Schreibkladde, die sie in den folgenden 9 Monaten mit einer temperamentvollen, schwer lesbaren Schrift bis zur letzten Seite füllt. Auszüge sind unter dem Titel: »>Mir ist nur wichtig, ob es in Zukunft so eine Art Kunst geben wird<. Aus dem Jugendtagebuch einer Schauspielerin« publiziert (379-421).
»Tagebuch vom 1.9.44 bis zum 21.5.45 RMD [Reichsmädchendienst], Entlassung, die letzten Tage des III. Reiches, Russenbesetzung und die ersten Tage unter russischem Regime« betitelte Sabine K. ihre Aufzeichnungen. Schon der Titel macht deutlich, daß die Verfasserin hier zur Chronistin wird und im Tagebuch von einer einschneidenden gesellschaftlichen Wendeerfahrung berichtet. Ihre Aufzeichnungen bestehen aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen. In
der ersten Schreibphase von September 1944 bis Ende April 1945 schreibt die 18jährige in unregelmäßigen Abständen und behandelt für ein Teenager-Tagebuch charakteristische Themen wie Liebeskummer, Ärger mit den Eltern; sie äußert Selbstzweifel und faßt gute Vorsätze für die Zukunft. Der Charakter des Tagebuches ändert sich jedoch, als die sowjetischen Truppen Berlin erreichen und Sabine K. Zeugin der Kämpfe und der Eroberung ihres Stadtteils wird. Von Ende April bis Mitte Mai schreibt sie einen Erlebnisbericht des Kriegsendes und der ersten Friedenstage, der mit mehr als
100 handgeschriebenen Seiten über die Hälfte des Tagebuchs umfaßt. Aus den zuvor eher selbstbezogenen Aufzeichnungen wird im April 1945 ein dichter Erlebnisbericht des Kriegsendes. Mit den ersten Anzeichen der Normalisierung des Lebens gewinnen die Alltagssorgen, vor allem das Gefühl der Langeweile und des Eingeschränktseins wieder an Gewicht. Das Tagebuch wird erneut zu dem Ort, an dem die inzwischen 19jährige ihrem Unmut und ihren Sehnsüchten Raum schafft: »14. Mai Wollte Gott, es passierte endlich was. Ich bin schon ganz kribbelig vor Langeweile. (...) Ich habe so Sehnsucht nach einem vernünftigen Menschen, am besten einen Mann. Aber alles, was hier so herumläuft, ist unmöglich.« Sabine K. beendet ihr Tagebuch eine Woche später am 22. Mai 1945.

Biographische Notiz

Sabine K. wuchs zusammen mit ihrer Schwester in einem kulturell aufgeschlossenen Elternhaus in Berlin-Steglitz auf, wo sie das Gymnasium besuchte und das Kriegsende erlebte. Ihr Vater war Landschaftsplaner, die Mutter kümmerte sich um die Erziehung der beiden Töchter. Sabine K. las viel und besuchte häufig Konzerte und Theater. Ihr sehnlichster Wunsch war es, Schauspielerin zu werden. Zum Schreibbeginn im September 1944 befand sie sich in einer biographischen Übergangsphase. Sie hatte nach dem Abitur einige Monate vom Elternhaus entfernt in Salzburg gelebt, ihre Unabhängigkeit erprobt und dort, wie sich aus den kurzen Rückblicken im Tagebuch entnehmen läßt, erste intensivere amouröse Erfahrungen gemacht. Ihre Rückkehr ins Elternhaus Mitte 1944 und die Verpflichtung zum Reichsarbeitsdienst empfand sie als Rückschritt und in bezug auf ihre Lebensplanung als quälende Stagnation. Die zunehmenden Einschränkungen des »totalen Krieges« machten es ihr unmöglich, ihren Traum, Schauspielerin zu werden, zu realisieren. Auch andere Ausbildungswege waren ihr in der aktuellen Situation versperrt. Mit den ersten Anzeichen einer Normalisierung des Alltags - noch im Mai 1945 - suchte sie erneut nach Wegen, ihrem Lebensziel, Schauspielerin zu werden, näher zu kommen. 1946 konnte sie tatsächlich die ersehnte Ausbildung beginnen. Sie gehörte später 15 Jahre dem Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin an. Im Sommer 1969 kam Sabine K. bei einem Autounfall ums Leben.

Vom Stillstand zur rasenden Zeit

Ähnlich wie Lieselotte G. dient der Heranwachsenden das Tagebuch während der ersten 6 Monate von September 1944 bis Ende April 1945 zum Entwurf und zur Erprobung einer erwachsenen Frauenidentität. Anders als Lieselotte mißt sich aber die 18jährige nicht am Idealbild einer »preußisch-deutschen Frau«. Im Tagebuch versucht sie vielmehr, die Diskrepanzen zwischen ihrem Traum nach Größe und Berühmtheit und ihrer Realität als Dienstverpflichtete im reglementierten Alltag des Reichsarbeitsdienstes zu überbrücken. Sie schreibt die guten Vorsätze auf, die ihr helfen sollen, dem angestrebten Ich-Ideal näherzukommen: »Ich möchte etwas ganz Gutes Schönes schaffen. Morgen werde ich anfangen, die Hera ganz zu lernen. Ich will immer hier über meine Fortschritte berichten und mich ganz ordentlich schämen, wenn es wieder nichts werden sollte. Ja, das will ich.«
»Es ist alles so widerlich und so entsetzlich. Wenn man sich doch auf Flügeln über die ganze kleinliche Alltäglichkeit hinwegsetzen könnte!« notiert sie zu Beginn des Monats April 1945 (5. April 1945). Klagen über ihre Einsamkeit durchziehen ihre Aufzeichnungen ebenso wie selbstkritische Stellungnahmen über die eigene Unzulänglichkeit: »Bin ich denn wirklich eine so dumme blöde Gans? Jetzt bin ich schon 19, und immer noch so do[o]f. Das ist eben das Phlegma und die Scheu, unter andere Menschen zu gehen« (12. April 1945). Das Tagebuch wird zum geschützten Ort, an dem Sabine K. im Geheimen ihren negativen Gefühlen, die sie nicht offen leben kann, Raum gibt. Sie führt im Tagebuch Beschwerde über die Reglementierungen des Dienstalltags, ihren Mangel an Handlungs- und Zukunftsperspektive und über die beengten Lebensverhältnisse im elterlichen Haus: »Werden die Jahre eben weiter vertrauert, oder die Monate oder Wochen oder Tage, je nach dem, wie es der liebe Gott mit uns vorhat. Immer das alte Lied: abwarten. Vati schnarcht schon wieder. Ekelhaft, ich kann dieses Geräusch nicht ausstehen (...)« (12. April 1945).
Der Jahreswechsel 1944/45 wird für Sabine K. zum Anlaß, zurückzublicken und über ihre aktuelle Situation zu reflektieren:

Ja. Nun ist schon wieder ein neues Jahr im Gange und alles ist noch grauer als früher. Die Russen sind in Schlesien, in Polen, in West- und Ostpreußen. (...) Ja, das ist nun aus uns geworden. Die Leute überlegen schon, was sie machen wollen, wenn die Russen kommen. Manche beruhigen sich selbst immer noch und sagen mit einer Handbewegung: Ach, bis Berlin kommen die doch nicht. Alle Männer müssen zum Volkssturm, und überall reden die Menschen nur immer über das Eine. Denken tue ich eigentlich gar nichts mehr, ich lasse mich so mitschleifen, es hat ja doch keinen Sinn, man kann ja doch nichts mehr ändern. (...) An meine schönsten Träume wage ich gar nicht mehr zu denken, mein Motto ist nur noch, den Augenblick zu genießen, wie er sich gerade bietet. Viel ist das auch nicht mehr, aber immerhin. Vielleicht sind unsere Tage schon gezählt. Diese Herren da oben machen ja doch nicht eher Halt bis niemand mehr da ist, der aufrecht steht.

Wie bei der Mehrzahl der Eintragungen schwankt der Grundtenor zwischen Wut und Resignation. Das Tagebuch bewährt sich hier als Genre der Krise. Der Mißmut und die bedrückten Stimmungen, die aus der persönlichen Zwangslage entstehen, fallen zusammen mit einem kollektiven Stimmungstief in Reaktion auf die sich immer deutlicher abzeichnende militärische Niederlage. Der Stillstand der Zeit ist hier Folge der gesellschaftlichen Krise, das »jugendliche Moratorium« (Erikson 1959) ist erzwungen und das Schreiben eine Beschäftigung, um der Öde des Alltags zu entfliehen. Die für Deutschland aussichtslose militärische Lage macht eine sinnvolle Lebensplanung für die Heranwachsende unmöglich. Von den Durchhalteparolen der Nationalsozialisten grenzt Sabine K. sich ab, und zwar in einer Form, wie sie sie öffentlich nicht hätte äußern dürfen. Den Glauben an eine sinnvolle Politik hat sie verloren. Der Vorsatz, den Augenblick zu genießen und sich auf die eigenen Bedürfnisse zu beziehen, ist wie der Selbstbezug im Tagebuch eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Werte- und Sinnverlust. Die äußeren Restriktionen werden zum Anlaß, sich schreibend einen Innenraum zu verschaffen, um sich so wenigstens partiell entziehen zu können.

»Nun sind die Russen in Berlin«, beginnt Sabine am 30. April 1945 ihren Erlebnisbericht. Aus dem Teenager-Tagebuch voller Überschwang, Pathos, Wiederholungen und Frustrationen wird schlagartig ein flüssig geschriebener Erlebnisbericht. Die lebenspraktische Funktion des Tagebuchs verliert an Gewicht; es geht nicht mehr darum, kurzfristig Ärger loszuwerden oder Selbstzweifel zu besänftigen. Das Tagebuch dient nun primär der Dokumentation historischer Ereignisse. Die folgenden Eintragungen sind nicht nur um vieles ausführlicher als die bisherigen, sie sind auch in einem neuen Ton geschrieben. Dominierte im ersten Teil die Klage, so findet man nun einen ambitionierten, teilweise auch humorvollen Schreibstil. Offenbar begriff die Verfasserin die Ereignisfülle des Kriegsendes als eine erzählerische Herausforderung. Ironisch und selbstkritisch kommentiert sie ihren bis zum Kriegsende vorherrschenden selbstbezogenen Schreibstil. »Früher hieß es immer in meinen poetischen Ergüssen: die Zeit steht still..., davon kann aber nun gar keine Rede sein, jetzt rast die Zeit, morgen sind wir schon eine Woche russisch« (3. Mai 1945).
Werden im ersten Teil der Aufzeichnungen Stillstand und Stagnation beklagt, so wird im zweiten Teil die Beschleunigung der Ereignisse zum Auslöser des Tagebuchberichtes. Der radikale Einschnitt, den die Eroberung Berlins auch für das persönliche Leben darstellt, klingt in der Formulierung an, man sei nun »russisch«. Zu einem Zeitpunkt, als in einigen Teilen Deutschlands noch gekämpft wird, versetzt Sabine K. das »Dritte Reich« in das »Früher« einer weit zurückliegenden Vergangenheit.
Die letzte April- und die erste Maiwoche 1945 bringen für die Berliner Bevölkerung einschneidende Veränderungen mit sich. Nach ungefähr zweiwöchigen Kampfhandlungen übernimmt die sowjetische Militäradministration mit dem Waffenstillstand am 2. Mai 1945 vorübergehend die Regierung Berlins. Erst mit dem Einzug der Westalliierten am 3. Juli 1945 wird diese Phase der sowjetischen Regentschaft beendet. Wie auf der Konferenz von Jalta im Februar des Jahres beschlossen, wird Berlin nun in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Aus dieser Zeit, die Sabine K. als Phase des »Interregnums« (4. Mai 1945) bezeichnet, erzählt sie in den folgenden Aufzeichnungen.

30. April
Nun sind die Russen in Berlin. Man sollte es kaum glauben, wir leben noch, unser Haus steht noch, und bis auf die zerschlagenen Fensterscheiben und durchwühlten Koffer und einem kleinen Schock in den Gliedern  befinden  wir uns  ganz leidlich.  Allerdings weiß ja  kein Mensch, was werden wird, aber wir halten uns immer gegenseitig vor, wie zufrieden wir sein können. Aber nun will ich mal der Reihe nach zu erzählen versuchen.

Dieser Auftakt ihres ausführlichen Erlebnisberichtes vereinigt eine kurze Charakterisierung der aktuellen Situation, einen Hinweis auf die überstandene Gefahr, ein Lebenszeichen und ein Resümee des Schadens. Sie versucht im folgenden rückblickend, die Ereignisfülle der vergangenen 14 Tage nachzuerzählen und in detailreichen und farbigen Geschichten eine chronologische Rekonstruktion der unmittelbaren Vergangenheit zu geben. Die Rückschau wechselt mit aktuellen Zeitreflexionen, in denen die Verfasserin ihre jeweilige Schreibsituation kommentiert. Die Vorgriffe und die Kommentierungen, durch die der Ablauf der Ereignisschilderung immer wieder durchbrochen wird, sind hierbei der Dynamik des Erzählstoffes geschuldet. Die veränderte Gegenwart holt die Erzählerin immer wieder ein. Die Diskrepanzen zwischen den Bewertungskriterien zum Zeitpunkt des Geschehens, den »letzten Tagen des III. Reiches«, und der Berichterstattung, den »ersten Tagen unter russischem Regime«, kann sie oft nur mühevoll überbrücken. Da die Erwartungen, Haltungen und Wertungen zum Zeitpunkt der jeweiligen Erlebnisse zuweilen erheblich von den aktuellen Situationseinschätzungen abweichen, bedarf es ständiger schriftlicher Überleitungen, um diese Diskrepanzen zu überbrücken. Spätere Erfahrungen relativieren die vorangegangenen, und die Ereignisse der verflossenen Woche geben vor dem Hintergrund der neuen Erlebnisse einen völlig anderen Sinn. Dieser Prozeß ständiger Revision von Einschätzungen und Bewertungen wird in Sabine K.s Bericht über die letzten Abwehrkämpfe in Berlin deutlich, den sie am 2. Mai 1945 im Tagebuch festhält:

Gestern konnte ich leider nicht weiter schreiben. Ich bin ja überhaupt immer auf dem Sprung, denn jeden Augenblick kann ein Russe hier heraufkommen, dann springe ich schnell unter das Bett in der Kammer; denn das stimmt, daß sie alle Mädchen und auch ältere Frauen vergewaltigen. Aber das kommt später.
(...) mit dem ersten Tag an dem die Russen im Großraum Berlin aktiv wurden, hörten die Angriffe auf. Deshalb waren wir auch alle geneigt, den Gerüchten über eine Entzweiung zwischen Russland einerseits und Amerika und England andererseits Glauben zu schenken. Zumal dies bis zuletzt von amtlicher Stelle verbreitet wurde, um uns bei der Stange zu halten. Den Volkssturmsoldaten hat man sogar genaue Termine für amerikanische Luftlandungen angegeben. Die armen Kerle haben vergeblich auf die Verstärkung gewartet. Der verbissene Widerstand, den die Kerle uns gepredigt haben, hat überhaupt so manche Träne gekostet, vierzehnjährige Hitlerjungen haben sich gewunden mit den Bauchschüssen der russischen Scharfschützen im Leib, die Männer standen mit der Panzerfaust gegen schärfste Waffen und Maschinenwaffen, man kann wirklich sagen, jeder Gefallene hier in Berlin ist ein persönliches Opfer für unsere Bonzen. Also, nun aber der Reihe nach (...).

In den letzten Apriltagen, über die sie berichtet, glaubten viele noch an die Entzweiung der Alliierten-Koalition. Große Hoffnungen setzten viele auf eine Verstärkung von Truppen aus dem Westen Deutschlands und auf eine damit verbundene Kriegswende in letzter Minute. Andere spekulierten darauf, daß die Westalliierten und nicht die Rote Armee Berlin erobern würden. Gerüchte, die von der NS-Propaganda systematisch in Umlauf gesetzt wurden. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung weiß Sabine K., daß sie lancierten Falschmeldungen Glauben geschenkt hatte. Die Berliner Bevölkerung, die von der »Endkampf«-Propaganda durchaus nicht unbeeinflußt gewesen ist und die letzten Verteidigungsmaßnahmen getragen hat, stellt Sabine K. nun als betrogenes Opfer der »Bonzen« dar. Irritierend ist bei diesem Eintrag die Brüchigkeit ihres Schreibstils. Durch die umgangssprachlichen Formulierungen kommt ein flapsiger Ton in die Berichterstattung. In einem Atemzug mit lockeren Sprüchen sind sentimentale Wendungen in den Text eingestreut, die oft in einem kruden Mißverhältnis zu den Ereignissen stehen. In dem Satz, der »verbissene Widerstand«, den »diese Kerle gepredigt
haben«, habe »manche Träne gekostet«, sind diese widersprüchlichen Elemente vereinigt.
Schon am darauffolgenden Tag, am 3. Mai 1945, hat sich Sabine K.s Situationseinschätzung verändert. Schien es ihr am 2. Mai noch so, als hätte sich mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen die nationalsozialistische Propaganda bestätigt, so glaubt sie nun, sich mit der neuen Besatzungsmacht gut arrangieren zu können. Der am Vortag verhandelte Waffenstillstand wird bereits eingehalten. Die Kampfhandlungen sind zu Ende. Ein Großteil der deutschen Truppen ist in Gefangenschaft. Mit dem Ende der Kämpfe beginnt in der Stadt die Reorganisation des Lebens, die von der sowjetischen Militäradministration schon im Vorfeld geplant worden war. Man wird wieder regiert. Da die kämpfenden sowjetischen Truppen wieder zusammengezogen worden sind, kommt es nur noch vereinzelt zu Vergewaltigungen und Plünderungen. Sabine K. traut sich zum ersten Mal wieder auf die Straße und empfindet sich wie eine vom »Tode Auferstandene«. Zögerlich beginnt der Frühling. In dieser veränderten Situation versucht Sabine K. eine Art weltanschauliche Revision, mit der sie zum wiederholten Mal die Ereignischronologie unterbricht.

3. Mai (...) Gestern brachten sie von draußen die Nachricht, daß Hitler sich erschossen habe, Berlin ganz und gar in russischer Hand und Waffenstillstand geschlossen worden sei. Alles drei würde uns sehr erfreuen, wenn es wahr wäre. Aber man ist jetzt schon ein bißchen vorsichtiger geworden, es ist uns ja zu viel vorgeschwindelt worden. (...) Hoffentlich stimmt es nicht, daß die Amerikaner kommen, denn mir sind jetzt die Russen ganz sympathisch, und immer besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, vielleicht haben wir sogar schon die Taube in der Hand, wer kann es wissen? Die Leute haben nämlich schon wieder gefaselt, die Amerikaner rückten in Friedenau ein. Das klingt verflixt nach Gerücht, zugegeben, was sollen sie denn ausgerechnet in Friedenau? Es wird ja auch nicht stimmen. Hitler soll am 21. April einen Hirnschlag bekommen haben und am 24. gestorben sein, Eisenhower soll das im Rundfunk bekannt gegeben haben. Ach, mir ist wirklich alles wurscht, ich habe mich nie sehr für Politik interessiert, mir ist nur wichtig, ob es in Zukunft so eine Art von Kunst geben wird oder nicht.
Die russischen Soldaten machen uns schon vor, wie wir früher stramm gestanden und gegrüßt: Heil Hitler! Nun mußten die Leute auf einer Versammlung Heil Stalin! rufen, daran wird man sich auch gewöhnen. Das Heil Hitler ging uns ja auch nicht leicht über die Lippen, und wir hoffen alle sehr, daß wir vielleicht wirklich noch einmal aus vollem Herzen Stalin Heil zurufen. Warum auch nicht?
Was Rußland betrifft, hat uns unsere Propaganda von a bis z belogen. Die Russen sind weder Schweine noch Lumpenbarone, weder Menschenfresser noch Wildschweine, abgesehen von dem Abschaum, den es in unserem Heer genauso gegeben hat. Denn die Typen, die hier in die Häuser kommen, alles durchwühlen, stehlen und plündern, die Mädchen und Frauen vergewaltigen, sind ja meiner Meinung nach nicht die russische Armee, das sind irgendwelche asiatischen Hinterwäldler. Außerdem ist ihnen ja streng verboten in die Häuser zu gehen. Die Offiziere sagen uns immer wieder, wir sollten sie einfach nicht hereinlassen; daß sie uns dann die Türe einschlagen würden, ist ja wieder eine andere Sache. Von Stalin soll ein Befehl gegeben worden sein, daß keiner deutschen Frau etwas geschehen soll, aber in den besetzten Gebieten sind wohl die Frauen zu zählen, die nicht irgend so einer vorgehabt hat. Dabei haben sie alle Angst! Mit angeschlagener Pistole treten sie den Rückweg an, daß man ja nicht schreit. Wenn ein Offizier sie dabei erwischt, werden sie wohl streng bestraft. Na, das kommt alles nachher.

Man merkt dem Text an, daß er unter dem unmittelbaren Eindruck des Waffenstillstands verfaßt ist und daß die Aufrechterhaltung der eben erst gewonnenen Ruhe für die Tagebuchautorin das zentrale Anliegen ist. Selbst von der Möglichkeit des Einmarsches der Amerikaner will sie nichts wissen, weil dies mit Verhaltensunsicherheiten verknüpft wäre und die neue Ordnung des Alltags gefährden könnte, die sich gerade erst abzuzeichnen beginnt. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Verfasserin jung ist und sich selbst als politisch nicht sehr interessiert bezeichnet, frappiert der Text doch durch das krude Durcheinander dieser auf die Schnelle zusammengezimmerten pragmatischen Neuorientierung. Was das Ausmaß der Desorientierung und die damit zusammenhängende Unfähigkeit, Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt hin einschätzen zu können, anbelangt, fällt Sabine K.s Lageeinschätzung jedoch keineswegs aus dem Rahmen vieler Aussagen, die man in den Tagebüchern dieser Zeit finden kann. Auffällig ist jedoch die Leichtigkeit, mit der sich die Verfasserin vom »Dritten Reich« verabschiedet. Die Formulierung: »Das Heil Hitler ging uns ja auch nicht leicht über die Lippen« zeigt, daß Sabine K. sich und ihre Umgebung zu denjenigen zählt, die innerlich immer auch etwas gegen den Nationalsozialismus einzuwenden hatten. Dieser impliziten Distanzierung ist nichts von rechtfertigender Verteidigung anzumerken. Die Frage einer persönlichen Mitverantwortung  am  Nationalsozialismus  oder gar einer Mitverschuldung, Paradigmen, die später bei der Entnazifizierung und der Debatte um die Kollektivschuld vorherrschend werden, spielen auch in den späteren Tagebuchaufzeichnungen keine Rolle. Kaum ist ein Mindestmaß an erträglichen Lebensbedingungen hergestellt oder wenigstens perspektivisch vorstellbar, verfolgt Sabine K. eigensinnig ihre Ziele weiter.
Grundlegende Überzeugungen, die bislang maßgebend waren, die Hoffnung auf den starken Führer als Garant für Recht und Ordnung, der Glaube an die Ehrenhaftigkeit der Armee, verbunden mit rassistischem Ressentiment, d.h. die Unterstellung moralischer Minderwertigkeit einer anderen »Rasse«, werden bei dieser undramatischen Neuorientierung beibehalten. Daß Sabine K. bei ihrem Versuch, dem Neuen gegenüber offen zu sein, die alten Argumente stark macht, liegt sicher daran, daß die im Nationalsozialismus Großgewordene sich Alternativen kaum vorstellen kann. Deutlich wird dieser Umstand z.B. an der Bereitschaft der 19jährigen, den »Neuanfang« nun mit Heil-Rufen auf einen neuen Führer würdigen zu wollen.
Im Fortlauf ihrer langen Eintragung vom 3. Mai berichtet Sabine K. rückblickend von der Eroberung ihres Stadtteils, Berlin-Steglitz. Die erste Begegnung mit den sowjetischen Soldaten, am 27. April 1945, hält sie in Form einer ausgefeilten Geschichte im Tagebuch fest:

Am Freitag früh setzte wie immer Artillerie ein. Daran hatte man sich schon mit der Zeit gewöhnt. Wir standen wie sonst auf und frühstückten. Dann klangen die Schüsse plötzlich nicht mehr so nah. (...) Dann kamen allmählich alle aus dem Keller, blinzelten ein bißchen und fingen an zu flachsen. Ich holte eine Rolle Drops aus der Tasche und munter kauend besahen wir uns die Gegend. Dann tadelte Mutti meine Frisur, ich ging als gehorsame Tochter in den Keller, griff mir meinen Affensarg und stieg hoch, um mich zu kämmen. Wie ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel am Balkonfenster stehe, fährt da so eine braune Gestalt auf einem Fahrrad vorüber, grinst freundlich hoch, ich denke, ich sehe nicht recht, aber es war wirklich der erste Russe.
Dann tauchten bald hier und dort Autos auf, wir gingen ins Nebenhaus und standen mit Jenny, Frau M. und Fräulein T. vor der Tür. Da kam wieder ein sehr nettes Kerlchen auf dem Fahrrad vorüber, eine Frau aus Nummer 50 quatschte ihn an, brachte gleich Schnaps, ließ sich die Frontlage zeigen, der alte Chinese und Herr N. gingen dazu, das Frauenzimmer hatte scheinbar schon einen kleinen in der Krone, denn sie benahm sich eigentlich skandalös. Jenny mit dem Küchenmesser in der Hand war ehrlich entrüstet, dann kam einer mit einer Kiste voll Salzstangen, die er wohl irgendwo geklaut hatte. Da standen wir nun und dachten, eigentlich doch ganz ruhig und gesittet in den Frieden hinübergerutscht zu sein. Ja, man dachte so an Herrn Hitler, wie so alles, was er gewollt hatte, ganz ins Gegenteil umgeschlagen war, wir haben feste gehungert und gefroren, unsere schönen Städte sind fast ausnahmslos zerstört, auf seinen Autobahnen rollt der Feind ins Land, sein Großdeutschland ist so klein wie nur möglich und sein Erzfeind Russland so stark und kräftig wie nur möglich. Das Ende und Ziel seiner Regierung ist dieses Chaos und Elend in Deutschland. Tausende von deutschen Menschen mußten ihr Leben draufgeben, noch mehr ihre Gesundheit, noch mehr ihre Heimat verlassen, alles aufgeben, müssen von ihren Angehörigen getrennt leben, abgeschnitten ohne Nachricht; eine riesige glühende Flamme aus Gram und Leid muß zum Himmel geschlagen sein, die alles verzehrt hat, was klein und nichtig in ihren Bereich kam. Ja, wir sind nun wieder auf die Füße gefallen, und wir sehen unternehmungslustig an der Nase vorbei nach neuen Taten, es ist ein Segen, daß der Mensch immer wieder gezwungen ist, sich in den Strom zu stürzen und mitzuschwimmen, nicht abseits stehen bleiben darf. So wird sich das Rad wieder langsam zu drehen anfangen, und so tapfer wie der weiße Baum in unserem Vorgarten Blüten über Blüten unter den Trümmern hervortreibt, werden wir auch wieder blühen. Das hoffe ich so sehr; nachdem so lange Kriegsrecht geherrscht hat, kommen nun hoffentlich die lieblichen Gefühle auch wieder zu ihrem Recht. Wir wollen ja die Ruinen und Wunden gar nicht ungeschehen machen, dann würden sie ja ihren Sinn verlieren, im Gegenteil, sie sollten den höchsten reinsten Sinn erhalten, sie sollen den Menschen geholfen haben. Ein kleines Kind kann man ja auch nur mit Schlägen erziehen, zumindest so eins, wie es die Menschen sind.
Ja, das war also am Freitag, den 27.4. um 11.15 Uhr.

Die Szene, in der die Anwohnerinnen zum ersten Mal sowjetischen Soldaten begegnen, erinnert in Sabine K.s Schilderung eher an ein kleines Volksfest als an eine Eroberung: Die ersten Russen sind grinsende junge »Kerlchen« auf Fahrrädern, es gibt Schnaps, Salzstangen und Drops. Es bedarf einiges an erzähltechnischem Aufwand - wie der Blick des unschuldigen Mädchens in den Spiegel -, um aus dem unerwartet harmlosen Zusammentreffen überhaupt eine spannende Geschichte zu machen. Die Erzählung gewinnt ihren Reiz vor der Folie der kollektiven Erwartungen. Plötzlich ist das eingetreten, was man befürchtete, wogegen bis zuletzt gekämpft wurde, was nicht wahr werden sollte und worauf man nun schon Tage wartete: Die Russen sind da, die »Festung Berlin« ist gefallen. Sabine K. ist sich bewußt, einen historischen Moment zu erleben. Die übergenaue zeitliche Verortung dieses ersten Zusammentreffens »27.4. um 11.15 Uhr« soll die Authentizität ihres Berichtes unterstreichen. Was jedoch passiert, steht erst einmal in keinem Verhältnis zu dem, was man sich vorstellte; es geht vielmehr unspektakulär, relativ »gesittet« zu. Sabine K. scheint nicht nur ihren Augen, sondern ebenso ihren Wertungen nicht recht zu trauen: Das »eigentlich« skandalöse Verhalten einer Nachbarin wirkt angemessener als die »ehrlich[e]<< Entrüstung Jennys, die sich mit einem Küchenmesser bewaffnet hat. Die Verfasserin läßt dieser Schlüsselszene eine weltanschauliche Reflexion folgen, die sie in die Köpfe und Herzen der Kellergemeinschaft hineinverlegt. Der optimistische Grundton dieser Überlegungen ist wohl auch Resultat ihrer gehobenen Stimmung am 3. Mai, als das Kriegsende im Alltag spürbar zu werden beginnt. Das »Wir«, in dessen Namen Sabine K. hier schreibt, meint anfangs die Kellergemeinschaft. Der Allgemeinheitsanspruch des Textes macht jedoch deutlich, daß es später als Kollektivbegriff für alle Deutschen verwendet wird, deren Erfahrungen wiederum Modell stehen für den >Menschen an sich<.
Der sowohl pathetisierende wie harmonisierende Kommentar charakterisiert die Gesamtheit der Deutschen als vom Führer betrogene DulderInnen, die nun eines Besseren belehrt und durch Leid geläutert, tatkräftig einem neuen Anfang gegenüberstehen. »Herrn Hitler« - die höfliche Bezeichnung markiert Distanz (mit diesem Herrn verkehren wir nicht mehr) - wird hier die Alleinverantwortung für den Krieg, vor allem für die Konsequenzen der militärischen Niederlage zugesprochen. Die metaphysische Deutung erklärt den Krieg im Anschluß zum kollektiven Blutopfer und Fegefeuer der Läuterung. Wie in den Aufzeichnungen von Lieselotte G. steht das Leid der »deutschen Menschen« im Mittelpunkt, die übrigen Opfer des Weltkrieges bleiben unerwähnt.
»Das Rad der Geschichte dreht sich immer weiter«. »Leid läutert«. »Wie eine Katze immer auf die Pfoten fallen.« »Vorwärts zu neuen Taten.« Auf Spruchweisheiten und Idiome dieser Art bezieht sich Sabine K. und fügt sie teilweise recht entstellt in die Satz- und Argumentationsstruktur ein. Sie versucht so, ihrer Deutung des Geschehens Nachdruck zu verleihen.
Durch die Gleichsetzung des Neubeginns mit dem im Frühling erblühenden Baum wird der Verlauf der politisch-militärischen Ereignisse in Relation mit natürlichen Gesetzmäßigkeiten gesetzt. Die Parallelisierung erlaubt es, sich in einer als bedrohlich wahrgenommenen Gegenwart eines unanfechtbaren Sinns zu vergewissern, der stärker ist als die äußere Zerstörung. Hinter der Naturalisierung verbirgt sich der Wunsch, daß auf menschlich verursachtes Leid ebenso sicher eine lichtere Zukunft folgen möge, wie nach jedem dunklen, kalten Winter ein warmer Frühling kommt. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, und nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai« lautete der Refrain von Laie Andersens populärem Durchhalte-Schlager des Jahres 1942. In diesem Lied ist es ein Frontsoldat, der diese Zeile an seine Freundin in der Heimat schreibt. Auf »Weisheiten« dieser Art wird offenbar immer dann verstärkt zurückgegriffen, wenn andere Erklärungen nicht mehr tragen. In Briefen, die deutsche Wehrmachtssoldaten aus dem »Kessel von Stalingrad« schrieben, als alle Zeichen auf eine vernichtende Niederlage hindeuteten und man dennoch weiterkämpfte, taucht diese Zeile so häufig auf, daß man sie fast als einen Leitspruch der Niederlage bezeichnen könnte.[29]
Mit Hilfe eines Mosaiks von Gemeinplätzen, durch Metaphorisierung und Sinnbildtechnik verallgemeinert Sabine K. das historisch Konkrete - die deutsche Niederlage - ins Universelle. Erst durch diese Form der Bearbeitung gelingt es ihr, dem Kriegsausgang einen Sinn, d.h. einen positiven ideellen Zweck zu unterlegen. Das Ausmaß der Zerstörung und der Leiden wird als Strafe mit pädagogischer Zielsetzung gedeutet. Das Erstaunen darüber, daß das Leben nach dem Sieg der Roten Armee weitergeht, etwas, was sich viele einige Tage zuvor so schwer vorstellen konnten, wird nicht mehr thematisiert. Der Neubeginn wird vielmehr zum anthropologischen Schicksal verklärt und die Niederlage zu einer Form der nationalen Wiedergeburt stilisiert.
Die Tagebuchautorin beschließt damit an dieser Stelle ihre Gedanken zum Kriegsende, um in ihrem Bericht zu den Vergewaltigungen und Plünderungen der sowjetischen Soldaten überzugehen, die sich der Eroberung anschlossen. Die ersten beiden Tage im Mai, an denen sich Sabine K. aus Angst vor den sowjetischen Soldaten im Kellerverschlag oder unter dem Bett in der Wohnung versteckt hält, schildert sie als ausgesprochen trostlos und finster. Ich zitiere ein Stimmungsbild aus einer ihrer Erzählungen. Zusammen mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft hält sie sich in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai in einem Kellerverschlag versteckt:

Allmählich wurde man steif und steifer, unter Zittern und Zagen verging die Zeit. Wir bekamen eine Schnitte mit Schweinefleisch, sonst waren Seufzer unsere Speise. Ich weiß nicht, wie oft ich allen Ernstes wünschte, tot zu sein. Wir hörten nun immer, wenn wieder welche kamen, und unsere Leute ganz verzweifelt riefen, sie hätten keine Uhren mehr, die anderen Kameraden hätten schon alles weggeholt. (...) Am meisten hatte noch Mutti Angst. Sie redete mir immer gut zu, das sei eben eine Gewalttat, die ja am Menschen nichts änderte. Mir schwirrte so allerlei durch den Kopf, dabei dann gleich echte Erinnerungen ans Schillertheater. Manchmal stieg es mir brühheiß ins Herz, wenn ich an unsere stolzen Hoffnungen dachte und damit unsere Lage verglich. Nicht mal für Leib und Leben hatte man Sicherheit.

Auf die einschneidenden psychologischen Folgen, die die Übergriffe der sowjetischen Soldaten für die Berliner Frauen hatten, bin ich bereits eingegangen. Wie bei vielen der Berliner Tagebuchautorinnen läßt sich der Stimmungsumschwung von anfänglicher Erleichterung zu Niedergeschlagenheit, Angst und Bedrückung aus den Aufzeichnungen herauslesen. Auch bei Sabine K., die sich um ihre »stolzen Hoffnungen« betrogen sieht, wird deutlich, wie sich das Gefühl, persönlich bedrängt und bedroht zu sein, mit dem der nationalen Kränkung vermischt.
Die Ausschreitungen der sowjetischen Soldaten waren einschneidende Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen für die Berliner Frauen und Mädchen. Sie hinterließen aber wohl auch deshalb einen so nachhaltigen Eindruck, weil sie sich zu einer körperlichen Konkretisierung der kollektiv erfahrenen Kränkung eigneten. Die militärische Niederlage begriffen viele als »Schande«. Frauen wie Männer fühlten sich in ihrem Ehrgefühl bedrängt, um ihre »stolzen Hoffnungen« betrogen. Mit dem Ende des Krieges wurden viele Frauen nun tatsächlich zu Überfallenen Opfern fremder Aggressoren. Hier konnte man nun über eine bedrohte »Unschuld« klagen. Eine »Unschuld«, die man auf der gesellschaftlich-politischen Ebene kaum für sich reklamieren konnte. In der Folge stärkten die Ausschreitungen der sowjetischen Soldaten den ohnehin tiefverwurzelten Antibolschewismus der deutschen Mehrheit. Auch lieferten sie der sinn- und erfolglosen Verteidigung Berlins fatalerweise eine allerletzte Rechtfertigung und stützten bei vielen rassistische Ressentiments.

Sabine K. schließt ihren ausführlichen Bericht über die Ereignisse der Eroberung Berlins am 3. Mai 1945 ab. In den folgenden beiden Wochen beschreibt sie unterschiedliche Episoden aus dem besetzten Berlin. In den Straßen- und Alltagsszenen, die reportagehafte Züge annehmen, weiß sie die eigene Person in Abgrenzung zur sowjetischen Besatzungsmacht, aber auch in Abgrenzung zur Masse der BerlinerInnen zu profilieren. Für diese Geschichten aus den »ersten Tagen unter russischem Regime« gilt dasselbe, was der Literaturwissenschaftler Klaus Scherpe über die Reportagen schrieb, die in den ersten Nachkriegsjahren zuhauf veröffentlicht wurden: Dem Anschein einer konkretisierenden Authentizität zum Trotz sind die Ansichten und Anschauungen durch die zeitgenössischen Möglichkeiten und Grenzen des »Sichtbaren, Erinnerbaren und Denkbaren über Deutschlands Vergangenheit und Zukunft« geprägt (Scherpe 1982, 39). Ich werde im folgenden einzelne Episoden aus dem Tagebuch Sabine K.s herausgreifen und zeigen, daß in die so unbefangen wirkende Schreibweise, in die bunte Fülle der Bilder nichtsdestoweniger weitreichende Deutungsmuster eingeschrieben sind.

Trümmeransichten

4. Mai
(...) Nun ist dieses Interregnum eben in jeder Beziehung ekelhaft. Gestern sind Mutti und ich mit einem kleinen Leiterwagen zum Güterbahnhof Priesterweg gefahren, um Kohlen zu holen. Da stehen die Züge auf den Gleisen und das Volk fällt darüber her und rabt, was es raben kann, ob das nun Kohlen, Viskose, Rohseide auf Spulen, Broschüren, Papplatten, große Papierbogen oder Steinkohlen sind, spielt gar keine Rolle, Hauptsache ist, man hat seinen Karren bis zum Brechen vollgeladen und kann im Triumphzug nach Hause rattern. Die Leute regen sich so über die Russen auf, aber die da am lautesten schreien, fallen wie die Vandalen über alles her, was nicht ein anderer mit der Flinte bewacht. Daß man sich Kohlen oder eventuell auch Lebensmittel holt, ist nichts als recht und billig, wenn eben kein anderer für uns sorgt, müssen wir uns selbst helfen. Aber alles andere wegzuschleppen, finde ich nichtswürdig und erniedrigend für alle.
Der Weg zum Bahnhof war eigentlich sehr entmutigend. Die ganze Bergstraße entlang sah man nichts als Ruinen, Schuttberge und Steinhaufen. Hin und wieder blinkte zwischen den Steinen eine Kugel, am Zaun lag ein Kleiderbündel und eine leere Flasche. Im Südgelände mußten wir unseren Wagen durch eine kleine trostlose Schlucht ziehen, die scheinbar als Verteidigungslinie gedient hatte, denn da waren Schützenlöcher ausgehoben, mit vertrockneten Tarnbüschen bedeckt. Eine kleine Feuerstelle dazwischen, darum leere Konservenbüchsen verstreut, eine halbe Panzerfaust, eine russische Uniformhose, schwarze Filzstiefel, Bonbonpapierchen, eine leere Parfümflasche, Lappen, Brennstoffässer, Schnapsflaschen, Munition, verschüttete Erbsensuppe, Käseschachteln und ein Helm. Das alles auf dem trostlos trockenen gelben Lehmboden, auf dem sich kaum ein Grashalm zu wachsen wagt.
Dann kamen wir auf die Straße, die an der Bahn entlang führt. Da lag ein toter Russe, er mußte im Laufen gestürzt sein, der Helm war ihm in die Stirn gerutscht, er lag auf dem Gesicht, daß man nur die glatte gelbliche Haut seines jungen Nackens sah. Der eine Oberschenkel war an der einen Seite vollkommen zerfetzt, die linke Hand mußte auch durchgeschossen sein, denn die Finger waren so seltsam verkrümmt. Hier standen nun mächtige hellgrüne halb blühende Kastanien, das Bild war so seltsam ergreifend, daß man es hätte zeichnen mögen. Aber bald noch lieber hätte ich eine Schaufei genommen und den armen Kerl >der Erde wiedergegeben<. Da sind nun wohl täglich hunderte von Menschen vorübergepilgert und jeder hat ihn liegen sehen mit dem Gesicht auf der Erde, dem vorgerutschten Stahlhelm und der verkrümmten Hand. Was mögen sich wohl so die Leute gedacht haben? Ich schätze, nicht viel. Auf dem Hinweg jieperte jeder recht viel Kohlen zu ergattern, und auf dem Rückweg wollte sie jeder möglichst bald unter Dach und Fach bringen. So wird das gelbe Bürschchen wohl noch immer da liegen.
Auf dem Rückweg standen die grünen Kastanien mit den buschigen so herrlich saftigen Kronen gegen den zerrissenen grauen Himmel. Die Sonne sah ab und zu beinah drohend gelblich hervor, hinten am Horizont lag in blauen Schatten das Panorama von Berlin. Unser armes Berlin, ein einziger Schuttberg. Es ist ein Jammer um die ganze Welt.

Die Geschichte hat wenig äußere Handlung: Zwei Tage nach Ende der Kampfhandlungen, das Stadtbild ist noch von den Kämpfen geprägt, machen sich Mutter und Tochter auf den Weg, um gemeinsam mit anderen Kohlen zu stehlen. Da man nicht weiß, wie die Versorgung in der nächsten Zeit aussehen wird, versuchen die BerlinerInnen, Dinge, an die sie eben herankommen, für sich zu sichern. Die Wertungen der Verfasserin, die die Plünderungen einerseits rechtfertigt, deren Ausmaß und das Verhalten des »Volkes« aber abgrenzend als »nichtswürdig« und »erniedrigend« bezeichnet, sind strukturiert durch moralische Konflikte und die Sehnsucht nach dem Ende des »Interregnums«. Gerade der Umstand, daß die Verfasserin nicht anders als die anderen sich an dieser illegalen Handlung beteiligt - Plünderungen wurden im und nach dem Krieg zuweilen streng geahndet -, stärkt hier offenbar den Wunsch, sich von den übrigen abgrenzen zu wollen. Die Verurteilung der anderen hilft Sabine K. wohl auch, Schuldgefühle abzuwehren. Auch wenn sie dasselbe tut, möchte sie sich doch nicht mit den anderen gemein machen. Hinter dem Bedürfnis nach Distanzierung scheint auch die Angst vor sozialer Deklassierung zu stehen. In der Klage über das »rabende« Volk schwingt die Sehnsucht nach Sicherheit, Recht und Ordnung und gesellschaftlichen Solidarstrukturen mit.
Sabine K. nimmt die Darstellung der zerstörten Stadt zum Anlaß eines auf Tragik angelegten düsteren Zeitporträts. Ihre detailpralle Wegbeschreibung ordnet sie zu einem »Gemälde« an, das Berlin als ein verlassenes Schlachtfeld präsentiert. Grausiger Akzent dieses Bildes ist der tote sowjetische Soldat; die wiedererwachende Natur gibt den expressionistisch bewegten Hintergrund ab. Im Zentrum der Betrachtung steht die Schreibende selber, die sich »seltsam berührt« in der Rolle der Mitleidvollen in den Vordergrund dieses Panoramas menschlichen Leids positioniert. Mit ihrem Wunsch, »den armen Kerl der Erde wiederzugeben«, präsentiert Sabine K. sich als Humane, deren Mitleid die gängigen Normen durchschnittlicher Gefühllosigkeit überschreitet, und weiß sich so vor dem Hintergrund des übrigen Volkes abzusetzen. Man merkt der Beschreibung das Bemühen an, eine Erzählung mit literarischer Qualität produzieren zu wollen. Gleichzeitig versucht sich die Tagebuchautorin durch die wiedergegebene Detailfülle des Tatsächlichen zu vergewissern. Der Aufwand des Sprachgemäldes gehört ebenso wie die Verurteilung der plündernden Menge zu dem Versuch, dem sozialen Gleichmacher Krieg Individualität entgegenzusetzen. Die Profilierung der eigenen Person trägt dazu bei, die Sorge zu mildern, in einer Gesellschaft unterzugehen, die in dieser Sicht durch Unordnung, Zerstörung und Vandalismus geprägt ist.
Die mißliche Situation, in der moralische und soziale Kriterien außer Kraft gesetzt sind, wird umgedeutet in ein Geschehen von tragischer Tiefe. Das konkrete Erlebnis kann durch das Raster der Tragödie ins Allgemein-Menschliche transponiert werden. Der Anblick der zerstörten Stadt wird zum Anlaß des »Jammer[s] um die ganze Welt«. Wie schon bei ihrer Deutung des Kriegsendes kann Sabine K. so den Spuren der Destruktion einen tieferen Sinn abgewinnen.

Bereits Mitte Mai, unmittelbar nach Kriegsende, richtet Sabine K. alle ihre Bemühungen darauf, eine Schauspielausbildung beginnen zu können. Auch ein Fußmarsch von Steglitz nach Berlin Mitte zum Deutschen Staatstheater am Gendarmenmarkt dient dem Versuch, entsprechende Möglichkeiten auszukundschaften. »Wie weit man sich doch in seinen Träumen hinreißen läßt!« kommentiert sie ihr Unternehmen. »Ich ging so weit an Vorsprechen zu denken und überlegte, was man nehmen könnte. Und dann dieser jammervolle Anblick« (17. Mai 1945). In zwei Tagebucheintragungen am 17. und am 20. Mai berichtet sie in einer 11 Seiten umfassenden Beschreibung von ihren Eindrücken. Bei den Trümmerkulissen der zerstörten Stadt, die sie erzählend entwirft, weist jedes Detail der Schilderung
bedeutungsträchtig über sich hinaus. Die Straßenszenen, die Stimmungsbilder, die sie von der Ruine des Theaters malt, werden zu Sinnbildern, an denen sich für die Erzählerin Zeitsymptome vergegenständlichen:

20.5.1945 (...) Am meisten beeindruckt hat mich eine Reihe von russischen Offizieren, verwegenere Gestalten kann man sich kaum denken, lange schlanke Figuren mit sehnigen Reiterbeinen und hohen Pelzmützen auf dem Kopf. Die schleuderten die reinsten Blitze aus ihren dunklen Augen, daß einem ganz angst und bange wurde. (...) Der Wilhelmplatz macht auch einen trostlosen Eindruck. Im kleinen Vorhof der alten Reichskanzlei grasten bunte Panjepferdchen und dicke Russen dösten vor sich hin und kratzten ihre >kahlen Bomben<. (...) da wurde einem Mann sein schönes Fahrrad abgenommen, dort stand wieder eine lange Reihe Autos, drüben schippten die armen Leute immer noch, aber der Berg ist doch schon viel kleiner geworden, jetzt kommt eine lange Kolonne Panjewagen die Straße heruntergeklappert mit netten kleinen Pferdchen davor, die Zügel halten richtige alte russische Bauern mit tausend Falten um die Augen und langen Schnauzbärten. Vor dem Prälaten stehen zwei winzige Mongolen mit Schlitzaugen und platten Nasen und halten jeder einen prachtvollen deutschen Schäferhund an der Leine, die sie mit eigentümlichen Hetzlauten aufeinanderjagen. Das Jaulen der Hunde und das Johlen der umstehenden Soldaten erfüllte die ganze Straße und die schmalen Augen der kleinen Kerle blitzen. Auf den Bänken unter den Bäumen sitzen ältere deutsche Männer und Frauen und radebrechen mit russischen Soldaten, während die Mädchen rockwippend vor den Posten auf- und abgehen. Ich kann mir nicht helfen, die Mädchen und Frauen benehmen sich zum Teil skandalös.

In ihrer Schilderung gibt Sabine K. den unterschiedlichen Gruppen der sowjetischen Besatzungssoldaten einen folkloristischen Anstrich: Die schnauzbärtigen Bauern, die bunten Panjepferdchen wie auch die verwegenen Reiter werden mit einem exotischen Flair versehen. Die Tagebuchautorin kann sich der Fülle der Bilder kaum erwehren, so daß sie unversehens ins Präsens fällt, als zöge die Szenenfolge just an ihren Augen vorbei. Die Erzählung ist aber von Ambivalenzen durchzogen, hinter dem heiteren Ton scheint eine keineswegs ressentimentfreie Haltung der Besatzungsmacht gegenüber immer wieder durch. Sabine K. schildert die Szenen in den Straßen Berlins als eine Welt, in der die Deutschen schuften müssen, während die neuen Herren sich deren Eigentum aneignen. Eine Welt, in der augenscheinlich der zivilisatorische Rückschritt regiert, wo sich bäuerlich träges Ambiente breitmacht auf den Plätzen, die noch von der Macht des untergegangenen Reiches zeugen. In diesem Kontext wirken selbst die glutäugigen Reiter wie aus dem Mittelalter entsprungene Ritter, die zwar schön anzusehen sind, aber eigentlich im 20. Jahrhundert, mitten in der ehemaligen Reichshauptstadt, nichts zu suchen haben. Die Gegenüberstellung der »winzigen Mongolen« mit »dem prachtvollen deutschen Schäferhund« läßt rassistische Vorbehalte durchscheinen. Wie Sabine K. die Kontakte zwischen der deutschen Bevölkerung und den sowjetischen Soldaten schildert, bringt deutlich zum Ausdruck, daß sie sie für moralisch verworfen hält.
Der Höhepunkt der Erzählung von ihrem Weg zur Stadtmitte ist ihre Ankunft am Gendarmenmarkt und der Anblick des zerstörten Theaters:

Da schossen mir aber die Tränen in die Augen. Wo sonst die eleganten Wagen aufgefahren sind, liegen nun Geschütze, Kettenfahrzeuge und SS-Autos in Trümmern. (...) Ich wünschte in dem Augenblick die ganze SS in die Hölle, mußten sie denn gerade da verteidigen? Die hintere Hälfte ist ganz ausgebrannt. Das ganze stolze Gebäude bietet einen so jämmerlichen Anblick, daß einem das Herz brechen müßte.
Ich ging in den Eingang über Steine und Balken hinweg, da hing noch die Anzeige für einen Kammerkunstabend. Im Foyer war es dämmrig,
Schiller, der Arme, hat auch einen Schuß oder was es war in den Hals bekommen. Aber er sieht trotzdem so schön aus, daß es ordentlich tröstlich war. Ich ging die Treppe hoch zum ersten Rang. Die roten Läufer sind vollkommen staubig und voller Mauerbrocken, da hob ich mir ein Stück von einer vergoldeten Stuckleiste auf, zur Erinnerung an tausend goldene Träume.
Der Zuschauerraum, richtiges Parkett ist ganz und gar verbrannt, auf den Eisenträgern kringeln sich noch die Federn aus den Polstersesseln. (...) Die Herrengarderoben stehen zum Teil noch, die Schminktische und Schränke geöffnet, Schutt in den Waschbecken, ein vertrockneter Lorbeerkranz mit roter Hakenkreuzfahne am Garderobenhaken. Da fand ich das kleine Englein, in Paul Wegeners Garderobe war es wohl. Die Damenseite ist leider verbrannt. Ich wäre so gerne noch mal in die Garderobe von der Wagner gegangen. Ach, mein Gott, ich darf gar nicht dran denken! Wie mag es der lieben guten jetzt gehen? Wie sieht das alles jetzt anders aus als damals, als ich hinter ihr her schlich, sie rasselnd, mit dem Fächer klappernd voraus auf die Bühne. Auf die Bühne, ja, da habe ich eigentlich zum ersten Mal auf den so geliebten Brettern gestanden. Nun herrschte Totenstille dort, es roch nur nach Brand und Schutt, wo es sonst so herrlich nach Schminke, Kostümen und geliebten Menschen geduftet hat. Durch ein Loch im Dach fielen schräge Sonnenstreifen auf das Gerippe, das da von einstiger Pracht übriggeblieben ist, klägliche Eisenstangen, wo einst Faust seinen Osterspaziergang gewagt hat und die Widerspenstige gezähmt worden ist. Mir war so entsetzlich traurig zumute. Ich hätte am liebsten geheult wie ein Schloßhund, aber dann wäre wohl meine Wimperntusche abgegangen. (...)
Die Oper sieht nicht besser aus, auch da stehen Fahrzeuge und Geschütze in Trümmern, alles von der SS. Ach, erwürgen könnte ich die Kerle. So ein verfluchtes Pack. Das war ja doch dort genauso meine Heimat wie unsere Wohnung und sollte es noch mal mehr werden. Und nun das! An allen Ecken angeschlagen, verbrannt, verwüstet, geplündert und zerschlagen. (...)
In einer himmlisch komödiantischen Anwandlung schob ich das Lorbeerblatt von dem Kranz von Paul Wegeners Garderobe zwischen die Haken des Geschützes.
Wir haben so ehrlich gelitten, und nun dies.

Das zerstörte Theater weist in dieser Schilderung symbolträchtig über sich hinaus. Sabine K. erkennt in den Trümmern eine Welt, die für sie bis kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee eine vom Krieg verschonte Gegenwelt darstellte. Der Krieg hat die prachtvolle Fassade des Reichs der Illusionen zerstört, in dem das junge Mädchen die Gefühle nachempfand, die sie in ihrem öden Teenagerleben schmerzlich vermißte. Hier hörte das junge Fräulein die gewagten Avancen des verjüngten Dr. Faustus und fühlte sich in der Nähe bekannter Schauspielerinnen den von ihr angestrebten Idealen ein Stück näher. Ihr Traum, hier in naher Zukunft als Schauspielerin lernen und wirken zu können, ist nun in Anbetracht der Zerstörung erst einmal in weite Ferne gerückt.
Nicht anders als bei zuvor geschilderten Straßenszenen wird die Trümmerkulisse für Sabine K. zum bedeutungsträchtigen Sinnbild. Die verstaubten roten Läufer, die vergoldete Stuckleiste oder die angekohlten Polster - alles weist nur symbolträchtig darauf hin, daß das Große, Prachtvolle, Schöne, Würdige nun zur Vergangenheit gehört. Die Verfasserin erspart sich nichts, weder den gefallenen Engel für die verlorene Unschuld, noch den angeschossenen jungen Schiller für das angeschlagene Schöne; die »kläglichen« Eisenstangen anstelle der Bretter bedeuten ihr die Welt, die aus den Fugen geraten ist. Die symbolische Überfrachtung produziert ungewollte humoreske Effekte: Die nur vergoldete Stuckleiste scheint auf den unechten Kern der goldenen Träume zu verweisen. Der Lorbeerkranz, Zeichen des siegreichen Imperators, wird durch den Zusatz der Hakenkreuzfahne aktualisiert und weist symbolträchtig auf den Untergang des >Dritten Reiches< hin. Wüßte man nicht, wie ernst der Verfasserin zu Mute ist, so würde man es für eine gelungene Satire halten, daß sie ausgerechnet in den kümmerlichen Resten einer Schauspielergarderobe den Untergang des >Dritten Reiches< wiederfindet und erkennt. Das Resümee ihrer Betrachtungen: »Wir haben so ehrlich gelitten, und nun dies« zeigt, daß es Sabine K. trotz komödiantischer Anwandlung und ausgeprägter Fabulierlust vor allem darum geht, das tragische Moment ihrer Erlebnisse herauszustellen. Die Trümmer des Theaters dienen hier als Projektionsort, an dem Sabine K. das Gefühl der verlorenen Größe festmacht. Sie nimmt die mächtige Kulisse des zerstörten Staatstheaters, um ihre Trauer um den Verlust einer vormals intakten und geordneten Welt ausdrücken zu können.
Die Wanderung durch die zerstörte Stadt ist die letzte ausführliche Geschichte, die Sabine K. im Tagebuch festhält. In ihrem kurzen Schlußbericht über ihren ersten Kinobesuch sind es wie bei anderen Autorinnen die Lichter der Stadt, die zu einem eindrucksvollen Bild vom Ende des Krieges werden. Die folgende Bemerkung aus ihrem Eintrag liest sich wie eine bewußte schriftstellerische Fügung, die den Schlußpunkt einer Erzählung über eine dunkle und außergewöhnliche Zeit und das Ende des Alltags im Ausnahmezustand markiert: »Wir waren in den >Kronenlichtspielen<. Ein seltsames Gefühl war es ja doch, als da die Lampen so brannten, als wäre nie etwas gewesen« (22. Mai 1945).

Zusammenfassung

Im ersten Schreibjahr 1944 werden für Sabine K. Stagnation und Ungewißheit und die Unmöglichkeit einer sinnvollen Zukunftsplanung Gründe ihrer Selbstvergewisserung im Tagebuch. Ihre persönliche Krise, die sich in permanenten Klagen äußert, steht hierbei in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der zunehmenden gesellschaftlichen Perspektivlosigkeit. Das Diarium wird zum Schutzraum, in dem die Heranwachsende negative Gefühle und abweichende Meinungen äußern kann.
Die kurze dramatische Zeitspanne vor und unmittelbar nach der Eroberung Berlins durch die Rote Armee wird Ende April zum Auslöser eines ereignisorientierten Zeitberichtes, der mit den ersten Anzeichen einer Normalisierung im Alltag abbricht. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind ein eindrückliches Beispiel dafür, daß es die Lebenseinbrüche und -Veränderungen sind, die erinnert und erzählt werden. In den Geschichten von den »letzten« und den »ersten« Tagen weiß Sabine K. ihre Person von der Mehrheit der Deutschen und von der sowjetischen Besatzungsmacht positiv abzugrenzen und bearbeitet so Gefühle der Kränkung und die Angst vor sozialer Deklassierung. Gleichzeitig versucht sie, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren und der veränderten Situation entsprechende Neuorientierungen zu finden. Ihre szenischen Darstellungen aus dem zerstörten Berlin weisen bedeutungsträchtig über sich hinaus.
Die Trümmer werden ihr zu Kulissen, in die die 19jährige das projiziert, was für sie den Zustand der Welt im allgemeinen und die Lage in Deutschland im besonderen charakterisiert. Die symbolische Überfrachtung vieler Geschichten weist auf ein stark ausgeprägtes Bedürfnis hin, mit Sinnstiftung die Leerstelle zu füllen, die die enorme Zerstörung und der gesellschaftliche Werteverfall hinterließen.
»Man hatte sich viel zu erzählen in dieser Situation der persönlichen Trennung und des politischen und sozialen Umbruchs«, schreibt Klaus Scherpe und begründet damit die Fülle von »Alltagsgeschichten und Erfahrungsberichten, von Realitätsnotaten, Reiseerlebnissen und -reflexionen«, die die Spalten der Zeitungen und Zeitschriften in den ersten Nachkriegsjahren füllten (Scherpe 1982, 38). Nicht anders als viele Reportagen der Nachkriegszeit dienten die Geschichten im Tagebuch über den Alltag im besetzten Berlin dazu, die als »bruchstückhaft, wenn nicht gar >gesellschaftslos< empfundene Lebenswelt (...) zu rekonstruieren, um mehr Orientierung und Zusammenhang zu gewinnen« und der Desintegration des sozialen Erfahrungs- und Erlebnismaterials die Absicht der weltanschaulichen und moralischen Integration entgegenzusetzen (ebd. 39).
»Wir haben so ehrlich gelitten, und nun dies.« In diesem Schlüsselsatz verdichtet sich die schwer nachvollziehbare Selbstbezogenheit, auf die man auch in den übrigen Aufzeichnungen der Nachkriegszeit immer wieder stößt. Für Sabine K. zählt nicht anders als bei Marie von N. oder Lieselotte G. primär das Leid der eigenen Nation. Aus heutiger Sicht verwundert die Einseitigkeit solcher Klagen, bei der die Verfasserinnen - trotz des Wissens um die deutschen Verbrechen - sich stets als »Opfer« und die eigentlich Geschädigten präsentieren.